Ein schockierendes Verbrechen - und alle werden es sehen
Die 16-jährige Lena Palmer verschwindet spurlos. Drei Tage später taucht sie in einem verstörend brutalen Video wieder auf, welches in atemberaubendem Tempo viral geht.
BKA-Kommissarin Yasira Saad soll Lena finden und die Täter identifizieren. Ihr bleibt wenig Zeit, denn schon gibt es erste gewalttätige Demonstrationen in deutschen Städten. Eine rechtsradikale Gruppierung namens »Aktiver Heimatschutz« gewinnt rasant an Zulauf. Kann Yasira die Täter verhaften, bevor der Lynchmob zuschlägt und der Rechtsstaat zu wanken beginnt?
Die 16-jährige Lena Palmer verschwindet spurlos. Drei Tage später taucht sie in einem verstörend brutalen Video wieder auf, welches in atemberaubendem Tempo viral geht.
BKA-Kommissarin Yasira Saad soll Lena finden und die Täter identifizieren. Ihr bleibt wenig Zeit, denn schon gibt es erste gewalttätige Demonstrationen in deutschen Städten. Eine rechtsradikale Gruppierung namens »Aktiver Heimatschutz« gewinnt rasant an Zulauf. Kann Yasira die Täter verhaften, bevor der Lynchmob zuschlägt und der Rechtsstaat zu wanken beginnt?
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ein "valides Gedankenexperiment" ist Marc-Uwe Klings Thriller, in dem ein mutmaßlich KI-generiertes Video Deutschland an den Rand eines Bürgerkriegs befördert, staunt der Rezensent Jakob Biazza. Das Video zeigt die Vergewaltigung einer 16-jährigen durch mutmaßlich migrantische Personen, woraufhin eine Gewaltspirale losgetreten wird: Eine Bürgerwehr wird gegründet, die Jagd auf Menschen mit Migrationshintergrund macht, lesen wir. Die Ermittlerin Yasira Saad wird aus identitätspolitischen Gründen mit dem Fall betraut, aber alle Spuren laufen ins Leere. Letztlich verhärtet sich bei ihr der Verdacht, dass es sich um ein KI-generiertes Video handeln könnte, resümiert Biazza. Diese Idee sei "verdammt gut", findet der Kritiker, werde nur von sehr stereotypen Charakteren etwas abgeschwächt. Doch Kling beweise die Relevanz des Themas und seine Botschaft am Ende treffe den Leser mit "mit großer Wucht": ob KI oder nicht, der Hass sei am Ende immer echt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2024Bodenlose Bösartigkeit
Thriller kann er auch: Marc-Uwe Klings "Views"
Yasira Saad ist dreiundvierzig, Hauptkommissarin im Bundeskriminalamt, Abteilung schwere und organisierte Kriminalität. Sie ist geschieden, alleinziehende Mutter einer sechzehnjährigen Tochter, der zuliebe sie nur noch Veggieburger bestellt. Sie ist ebenso overworked wie underfucked, weshalb sie via Datingportal immer mal wieder Männer aufzugabeln versucht. Meist mit mäßigem Erfolg. Der Roman setzt ein, als Yasira gerade im Hard Rock Café am Ku'damm einen hinlänglich attraktiven Typen namens Stefan trifft, Journalist bei der Onlineausgabe einer Berliner Zeitung und wenigstens "kein Totalausfall wie die letzten beiden".
Da Stefan nicht die Griffel von seinem Handy lassen kann, landet das Anbahnungsgespräch in einer Sackgasse: Er klickt auf ein Video, das ein monströses Verbrechen dokumentiert. Es zeigt, wie die unlängst als vermisst gemeldete sechzehnjährige Lena aus Sachsen-Anhalt von drei Schwarzafrikanern vergewaltigt wird. Ein Riesenerfolg im Netz und ein Vorgeschmack darauf, was alsbald politisch ins Rutschen kommen wird. Tatsächlich fordert umgehend ein Paramilitär namens "Bär", die Afrikaner zu töten. Er ist Mitglied der Bewegung Aktiver Heimatschutz, posiert mit einer Maschinenpistole und wünscht allseits "gute Jagd".
