Erzählende Essays - essayistische Erzählungen: über den Stoff des Lebens und Schreibens.Ob Uwe Kolbe mit Hölderlin von Bad Homburg nach Frankfurt wandert, ob er Vater und Sohn ein Bratkartoffelgericht zubereiten lässt, in Rheinsberg oder Arkadien unterwegs ist - immer spürt er mit großer Intensität dem geschichtlichen Prozess und der eigenen Identität nach. Beobachtung und Abstraktion, Erzählung und Essay, Nachdenkliches, Poetisches und Polemisches finden zusammen. Was ist der Stoff des Lebens? Wo haben die Erfahrungen, Kontinuitäten und Brüche ihren Grund? Wo verstellen (Selbst-)Täuschungen die klare Sicht auf die Wirklichkeit? Dem Autor sind die Utopien fragwürdig geworden, die einmal auch die eigenen waren. Lange vor '89 verließ er den sich sozialistisch nennenden deutschen Staat; den Mauerfall erlebte er in Texas am Fernseher. Enttäuschungen positiv zu begreifen, ihnen Produktivität abzugewinnen, das ist seit langem sein Credo. Dass Schriftsteller wie Fühmann, Hilbig, ChristaWolf und Robert Walser, bildende Künstler wie Hans Scheib und Annette Schröter für ihn immer wieder Identifikations- und Anstoß- oder Abstoßpunkte sind, verwundert wenig. Im Nachdenken über sie thematisiert Kolbe auch das Eigene, stellt sich den großen Fragen, nach Glück, Scheitern, Tod und deren Widerschein im Poetischen.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.05.2011Das kleine Wort „aber“
Weitergehen und schauen: In Uwe Kolbes Essayband „Vinetas Archive“ erleuchtet der Fixstern Hölderlin die DDR
Als ihm 1985 die Behörden der DDR eine Lesereise in die Schweiz und nach Tübingen bewilligten, entdeckte der Lyriker Uwe Kolbe, dass die Donau durch Deutschland fließt, ja dort sogar entspringt. Er schilderte sein Erstaunen 2006 bei einer Rede vor der Ost-West-Tagung der Psychoanalytischen Gesellschaft in Jena und fügte hinzu: „Sagen Sie ruhig, da hat er in Erdkunde nicht aufgepasst. Stimmt nicht, Euer Ehren! Ich wusste, wie der sibirische Fluss Lena vom Baikal weg Richtung Norden strebt, ich hatte auch vom Grand Canyon ein Foto gesehen, vom Victoriasee, von der Witjastiefe und von Patagonien sogar eine ziemlich genaue Vorstellung. Nichts war allerdings exotischer, nichts lag ferner als der Westen Deutschlands als konkrete physische Erscheinung. Ich war vier, als der antifaschistische Schutzwall entstand.“
„Vinetas Archive“ – so hat Uwe Kolbe diese Sammlung von Essays, Prosaskizzen und Gelegenheitsarbeiten aus den letzten fünf, sechs Jahren genannt. Das erinnert an seinen Gedichtband „Vineta“ von 1998. Aber schon damals rief er den Namen der Stadt, die den pommerschen Sagen zufolge in den Fluten der Ostsee versunken ist, nicht herauf, um Ostberlin, die Hauptstadt der untergegangenen DDR, in der er 1957 geboren wurde, in einen mythologischen Ort zu verwandeln. Zu sehr steckte ihm, woran die gleichzeitig erschienene Essaysammlung „Renegatentermine“ keinen Zweifel ließ, das Untergegangene in den Knochen. Denn zum Untergang der DDR gehörte ja in den Jahren nach 1990 das ständige Wiederauftauchen ihrer verborgenen Hinterlassenschaften. Im Frühjahr 1992 hat Uwe Kolbe die ihn betreffenden Stasi-Akten gesichtet, sein aktueller Titel „Vinetas Archive“ spannt die poetische Chiffre des Untergangs und das Wiederauftauchen der DDR in der Prosa der Akten zusammen.
Wer 1961 ein Kind war, der erinnert sich weniger an den Mauerbau als an seine Konsequenzen. Er gehört der Generation an, die in das ummauerte „Dreibuchstabenland“ hinein aufwuchs, darin den Wehrdienst ableistete, erwachsen wurde, ins Berufsleben eintrat. Uwe Kolbe hat den Weg in die Schriftstellerexistenz früh gesucht und früh gefunden, gefördert von seinem Mentor Franz Fühmann, der eine Art Umspannwerk war für das Einfließen der Energieströme aus der deutschen Romantik und des Expressionismus in die Literatur der DDR.
