»Niemand kann behaupten, daß Vilnius ihm allein gehört. Die in dieser Stadt schier phantastische Verschmelzung von Sprachen, nationalen Traditionen und Religionen, die politische Grenzen ignoriert, fiel Neuankömmlingen immer ins Auge, während ihre Bewohner meinten, daß es gar nicht anders sein könne.« Geschichte, Geographie, persönliche Erinnerung und politische Reflexion souverän miteinander verbindend, zeichnet der litauische Lyriker und Essayist ein Bild seiner Stadt, die wie kaum eine zweite für das Gelingen und Scheitern des »europäischen Traums« stehen kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2007Jerusalem des Ostens
Tomas Venclova bereist Vilnius und sieht viel, aber nicht alles
Vilnius macht sich fein. 2009 wird die litauische Hauptstadt gemeinsam mit Linz Kulturhauptstadt Europas sein und zugleich das tausendjährige Jubiläum der ersten Erwähnung des Landes Lituae in den Quedlinburger Annalen feiern. Das wichtigste Projekt zum großen Jubeljahr ist die Fertigstellung des Palasts der Großfürsten Litauens im Stadtzentrum. Dabei war der Bau anfangs umstritten; von dem historischen Palast, der im achtzehnten Jahrhundert komplett zerstört wurde, waren nur ein paar Sepia-Zeichnungen übriggeblieben. Aber nun geht das für Litauen hochsymbolische Unternehmen zügig seiner Eröffnung in zwei Jahren entgegen.
Schon jetzt erreicht uns allerdings die erste Welle von Vilnius-Büchern zum Kulturhauptstadtjahr. In seinem schmalen Bändchen "Vilnius. Eine Stadt in Europa" unternimmt der litauische Lyriker und frühere Yale-Professor Tomas Venclova einen wahren Parforceritt durch die siebenhundertjährige Vilniuser Geschichte. Venclova behandelt die wechselnden Machtverhältnisse und Grenzziehungen in der "Stadt am Rande Europas" und bezieht Topographie, Architektur, Religion, Universität, Freiheitsbewegungen und die Künste mit ein. Seine Erzählung beginnt in antiker Vorzeit und klingt sanft im Litauen von heute aus - nicht zu sanft allerdings: Der ehemalige sowjetische Dissident ist ein kritischer Beobachter des neuen Litauen, den Palastbau etwa lehnt er als "vage Imitation" ab.
Venclovas Buch enthält auch eine leise Mahnung an die Adresse seiner litauischen Landsleute. Denn "Träume von einer nationalen Homogenität", egal, von welcher Seite sie kommen, sieht der Autor skeptisch: "Vilnius gehört niemandem allein." Dazu muss man wissen, dass Vilnius seit dem Mittelalter immer multiethnisch war. Das Stadtleben wurde von Litauern ebenso wie von Polen, Russen, Ruthenen (aus denen sich später die Weißrussen entwickelten), aber auch von Juden und zwei kleinen Turkvölkern, den Tataren und Karaimen, geprägt. Diesen "Kontinent im Kleinen" möchte Venclova in die Gegenwart retten, sein Vielschichtiges und Vieldimensionales bewahren.
Nicht immer lenkten Litauer die Geschicke von Vilnius. Seit 1323, als die Stadt gegründet wurde, strebten viele danach, sie zu erobern: Zwar soll es im Mittelalter ein litauisches Großreich gegeben haben, das zeitweise von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und laut Venclova bis heute der wichtigste "nationale Mythos" der Litauer ist. Doch dann gehörte Litauen jahrhundertelang zu Polen. 1795 wurde es für 120 Jahre russisches Gouvernement. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts besetzten abwechselnd Deutsche, Russen und Polen das Land; zwischenzeitlich war Litauen auch unabhängig.
Dann geriet es zwischen die Machtblöcke, die Gewalt eskalierte: Als 1940 die Rote Armee einmarschierte, wurden Tausende von Litauern verschleppt. 1941, nach dem Überfall Deutschlands auf Litauen, ermordeten Deutsche und ihre litauischen Kollaborateure fünfundneunzig Prozent der 250 000 litauischen Juden. Das "Jerusalem des Ostens" ging von heute auf morgen unter. Venclova betont, dass sich die Litauer mit der Tatsache, nacheinander Opfer unter den Sowjets und Täter unter den Nationalsozialisten gewesen zu sein, noch immer schwertun. Schwierig ist es etwa, dass das Vilniuser KGB-Museum zu den sowjetischen Verbrechen an den Litauern bis heute offiziell den Namen "Genozid-Museum" trägt - was Venclova gar nicht erwähnt.