Im BKA wird Yasira als Ermittlungsleiterin erkoren - als "Nicht-Deutsche" scheint sie dem Innenministerium die Idealbesetzung zu sein. Dass Yasiras aus dem Libanon stammenden Eltern einer Sekte angehören, die sich Kommunisten nennt, scheint nicht zu stören. Fackelmärsche, ein Sturm auf den Reichstag, die Stimmung eskaliert erst im Netz, dann auf den Straßen. Aus allen Löchern kriechen Ausländerfeinde. Derweil ermittelt Yasira in Lenas Heimat nahe Halberstadt, aber viel mehr als einen elf Jahre älteren Freund, der neben Cannabis auch mit dem Opiat Fentanyl experimentiert, kommt dabei nicht ans Licht. Dann taucht ein Video auf, in dem ein Rechtsradikaler einen der drei Vergewaltiger hinrichtet.
Marc-Uwe Kling, mit den "Känguru-Chroniken" berühmt geworden, ist seit Längerem auch als Romanautor unterwegs. Nach den Dystopien "Qualityland" (2017) und "Qualityland 2.0" (2020) hat er zuletzt mit seinen Töchtern einen Ausflug ins Fantasy-Genre unternommen ("Der Spurenfinder"). Nun also sein erster Thriller. "Views" steht angesichts der Popularität des Autors ein Bestsellerschicksal bevor.
Eng mit Yasira arbeitet Michael Becker, Mittfünfziger mit Junkfood-Gen, der noch in der DDR aufwuchs und "latent rassistisch" ist, "aber auf eine irgendwie nette Art". Was die Gnade des Wortspiels angeht, kommt Becker seinem Erfinder Kling am nächsten. Mit an Bord sind zwei Katjas, ein Timo und eine Jenny und über allem der cholerische Chef Stefan Gebhardt (noch ein Stefan!), der unter wachsenden Druck aus der Politik gerät und Angst hat, seinen Job zu verlieren.
Ein weiteres Video, in dem ein sich "Rotfuchs" nennender Neonazi einen angeblichen Mitvergewaltiger ermordet, offenbart den Abgrund, in den der Fall führt: Diesmal gibt es tatsächlich eine Leiche, nur dass es sich bei dieser um einen Asylbewerber handelt, der mit der Vergewaltigung nichts zu tun hatte. Staatsbegräbnis, Bundesverdienstkreuz ausnahmsweise postum - Kling lässt kein Ritual des Politikbetriebs aus, um die demokratischen Reaktionsmechanismen vorzuführen. Aber nicht um sie zu diffamieren, sondern um zu zeigen, dass der Rechtsstaat keine anderen hat, solange er Rechtsstaat bleiben will.
Immerhin hat Yasira noch eine instinktive Eingebung, die den Plot ins Zentrum der aktuellen Debatte um KI und die Zukunft der Menschheit führt: Was, wenn das Vergewaltigungsvideo nicht echt, sondern eine Fälschung wäre? Wer kann so etwas herstellen, ohne auf den Bildern verräterische Spuren, sogenannte Glitches, zu hinterlassen?