Ein knapper, zum zwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls entstandener Text über die erste Reise Uwe Kolbes von Ostberlin nach Westberlin zu einer Lesung in der „Autorenbuchhandlung“ im April 1982 eröffnet dieses Buch. Franz Fühmann, dem er zwei Jahre später die Totenrede hielt, hatte ihm die Möglichkeit dazu eröffnet, persönlich für ihn gebürgt. Das „Tabu“, das der Text im Titel führt, ging an diesem Apriltag zu Bruch, die innere Verpflichtung zum Sichabfindenmüssen mit dem Leben in der DDR, weil „der Sozialismus in seiner Schäbigkeit die Konsequenz aus dem deutschen Desaster war“.
Wie einen Limbus schildert Uwe Kolbe den „Tränenpalast“ am Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin, wie ein Konversionserlebnis den einen Tag in Westberlin. Er kehrte zurück wie Franz Fühmann, aber anders als dieser, anders als Christa Wolf, die noch vor dem Weltkrieg Geborenen, blieb er nicht in der DDR, deren Behörden ihn als Mitherausgeber der literarischen Untergrundzeitschrift Mikado im Auge hatten. 1987 verließ er das Dreibuchstabenland und erlebte zwei Jahre später den Fall der Mauer aus der Ferne, als „Writer in Residence“ an der University of Texas in Austin.
Mehrfach blitzt in diesem Buch die Erinnerung an den Schock der ersten Begegnung mit den Landschaften und Städten des Westens auf. Kolbe hält eine Erfahrung fest, die es nach 1989 auch umgekehrt gab. Westberliner entdeckten die Mark Brandenburg, die sie vor allem aus Fontane kannten, neu, manchem wurde erst bei einem Ausflug in den Oderbruch klar, wie nah Berlin an der polnischen Grenze liegt. An die Stelle der monochromen politischen Atlanten trat das physische Relief der Landschaften und Städte.
„Der Westen trat zweidimensional in mein bewusstes Leben, und zwar konsequent, alltäglich ab dem Dezember 1964 auf einem großen Tesla-Bildschirm.“ Gegenüber den Berichten von der Rückkehr des in die Zweidimensionalität gebannten Deutschland zur dreidimensionalen Leibhaftigkeit kommen die Archive, die Erinnerungen an Freunde im Osten, die sich als IM’s entpuppten, an die Fremdheit der Gleichaltrigen bei der Ankunft im Westen nicht zu kurz.
Aber im Zentrum steht nicht die Biographie des Ex-Staatsbürgers der DDR, sondern die Biographie des Autors Uwe Kolbe. Darin ist Friedrich Hölderlin ein Fixstern, der alles überstrahlt, auch die Reminiszenz an die Totenmaske Franz Fühmanns, den Nachruf auf Wolfgang Hilbig und die Einleitung zu dessen Gedichten in der Werkausgabe. Mit der Wiederkehr Deutschlands aus der Zweidimensionalität, die Uwe Kolbe nach 1989/90 erlebte, hat es sehr viel zu tun, dass dieser Fixstern hier so hell leuchtet.
Denn zu dieser Erfahrung gehörte auch die Wiedervereinigung der inneren, poetischen Landschaften mit ihren realen Vorbildern. Die physisch-geographische Donau, die er im deutschen Südwesten entdeckte, floss ja zuvor schon durch die Gedichte Hölderlins, auch wenn sie dort manchmal den griechischen Namen „Ister“ trug. In Tübingen, wo er von 1997 bis zu seiner Rückkehr nach Berlin 2002 lebte, in Bad Homburg und Frankfurt am Main muss Uwe Kolbe Hölderlin vor Augen gehabt haben, so wie mancher aus dem Westen mit Caspar David Friedrich im Kopf nach Greifswald oder Rügen kam.
Eines der schönsten Stücke des Bandes, „Hölderlins Gewissen“, ist aus dieser Erfahrung hervorgegangen, ein Stück Rollenprosa, in dem Hölderlin selbst das Wort ergreift, während er den zweiten Teil des „Hyperion“ und den „Empedokles“ ins Auge fasst, mit Cotta und Schiller hadert, von Frankfurt zurück nach Bad Homburg wandert, mit Sinclair durch die Gegend zieht, sich mit Susette Gontard trifft: „Es war der erste Donnerstag im Oktober, die Natur schon in Farben . . . “.
Nicht alle Gelegenheitsarbeiten – als Stadtschreiber in Rheinsberg oder Katalogautor für befreundete Künstler etc. – halten diese Homburger Höhe. Dafür entschädigt Kolbes Brief an eine Eberswalder Schülergruppe, die sein Gedicht „Der Glückliche“ gelesen hat und fragt, was es mit dem in Vers 10 erwähnten „Hauptwort Hölderlins“ auf sich habe. Der Dichter antwortet: Es ist „das kleine Wort ,Aber’. Er hat es an den Anfang von Sätzen getan, an den Anfang von Versen, an den Anfang von Strophen. Es setzt nicht wirklich entgegen, es hat gar nichts gemein mit dem Aber des Trotzes. Es bedeutet so viel wie ,Aufgepasst’ oder ,Aufgemerkt’ oder ,Aufgewacht’ oder – und vor allem: Lasst uns weitergehen und schauen.“ Es werden viele Bücher zum 50. Jahrestag des Mauerbaus erscheinen. Ein schmales, gehaltvolles ist jetzt schon erschienen.