Seit 1991 ist Vilnius Hauptstadt eines unabhängigen Litauen. Aber noch immer liegt in der geteilten Erinnerung, die Venclova vorsichtig "konkurrierende Narrative" nennt, gehöriges Konfliktpotential. Für die Polen ist Litauen, wo ihr Nationalepos "Pan Tadeusz" (1834) spielt, untrennbar mit ihrer nationalen Befreiung verbunden und Vilnius, wo sein Schöpfer Adam Mickiewicz studierte, ein besonderes "Objekt der Nostalgien". Und in Weißrussland gibt es Strömungen, die das legendäre mittelalterliche Großreich der Litauer im Kern für ein ruthenisches halten und daraus territoriale Ansprüche ableiten. Venclova vergleicht die Geschichte von Vilnius mit einem Palimpsest, einer mehrfach überschriebenen mittelalterlichen Handschrift. Angesichts der vielen sich überschneidenden oder sich ausschließenden Versionen gerät es zur aufwendigen Spurensuche, die geschichtliche Wahrheit zu finden. Geschichte und Mythos durchdringen sich, je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht.
Bei allem Kenntnisreichtum hätte ein klarer thematischer Fokus gutgetan. Tomas Venclova konnte sich offenbar nicht recht entscheiden, ob er ein historisches Werk, einen Reiseführer oder einen Essay schreiben wollte. Sein Buch ist da am interessantesten, wo es sich mit den verschiedenen nationalen Mythen auseinandersetzt. Sein Verdienst besteht darin, dass er allen Völkern von Vilnius gleichermaßen ein Denkmal setzt.
JUDITH LEISTER
Tomas Venclova: "Vilnius". Eine Stadt in Europa. Aus dem Litauischen übersetzt von Claudia Sinnig. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 242 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tomas Venclova bereist Vilnius und sieht viel, aber nicht alles
Vilnius macht sich fein. 2009 wird die litauische Hauptstadt gemeinsam mit Linz Kulturhauptstadt Europas sein und zugleich das tausendjährige Jubiläum der ersten Erwähnung des Landes Lituae in den Quedlinburger Annalen feiern. Das wichtigste Projekt zum großen Jubeljahr ist die Fertigstellung des Palasts der Großfürsten Litauens im Stadtzentrum. Dabei war der Bau anfangs umstritten; von dem historischen Palast, der im achtzehnten Jahrhundert komplett zerstört wurde, waren nur ein paar Sepia-Zeichnungen übriggeblieben. Aber nun geht das für Litauen hochsymbolische Unternehmen zügig seiner Eröffnung in zwei Jahren entgegen.
Schon jetzt erreicht uns allerdings die erste Welle von Vilnius-Büchern zum Kulturhauptstadtjahr. In seinem schmalen Bändchen "Vilnius. Eine Stadt in Europa" unternimmt der litauische Lyriker und frühere Yale-Professor Tomas Venclova einen wahren Parforceritt durch die siebenhundertjährige Vilniuser Geschichte. Venclova behandelt die wechselnden Machtverhältnisse und Grenzziehungen in der "Stadt am Rande Europas" und bezieht Topographie, Architektur, Religion, Universität, Freiheitsbewegungen und die Künste mit ein. Seine Erzählung beginnt in antiker Vorzeit und klingt sanft im Litauen von heute aus - nicht zu sanft allerdings: Der ehemalige sowjetische Dissident ist ein kritischer Beobachter des neuen Litauen, den Palastbau etwa lehnt er als "vage Imitation" ab.
Venclovas Buch enthält auch eine leise Mahnung an die Adresse seiner litauischen Landsleute. Denn "Träume von einer nationalen Homogenität", egal, von welcher Seite sie kommen, sieht der Autor skeptisch: "Vilnius gehört niemandem allein." Dazu muss man wissen, dass Vilnius seit dem Mittelalter immer multiethnisch war. Das Stadtleben wurde von Litauern ebenso wie von Polen, Russen, Ruthenen (aus denen sich später die Weißrussen entwickelten), aber auch von Juden und zwei kleinen Turkvölkern, den Tataren und Karaimen, geprägt. Diesen "Kontinent im Kleinen" möchte Venclova in die Gegenwart retten, sein Vielschichtiges und Vieldimensionales bewahren.
