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Produktdetails
  • Verlag: Free Press
  • ISBN-13: 9780684842547
  • Artikelnr.: 24163130
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2000

Eigentlich hat Amerika alles richtig gemacht
Eine nicht nur zu Kritik anregende Neuinterpretation des Vietnamkriegs

Michael Lind: Vietnam. The Necessary War. A Reinterpretation of America's Most Disastrous Military Conflict. Free Press, New York 1999. 320 Seiten, 25,- Dollar.

Der Vietnamkrieg bewegt auch ein Vierteljahrhundert nach seinem Ende immer noch die Gemüter der Amerikaner. Selbst nun, da der Kalte Krieg Geschichte ist, wirkt "Amerikas längster Krieg" (George Herring) weiterhin wie eine offene Wunde. Entsprechend zahlreich sind die amerikanischen Veröffentlichungen, die sich mit den traumatischen Ereignissen dieses Krieges beschäftigen, was wiederum das merkwürdige Phänomen zur Folge hat, dass die meisten Interpretationen des Vietnamkriegs aus dem Land stammen, das den Krieg verloren hat.

Jetzt hat der Journalist Michael Lind einen neuen Versuch unternommen, diesen Konflikt zu verstehen. Mit einem wahren Feuerwerk unorthodoxer Thesen konfrontiert er seine Leser. Die Grenze der amerikanischen political correctness wird mehrfach überschritten, und man merkt diesem etwas lang geratenen Essay an, dass er mit Herzblut und Streitlust geschrieben worden ist. Für Leser, die die graue Unbestimmtheit mancher postmoderner Diskurse bevorzugen, ist das Schwarz-Weiß seiner Ausführungen wahrscheinlich eine Zumutung. Für alle anderen bietet Lind reichhaltige Anregungen.

Lind stellt fest, der Vietnamkrieg und seine Konsequenzen seien in erster Linie von drei unterschiedlichen Richtungen analysiert worden: Von der radikalen Linken, von den liberalen Gegnern des Kalten Krieges und von konservativer Seite. Die Kernthese Linds beruht auf der Überlegung, dass es für die Vereinigten Staaten notwendig gewesen sei, in Indochina einen bewaffneten Krieg zu führen, um ihre Glaubwürdigkeit als Supermacht zu beweisen oder zu erhalten. Zugleich war der Rückzug nach einer gewissen Zeit ebenfalls erforderlich, um den inneramerikanischen Konsens wieder herzustellen und die Handlungsspielräume an anderen Fronten des Kalten Krieges nicht zu verlieren. Die Konsequenz eines Krieges, dessen Ende nicht absehbar war, so stellt Lind fest, sei der Vertrauensverlust der amerikanischen Öffentlichkeit in die Außenpolitik des eigenen Landes gewesen. Dies habe zum "Verlust" Indochinas geführt, die Renaissance des amerikanischen Isolationismus gefördert und in den achtziger Jahren eine neue Welle sowjetischer Expansion mit sich gebracht.

Lind weist überzeugend zugleich die "Dolchstoßlegende" zurück, die im Arsenal der amerikanischen Konservativen stets untergründig eine Rolle gespielt hat. Er widerlegt die Ansicht, man hätte den Konflikt militärisch rasch beenden können. Eine Invasion Nordvietnams beispielsweise hätte bestenfalls kontraproduktiv und schlimmstenfalls desaströs geendet. Weil schon die massive Bombardierung seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre sich als weitgehend uneffektiv erwies, hätte auch eine Intensivierung der Luftangriffe kaum eine Änderung gebracht.

Ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten übt Lind aufgrund neuer Aktenfunde aus Archiven der ehemaligen Staaten des sowjetischen Machtbereichs scharfe Kritik an Stalin, Mao, Ho Chi Minh und deren Sympathisanten im Westen. Diese teilweise recht harten Attacken sind umso berechtigter, als man heute aufgrund der Aktenlage weiß, dass es diesen Diktatoren tatsächlich nicht um eine friedliche Lösung des Konflikts ging. Dass sich viele linke und liberale Gegner des Vietnamkriegs im Westen gegen die Erkenntnis einer Mischung von aggressiv-kommunistischen und nationalen Zielen Nordvietnams von vorne herein sträubten und in einer aus heutiger Sicht geradezu merkwürdig anmutenden Naivität einem "Verblendungszusammenhang" zum Opfer fielen, ist weiterer Untersuchungen wert. Lind findet viele Beispiele für diese Fehlinterpretationen. Es ist erfrischend zu lesen, wie sich viele der Mythen, die sich um die scheinbare Humanität Ho Chi Minhs ranken, in Luft auflösen, wenn man die nordvietnamesischen Realitäten betrachtet. Und ebenso erhellend sind die mannigfachen Hinweise auf die verzerrenden Darstellungen vieler Journalisten und Akademiker, die den Vietnamkrieg mit Gesten moralischer Entrüstung verdammten und dabei gerne übersahen, welche Triebkräfte hinter der "Vietnamesischen Befreiungsarmee" und den nordvietnamesischen Truppen standen.