Man merkt dem konsequent linear konstruierten Roman an, dass sein Autor mit den Konventionen des Genres bestens vertraut ist, diese aber als das begreift, was sie sind - fiktionale Spielformen. Wenn Kling etwas beherrscht, sind es Dialoge, man hat sogar das Gefühl, er musste hie und da sein Erzählrennpferd bremsen, damit es ihm nicht mit zu vielen Pointen durchgeht. Der mit Cliffhangern gespickte Text dreht gegen Ende immer hochtouriger auf ein Finale zu, in dem Yasira ihre Superwillenskraft - doch nein: Lesen Sie selbst! HANNES HINTERMEIER
Marc-Uwe Kling: "Views". Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2024. 272 S., geb., 19,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Thriller kann er auch: Marc-Uwe Klings "Views"
Yasira Saad ist dreiundvierzig, Hauptkommissarin im Bundeskriminalamt, Abteilung schwere und organisierte Kriminalität. Sie ist geschieden, alleinziehende Mutter einer sechzehnjährigen Tochter, der zuliebe sie nur noch Veggieburger bestellt. Sie ist ebenso overworked wie underfucked, weshalb sie via Datingportal immer mal wieder Männer aufzugabeln versucht. Meist mit mäßigem Erfolg. Der Roman setzt ein, als Yasira gerade im Hard Rock Café am Ku'damm einen hinlänglich attraktiven Typen namens Stefan trifft, Journalist bei der Onlineausgabe einer Berliner Zeitung und wenigstens "kein Totalausfall wie die letzten beiden".
Da Stefan nicht die Griffel von seinem Handy lassen kann, landet das Anbahnungsgespräch in einer Sackgasse: Er klickt auf ein Video, das ein monströses Verbrechen dokumentiert. Es zeigt, wie die unlängst als vermisst gemeldete sechzehnjährige Lena aus Sachsen-Anhalt von drei Schwarzafrikanern vergewaltigt wird. Ein Riesenerfolg im Netz und ein Vorgeschmack darauf, was alsbald politisch ins Rutschen kommen wird. Tatsächlich fordert umgehend ein Paramilitär namens "Bär", die Afrikaner zu töten. Er ist Mitglied der Bewegung Aktiver Heimatschutz, posiert mit einer Maschinenpistole und wünscht allseits "gute Jagd".
Im BKA wird Yasira als Ermittlungsleiterin erkoren - als "Nicht-Deutsche" scheint sie dem Innenministerium die Idealbesetzung zu sein. Dass Yasiras aus dem Libanon stammenden Eltern einer Sekte angehören, die sich Kommunisten nennt, scheint nicht zu stören. Fackelmärsche, ein Sturm auf den Reichstag, die Stimmung eskaliert erst im Netz, dann auf den Straßen. Aus allen Löchern kriechen Ausländerfeinde. Derweil ermittelt Yasira in Lenas Heimat nahe Halberstadt, aber viel mehr als einen elf Jahre älteren Freund, der neben Cannabis auch mit dem Opiat Fentanyl experimentiert, kommt dabei nicht ans Licht. Dann taucht ein Video auf, in dem ein Rechtsradikaler einen der drei Vergewaltiger hinrichtet.
Marc-Uwe Kling, mit den "Känguru-Chroniken" berühmt geworden, ist seit Längerem auch als Romanautor unterwegs. Nach den Dystopien "Qualityland" (2017) und "Qualityland 2.0" (2020) hat er zuletzt mit seinen Töchtern einen Ausflug ins Fantasy-Genre unternommen ("Der Spurenfinder"). Nun also sein erster Thriller. "Views" steht angesichts der Popularität des Autors ein Bestsellerschicksal bevor.
Eng mit Yasira arbeitet Michael Becker, Mittfünfziger mit Junkfood-Gen, der noch in der DDR aufwuchs und "latent rassistisch" ist, "aber auf eine irgendwie nette Art". Was die Gnade des Wortspiels angeht, kommt Becker seinem Erfinder Kling am nächsten. Mit an Bord sind zwei Katjas, ein Timo und eine Jenny und über allem der cholerische Chef Stefan Gebhardt (noch ein Stefan!), der unter wachsenden Druck aus der Politik gerät und Angst hat, seinen Job zu verlieren.