LOTHAR MÜLLER
UWE KOLBE: Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 224 Seiten, 19,90 Euro.
„Der Westen trat zweidimensional
in mein bewusstes Leben, auf
einem großen Tesla-Bildschirm“
„Es war der erste Donnerstag
im Oktober, die
Natur schon in Farben . . . “
„Ich war vier, als der antifaschistische Schutzwall entstand“: Der Lyriker, Erzähler und Essayist Uwe Kolbe. Foto: Brigitte Friedrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Weitergehen und schauen: In Uwe Kolbes Essayband „Vinetas Archive“ erleuchtet der Fixstern Hölderlin die DDR
Als ihm 1985 die Behörden der DDR eine Lesereise in die Schweiz und nach Tübingen bewilligten, entdeckte der Lyriker Uwe Kolbe, dass die Donau durch Deutschland fließt, ja dort sogar entspringt. Er schilderte sein Erstaunen 2006 bei einer Rede vor der Ost-West-Tagung der Psychoanalytischen Gesellschaft in Jena und fügte hinzu: „Sagen Sie ruhig, da hat er in Erdkunde nicht aufgepasst. Stimmt nicht, Euer Ehren! Ich wusste, wie der sibirische Fluss Lena vom Baikal weg Richtung Norden strebt, ich hatte auch vom Grand Canyon ein Foto gesehen, vom Victoriasee, von der Witjastiefe und von Patagonien sogar eine ziemlich genaue Vorstellung. Nichts war allerdings exotischer, nichts lag ferner als der Westen Deutschlands als konkrete physische Erscheinung. Ich war vier, als der antifaschistische Schutzwall entstand.“
„Vinetas Archive“ – so hat Uwe Kolbe diese Sammlung von Essays, Prosaskizzen und Gelegenheitsarbeiten aus den letzten fünf, sechs Jahren genannt. Das erinnert an seinen Gedichtband „Vineta“ von 1998. Aber schon damals rief er den Namen der Stadt, die den pommerschen Sagen zufolge in den Fluten der Ostsee versunken ist, nicht herauf, um Ostberlin, die Hauptstadt der untergegangenen DDR, in der er 1957 geboren wurde, in einen mythologischen Ort zu verwandeln. Zu sehr steckte ihm, woran die gleichzeitig erschienene Essaysammlung „Renegatentermine“ keinen Zweifel ließ, das Untergegangene in den Knochen. Denn zum Untergang der DDR gehörte ja in den Jahren nach 1990 das ständige Wiederauftauchen ihrer verborgenen Hinterlassenschaften. Im Frühjahr 1992 hat Uwe Kolbe die ihn betreffenden Stasi-Akten gesichtet, sein aktueller Titel „Vinetas Archive“ spannt die poetische Chiffre des Untergangs und das Wiederauftauchen der DDR in der Prosa der Akten zusammen.
Wer 1961 ein Kind war, der erinnert sich weniger an den Mauerbau als an seine Konsequenzen. Er gehört der Generation an, die in das ummauerte „Dreibuchstabenland“ hinein aufwuchs, darin den Wehrdienst ableistete, erwachsen wurde, ins Berufsleben eintrat. Uwe Kolbe hat den Weg in die Schriftstellerexistenz früh gesucht und früh gefunden, gefördert von seinem Mentor Franz Fühmann, der eine Art Umspannwerk war für das Einfließen der Energieströme aus der deutschen Romantik und des Expressionismus in die Literatur der DDR.
Ein knapper, zum zwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls entstandener Text über die erste Reise Uwe Kolbes von Ostberlin nach Westberlin zu einer Lesung in der „Autorenbuchhandlung“ im April 1982 eröffnet dieses Buch. Franz Fühmann, dem er zwei Jahre später die Totenrede hielt, hatte ihm die Möglichkeit dazu eröffnet, persönlich für ihn gebürgt. Das „Tabu“, das der Text im Titel führt, ging an diesem Apriltag zu Bruch, die innere Verpflichtung zum Sichabfindenmüssen mit dem Leben in der DDR, weil „der Sozialismus in seiner Schäbigkeit die Konsequenz aus dem deutschen Desaster war“.