Die Frage, wann die Vereinigten Staaten noch eine Möglichkeit zur Wende in Vietnam gehabt hätten, ist natürlich rein akademischer Natur. Aber Lind macht es sich zu einfach, wenn er das südvietnamesische Regime Diem in den Jahren nach 1954 vorbehaltlos verteidigt und dessen Ignorierung der Ergebnisse der Genfer Indochina-Konferenz des Jahres 1954, die freie Wahlen in Gesamtvietnam vorsah, mit legalistischen Argumenten rechtfertigt.

Der Vietnamkrieg war deshalb auch mehr als ein typischer Stellvertreterkrieg der Supermächte, wie Lind fortwährend behauptet. So richtig es ist, die Auseinandersetzung damit zu erklären, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion es für sinnvoller hielten, ihre Konfrontation an der Peripherie des Weltgeschehens als im Zentrum Europas auszutragen, wird damit doch nur eine Facette des Vietnamkriegs erfasst. Der Krieg in Vietnam war gerade wegen der ideologischen Aufladung auch ein Kampf um die Herzen der Vietnamesen. Die Vereinigten Staaten hatten diesen Kampf nicht nur als imperiale Großmacht begonnen, sondern auch in dem vielleicht etwas naiven Glauben, die Lebensbedingungen der Menschen, deren "Treuhänderschaft" sie übernommen hatten, zu verbessern. Dass sie in Vietnam mit diesem Programm scheiterten, hatte viel mit ihrem Unverständnis für andere Traditionen und Kulturen zu tun. Wenn Lind in seiner Analyse Befürworter und Gegner des Vietnamkriegs gegeneinander ausspielt, mag dies intellektuell anregend sein. Er unterliegt jedoch vielfach den gleichen Fehlern, die den politischen Strategen des Vietnamkriegs in Washington unterliefen: Nämlich nicht zu erkennen, dass die zum Teil erbarmungslosen Kämpfe im Dschungel und die unglaubliche Hartnäckigkeit der nordvietnamesischen Truppen nicht allein durch gelehrte Analysen über die Hintergründe des Ost-West-Konflikts zu erklären sind.

Das Fazit Linds lautet, dass die Amerikaner in Vietnam eigentlich wieder einmal alles richtig gemacht haben: Die Unterstützung des Regimes Diem sei ebenso sinnvoll gewesen wie das interessierte Abseitsstehen bei seinem gewaltsamen Sturz; die militärische Intervention Johnsons in Vietnam wird gleichfalls als eine richtige Entscheidung deklariert. Nixons Strategie der "Vietnamisierung" und die Politik seiner Militärs mag mit Fehlern behaftet gewesen sein, der von ihm in die Wege geleitete Rückzug sei - folgt man der Argumentation von Lind - gleichwohl vernünftig und notwendig zugleich gewesen. Und vor allen Dingen, so Lind, habe Amerika die ganze Zeit die Moral auf seiner Seite gehabt.

In vielfacher Hinsicht ist das Buch ein Produkt des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in dem Amerika die unbestrittene Führungsmacht der Welt ist. Linds Werk mag daher für eine bestimmte Tendenz in den Vereinigten Staaten stehen, vor dem Hintergrund dieser Hegemonialstellung auch den Vietnamkrieg historiographisch zu revidieren. Dieser Versuch ist intellektuell durchaus anregend. Möchte man jedoch die sozialen, kulturellen und politischen Hintergründe dieser komplexen Auseinandersetzung verstehen, wird man für die amerikanische Binnenperspektive auch weiterhin auf die vorzüglichen Darstellungen beispielsweise von George Herring oder Robert Schulzinger zurückgreifen oder die seit kurzem vorliegende konzise Abhandlung des deutschen Historikers Marc Frey zu Rate ziehen.

JOACHIM SCHOLTYSECK

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