Ein weiteres Video, in dem ein sich "Rotfuchs" nennender Neonazi einen angeblichen Mitvergewaltiger ermordet, offenbart den Abgrund, in den der Fall führt: Diesmal gibt es tatsächlich eine Leiche, nur dass es sich bei dieser um einen Asylbewerber handelt, der mit der Vergewaltigung nichts zu tun hatte. Staatsbegräbnis, Bundesverdienstkreuz ausnahmsweise postum - Kling lässt kein Ritual des Politikbetriebs aus, um die demokratischen Reaktionsmechanismen vorzuführen. Aber nicht um sie zu diffamieren, sondern um zu zeigen, dass der Rechtsstaat keine anderen hat, solange er Rechtsstaat bleiben will.
Immerhin hat Yasira noch eine instinktive Eingebung, die den Plot ins Zentrum der aktuellen Debatte um KI und die Zukunft der Menschheit führt: Was, wenn das Vergewaltigungsvideo nicht echt, sondern eine Fälschung wäre? Wer kann so etwas herstellen, ohne auf den Bildern verräterische Spuren, sogenannte Glitches, zu hinterlassen?
Man merkt dem konsequent linear konstruierten Roman an, dass sein Autor mit den Konventionen des Genres bestens vertraut ist, diese aber als das begreift, was sie sind - fiktionale Spielformen. Wenn Kling etwas beherrscht, sind es Dialoge, man hat sogar das Gefühl, er musste hie und da sein Erzählrennpferd bremsen, damit es ihm nicht mit zu vielen Pointen durchgeht. Der mit Cliffhangern gespickte Text dreht gegen Ende immer hochtouriger auf ein Finale zu, in dem Yasira ihre Superwillenskraft - doch nein: Lesen Sie selbst! HANNES HINTERMEIER
Marc-Uwe Kling: "Views". Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2024. 272 S., geb., 19,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
»Kling zeigt sich in «Views» von seiner ernsteren Seite. Gut so! Denn das Thema ist hochaktuell und drängt. (...) Man möchte es politischen Entscheidungsträgern aufs Kopfkissen legen.« Deborah von Wartburg Kulturtipp Zürich 20240718
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.08.2024Aber der Hass
ist echt
Wie schnell könnte in Deutschland Chaos
ausbrechen? Und welcher Art Fake News
bedürfte es dafür? Ein Thriller von Marc-Uwe Kling.
VON JAKOB BIAZZA
Valides Gedankenexperiment, auch und gerade für die Welt außerhalb der Thriller und Nahdystopien. Für Deutschland zum Beispiel, wo – die Forschung ist sich da über die Details noch nicht ganz einig – zehn bis 25 Prozent der Menschen ihren Rassismus oder vielleicht auch nur ihre Transformationsüberforderung ausdrücken wollen, indem sie Faschisten wählen würden. Indem sie Elitenfeindlichkeit ins Social Web speien oder ganz allgemein einen irgendwie indifferenten Hass auf „die“ Institutionen. Was beides oft ja einfach bedeutet, dass man böse Absichten zu erkennen glaubt, wo Wissenschaftler etwas erforscht haben. Oder Politiker Zusammenhänge erklären wollen.
Hier also das Gedankenexperiment: Was würde mit so einer Gesellschaft passieren, wenn ein Video auftauchte, in dem ein junges, seit ein paar Tagen vermisstes Mädchen vergewaltigt wird? Von, weitergesponnen, einer Gruppe afrikanisch aussehender Männer – stark gefärbter französischer Akzent, Mali vielleicht, ganz sicher ist das aber nicht. Im Hintergrund stehen Bierflaschen herum und die Grobschlächtigkeit, die schiere Brutalität, der Frauenhass und die völlige Empathielosigkeit der Täter brüllten nun aus den Bildschirmen der Republik heraus.