Nicht immer lenkten Litauer die Geschicke von Vilnius. Seit 1323, als die Stadt gegründet wurde, strebten viele danach, sie zu erobern: Zwar soll es im Mittelalter ein litauisches Großreich gegeben haben, das zeitweise von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und laut Venclova bis heute der wichtigste "nationale Mythos" der Litauer ist. Doch dann gehörte Litauen jahrhundertelang zu Polen. 1795 wurde es für 120 Jahre russisches Gouvernement. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts besetzten abwechselnd Deutsche, Russen und Polen das Land; zwischenzeitlich war Litauen auch unabhängig.
Dann geriet es zwischen die Machtblöcke, die Gewalt eskalierte: Als 1940 die Rote Armee einmarschierte, wurden Tausende von Litauern verschleppt. 1941, nach dem Überfall Deutschlands auf Litauen, ermordeten Deutsche und ihre litauischen Kollaborateure fünfundneunzig Prozent der 250 000 litauischen Juden. Das "Jerusalem des Ostens" ging von heute auf morgen unter. Venclova betont, dass sich die Litauer mit der Tatsache, nacheinander Opfer unter den Sowjets und Täter unter den Nationalsozialisten gewesen zu sein, noch immer schwertun. Schwierig ist es etwa, dass das Vilniuser KGB-Museum zu den sowjetischen Verbrechen an den Litauern bis heute offiziell den Namen "Genozid-Museum" trägt - was Venclova gar nicht erwähnt.
Seit 1991 ist Vilnius Hauptstadt eines unabhängigen Litauen. Aber noch immer liegt in der geteilten Erinnerung, die Venclova vorsichtig "konkurrierende Narrative" nennt, gehöriges Konfliktpotential. Für die Polen ist Litauen, wo ihr Nationalepos "Pan Tadeusz" (1834) spielt, untrennbar mit ihrer nationalen Befreiung verbunden und Vilnius, wo sein Schöpfer Adam Mickiewicz studierte, ein besonderes "Objekt der Nostalgien". Und in Weißrussland gibt es Strömungen, die das legendäre mittelalterliche Großreich der Litauer im Kern für ein ruthenisches halten und daraus territoriale Ansprüche ableiten. Venclova vergleicht die Geschichte von Vilnius mit einem Palimpsest, einer mehrfach überschriebenen mittelalterlichen Handschrift. Angesichts der vielen sich überschneidenden oder sich ausschließenden Versionen gerät es zur aufwendigen Spurensuche, die geschichtliche Wahrheit zu finden. Geschichte und Mythos durchdringen sich, je weiter man in die Vergangenheit zurückgeht.
Bei allem Kenntnisreichtum hätte ein klarer thematischer Fokus gutgetan. Tomas Venclova konnte sich offenbar nicht recht entscheiden, ob er ein historisches Werk, einen Reiseführer oder einen Essay schreiben wollte. Sein Buch ist da am interessantesten, wo es sich mit den verschiedenen nationalen Mythen auseinandersetzt. Sein Verdienst besteht darin, dass er allen Völkern von Vilnius gleichermaßen ein Denkmal setzt.
JUDITH LEISTER
Tomas Venclova: "Vilnius". Eine Stadt in Europa. Aus dem Litauischen übersetzt von Claudia Sinnig. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 242 S., br., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die "Sehnsucht nach Vilnius" spricht für Cord Aschenbrenner aus diesem Buch über die Stadt und ihre Geschichte, das der Dichter Tomas Venclova vorgelegt hat. Ein Buch, das seines Erachtens auch der Empathie des Lesers bedarf. Die des Rezensenten hat es jedenfalls. Geradezu schwärmerisch schildert er seine Eindrücke von Vilnius, die ihm Venclovas einfühlsamer Blick auf die historischen wie architektonischen Schichten der Stadt vermittelt hat. Er berichtet über die Lage der Stadt, die Nationalitäten und Religionen ihrer Bewohner, das Wüten der Deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg, die litauische Sprache und die südliche Anmutung des Stadtbilds. Sein Fazit: ein ebenso "geistvolles" wie "kenntnisreiches" Buch.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Venclova behandelt die wechselnden Machtverhältnisse und Grenzziehungen in der 'Stadt am Rande Europas' und bezieht Topographie, Architektur, Religion, Freiheitsbewegungen und die Künste mit ein.« Frankfurter Allgemeine Zeitung