Was würde die AfD da sagen? Und was die Union? Merz. Söder! Wie viel Opportunismus bräche aus denen heraus? Ist schließlich „Schicksalswahljahr“. Und dann weiter: Hubert Aiwanger? Christian Lindner? Und, etwa fünf Tage später, bestimmt auch irgendwie Olaf Scholz. Wie würde die Bild titeln? Und wie deren geistige Giftkinder Focus Online und Nius? Säße Aladin El-Mafaalani bei Markus Lanz, um über das „Integrationsparadox“ zu sprechen? Oder riefe den, so reflexhaft wie eilig, nur die SZ an, um ihn noch vor der Zeit zu erreichen? Und falls ja, würde irgendwer soziologische Theorien hören wollen, oder … nun, siehe oben. Wären wir dann, nur noch kurz weitergesponnen, womöglich schon an dem Punkt, an dem die Menschen ernsthaft über Bürgerwehren nachdenken? Zum „Schutz“. Oder eben direkt, um Selbstjustiz zu üben. Und müsste man dann demnächst nicht auch schon über das Thema Bürgerkrieg …?
So, und was wäre, wir nehmen hier spürbar die Abfahrt Richtung Fiktion, wenn der Verdacht aufkäme, das Video könnte eine Fälschung sein? Erschaffen von einer künstlichen Intelligenz, einer generativen KI also. Technisch ginge das inzwischen. Das Material, das Menschen auf Instagram und vor allem in Tiktok-Videos freiwillig zum Datenabgriff einstellen, genügt, um gefälschte Abbilder von ihnen zu erschaffen. Man frage dafür bei Pornhub nach.
Jedenfalls stünden die Zündler natürlich blöd da, wenn sich das bewahrheitete. Andererseits: Wer würde diese Erklärung noch hören? Die Welt brennt ja längst grell.
So oder so ähnlich geschieht das in „Views“, dem Thriller von Marc-Uwe Kling, sonst bekannt unter anderem für seine „Känguru-Chroniken“ oder das „Neinhorn“. Lena Palmer heißt die 16-jährige, die in einem grausamen Vergewaltigungsvideo auftaucht, nachdem sie seit ein paar Tage verschwunden war – spurlos, wie man wohl anzufügen hat. Auch, um anzudeuten, warum BKA-Kommissarin Yasira Saad, auch des Namens wegen mit den Ermittlungen betraut (Öffentlichkeitsarbeit, die Menschen mitnehmen, den Ermittlungen ein glaubwürdiges Gesicht geben: ganz wichtig), sich bei der Suche schwertut. Wirklich absolut nichts findet, selbst nach Tagen der Recherche und trotz Großaufgebots an Kollegen mit eigentlich brauchbarer Expertise.
Leider hat eine mit der Geschwindigkeit der Überzeugten gegründete rechtsradikale Gruppierung namens „Aktiver Heimatschutz“ schnell mehr Erfolg. Zwei der „Vergewaltiger“ sind also bald tot. Bei mindestens einem liegt, wie sich herausstellen wird, versehentlich oder eben nicht, eine Verwechslung vor. Das Feuer breitet sich also flink in alle Richtungen aus. Saads Tochter wird in Signal-Gruppen bedroht, ihr Tinder-Date, ein Journalist, hintergeht sie, sogenannte Bürger stürmen den Reichstag, Granaten explodieren, Menschen sterben, und auch das kennt man ja aus der echten Welt und eben nicht nur in Deutschland. In den USA haben sie da vorgelegt. Die Briten ziehen gerade nach.
Ein paar Thriller-Stereotype gibt es dazu: ein cholerischer Polizeichef etwa, ein opportunistischer Staatsanwalt, ein zumindest körperlich recht behäbiger Ossi-Kollege. Die Hauptermittlerin ist sanft lebensüberfordert, geschieden, von Schlafstörungen geplagt und mit einer Neigung zu Trotz und Anarchie – aber nicht nur dafür vom Alkoholismus immerhin weit entfernt. Man könnte dem Autor ein paar dieser arg abgegriffenen Ideen übel nehmen. Vor allem, weil die ursprüngliche so verdammt gut ist. Und so vehement relevant. Wem die Frage nach der möglichen Macht von KI und den davor und danach wirkenden Algorithmen bislang abstrakt und fern erschien, hat bei „Views“ eine Chance, das Gift zu spüren, das der Welt, der echten Welt, bereits im System umhertreibt.
Das Ende des Romans ist, nicht nur was das betrifft, eine mit großer Wucht einschlagende Erstaunlichkeit. Eine doch recht faszinierende Volte in einem Gedankenspiel, in dem viel weniger real ist, als man zunächst denkt. Und einiges eben doch. In den Worten Klings: „Echt ist die Empörung. Echt ist die Wut. Echt ist der Hass.“ Und das ist, auch und gerade für die Welt außerhalb der Thriller und Nahdystopien, leider sehr wahr.
Im Roman stürmen sogenannte Bürger den Reichstag – auch das kennt man ja aus der echten Welt. Hier: die Besetzung der Treppe des Reichstagsgebäudes durch Demonstranten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen.
Foto: A. Abboud / dpa
Marc-Uwe Kling: Views. Thriller. Ullstein,
München 2024.
272 Seiten, 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ist echt
Wie schnell könnte in Deutschland Chaos
ausbrechen? Und welcher Art Fake News
bedürfte es dafür? Ein Thriller von Marc-Uwe Kling.
VON JAKOB BIAZZA
Valides Gedankenexperiment, auch und gerade für die Welt außerhalb der Thriller und Nahdystopien. Für Deutschland zum Beispiel, wo – die Forschung ist sich da über die Details noch nicht ganz einig – zehn bis 25 Prozent der Menschen ihren Rassismus oder vielleicht auch nur ihre Transformationsüberforderung ausdrücken wollen, indem sie Faschisten wählen würden. Indem sie Elitenfeindlichkeit ins Social Web speien oder ganz allgemein einen irgendwie indifferenten Hass auf „die“ Institutionen. Was beides oft ja einfach bedeutet, dass man böse Absichten zu erkennen glaubt, wo Wissenschaftler etwas erforscht haben. Oder Politiker Zusammenhänge erklären wollen.
Hier also das Gedankenexperiment: Was würde mit so einer Gesellschaft passieren, wenn ein Video auftauchte, in dem ein junges, seit ein paar Tagen vermisstes Mädchen vergewaltigt wird? Von, weitergesponnen, einer Gruppe afrikanisch aussehender Männer – stark gefärbter französischer Akzent, Mali vielleicht, ganz sicher ist das aber nicht. Im Hintergrund stehen Bierflaschen herum und die Grobschlächtigkeit, die schiere Brutalität, der Frauenhass und die völlige Empathielosigkeit der Täter brüllten nun aus den Bildschirmen der Republik heraus.
Was würde die AfD da sagen? Und was die Union? Merz. Söder! Wie viel Opportunismus bräche aus denen heraus? Ist schließlich „Schicksalswahljahr“. Und dann weiter: Hubert Aiwanger? Christian Lindner? Und, etwa fünf Tage später, bestimmt auch irgendwie Olaf Scholz. Wie würde die Bild titeln? Und wie deren geistige Giftkinder Focus Online und Nius? Säße Aladin El-Mafaalani bei Markus Lanz, um über das „Integrationsparadox“ zu sprechen? Oder riefe den, so reflexhaft wie eilig, nur die SZ an, um ihn noch vor der Zeit zu erreichen? Und falls ja, würde irgendwer soziologische Theorien hören wollen, oder … nun, siehe oben. Wären wir dann, nur noch kurz weitergesponnen, womöglich schon an dem Punkt, an dem die Menschen ernsthaft über Bürgerwehren nachdenken? Zum „Schutz“. Oder eben direkt, um Selbstjustiz zu üben. Und müsste man dann demnächst nicht auch schon über das Thema Bürgerkrieg …?
So, und was wäre, wir nehmen hier spürbar die Abfahrt Richtung Fiktion, wenn der Verdacht aufkäme, das Video könnte eine Fälschung sein? Erschaffen von einer künstlichen Intelligenz, einer generativen KI also. Technisch ginge das inzwischen. Das Material, das Menschen auf Instagram und vor allem in Tiktok-Videos freiwillig zum Datenabgriff einstellen, genügt, um gefälschte Abbilder von ihnen zu erschaffen. Man frage dafür bei Pornhub nach.
Jedenfalls stünden die Zündler natürlich blöd da, wenn sich das bewahrheitete. Andererseits: Wer würde diese Erklärung noch hören? Die Welt brennt ja längst grell.
So oder so ähnlich geschieht das in „Views“, dem Thriller von Marc-Uwe Kling, sonst bekannt unter anderem für seine „Känguru-Chroniken“ oder das „Neinhorn“. Lena Palmer heißt die 16-jährige, die in einem grausamen Vergewaltigungsvideo auftaucht, nachdem sie seit ein paar Tage verschwunden war – spurlos, wie man wohl anzufügen hat. Auch, um anzudeuten, warum BKA-Kommissarin Yasira Saad, auch des Namens wegen mit den Ermittlungen betraut (Öffentlichkeitsarbeit, die Menschen mitnehmen, den Ermittlungen ein glaubwürdiges Gesicht geben: ganz wichtig), sich bei der Suche schwertut. Wirklich absolut nichts findet, selbst nach Tagen der Recherche und trotz Großaufgebots an Kollegen mit eigentlich brauchbarer Expertise.
Leider hat eine mit der Geschwindigkeit der Überzeugten gegründete rechtsradikale Gruppierung namens „Aktiver Heimatschutz“ schnell mehr Erfolg. Zwei der „Vergewaltiger“ sind also bald tot. Bei mindestens einem liegt, wie sich herausstellen wird, versehentlich oder eben nicht, eine Verwechslung vor. Das Feuer breitet sich also flink in alle Richtungen aus. Saads Tochter wird in Signal-Gruppen bedroht, ihr Tinder-Date, ein Journalist, hintergeht sie, sogenannte Bürger stürmen den Reichstag, Granaten explodieren, Menschen sterben, und auch das kennt man ja aus der echten Welt und eben nicht nur in Deutschland. In den USA haben sie da vorgelegt. Die Briten ziehen gerade nach.
Ein paar Thriller-Stereotype gibt es dazu: ein cholerischer Polizeichef etwa, ein opportunistischer Staatsanwalt, ein zumindest körperlich recht behäbiger Ossi-Kollege. Die Hauptermittlerin ist sanft lebensüberfordert, geschieden, von Schlafstörungen geplagt und mit einer Neigung zu Trotz und Anarchie – aber nicht nur dafür vom Alkoholismus immerhin weit entfernt. Man könnte dem Autor ein paar dieser arg abgegriffenen Ideen übel nehmen. Vor allem, weil die ursprüngliche so verdammt gut ist. Und so vehement relevant. Wem die Frage nach der möglichen Macht von KI und den davor und danach wirkenden Algorithmen bislang abstrakt und fern erschien, hat bei „Views“ eine Chance, das Gift zu spüren, das der Welt, der echten Welt, bereits im System umhertreibt.
Das Ende des Romans ist, nicht nur was das betrifft, eine mit großer Wucht einschlagende Erstaunlichkeit. Eine doch recht faszinierende Volte in einem Gedankenspiel, in dem viel weniger real ist, als man zunächst denkt. Und einiges eben doch. In den Worten Klings: „Echt ist die Empörung. Echt ist die Wut. Echt ist der Hass.“ Und das ist, auch und gerade für die Welt außerhalb der Thriller und Nahdystopien, leider sehr wahr.
Im Roman stürmen sogenannte Bürger den Reichstag – auch das kennt man ja aus der echten Welt. Hier: die Besetzung der Treppe des Reichstagsgebäudes durch Demonstranten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen.
Foto: A. Abboud / dpa
Marc-Uwe Kling: Views. Thriller. Ullstein,
München 2024.
272 Seiten, 19,99 Euro.
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