Wie einen Limbus schildert Uwe Kolbe den „Tränenpalast“ am Bahnhof Friedrichstraße in Ostberlin, wie ein Konversionserlebnis den einen Tag in Westberlin. Er kehrte zurück wie Franz Fühmann, aber anders als dieser, anders als Christa Wolf, die noch vor dem Weltkrieg Geborenen, blieb er nicht in der DDR, deren Behörden ihn als Mitherausgeber der literarischen Untergrundzeitschrift Mikado im Auge hatten. 1987 verließ er das Dreibuchstabenland und erlebte zwei Jahre später den Fall der Mauer aus der Ferne, als „Writer in Residence“ an der University of Texas in Austin.
Mehrfach blitzt in diesem Buch die Erinnerung an den Schock der ersten Begegnung mit den Landschaften und Städten des Westens auf. Kolbe hält eine Erfahrung fest, die es nach 1989 auch umgekehrt gab. Westberliner entdeckten die Mark Brandenburg, die sie vor allem aus Fontane kannten, neu, manchem wurde erst bei einem Ausflug in den Oderbruch klar, wie nah Berlin an der polnischen Grenze liegt. An die Stelle der monochromen politischen Atlanten trat das physische Relief der Landschaften und Städte.
„Der Westen trat zweidimensional in mein bewusstes Leben, und zwar konsequent, alltäglich ab dem Dezember 1964 auf einem großen Tesla-Bildschirm.“ Gegenüber den Berichten von der Rückkehr des in die Zweidimensionalität gebannten Deutschland zur dreidimensionalen Leibhaftigkeit kommen die Archive, die Erinnerungen an Freunde im Osten, die sich als IM’s entpuppten, an die Fremdheit der Gleichaltrigen bei der Ankunft im Westen nicht zu kurz.
Aber im Zentrum steht nicht die Biographie des Ex-Staatsbürgers der DDR, sondern die Biographie des Autors Uwe Kolbe. Darin ist Friedrich Hölderlin ein Fixstern, der alles überstrahlt, auch die Reminiszenz an die Totenmaske Franz Fühmanns, den Nachruf auf Wolfgang Hilbig und die Einleitung zu dessen Gedichten in der Werkausgabe. Mit der Wiederkehr Deutschlands aus der Zweidimensionalität, die Uwe Kolbe nach 1989/90 erlebte, hat es sehr viel zu tun, dass dieser Fixstern hier so hell leuchtet.
Denn zu dieser Erfahrung gehörte auch die Wiedervereinigung der inneren, poetischen Landschaften mit ihren realen Vorbildern. Die physisch-geographische Donau, die er im deutschen Südwesten entdeckte, floss ja zuvor schon durch die Gedichte Hölderlins, auch wenn sie dort manchmal den griechischen Namen „Ister“ trug. In Tübingen, wo er von 1997 bis zu seiner Rückkehr nach Berlin 2002 lebte, in Bad Homburg und Frankfurt am Main muss Uwe Kolbe Hölderlin vor Augen gehabt haben, so wie mancher aus dem Westen mit Caspar David Friedrich im Kopf nach Greifswald oder Rügen kam.
Eines der schönsten Stücke des Bandes, „Hölderlins Gewissen“, ist aus dieser Erfahrung hervorgegangen, ein Stück Rollenprosa, in dem Hölderlin selbst das Wort ergreift, während er den zweiten Teil des „Hyperion“ und den „Empedokles“ ins Auge fasst, mit Cotta und Schiller hadert, von Frankfurt zurück nach Bad Homburg wandert, mit Sinclair durch die Gegend zieht, sich mit Susette Gontard trifft: „Es war der erste Donnerstag im Oktober, die Natur schon in Farben . . . “.
Nicht alle Gelegenheitsarbeiten – als Stadtschreiber in Rheinsberg oder Katalogautor für befreundete Künstler etc. – halten diese Homburger Höhe. Dafür entschädigt Kolbes Brief an eine Eberswalder Schülergruppe, die sein Gedicht „Der Glückliche“ gelesen hat und fragt, was es mit dem in Vers 10 erwähnten „Hauptwort Hölderlins“ auf sich habe. Der Dichter antwortet: Es ist „das kleine Wort ,Aber’. Er hat es an den Anfang von Sätzen getan, an den Anfang von Versen, an den Anfang von Strophen. Es setzt nicht wirklich entgegen, es hat gar nichts gemein mit dem Aber des Trotzes. Es bedeutet so viel wie ,Aufgepasst’ oder ,Aufgemerkt’ oder ,Aufgewacht’ oder – und vor allem: Lasst uns weitergehen und schauen.“ Es werden viele Bücher zum 50. Jahrestag des Mauerbaus erscheinen. Ein schmales, gehaltvolles ist jetzt schon erschienen.
LOTHAR MÜLLER
UWE KOLBE: Vinetas Archive. Annäherungen an Gründe. Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 224 Seiten, 19,90 Euro.
„Der Westen trat zweidimensional
in mein bewusstes Leben, auf
einem großen Tesla-Bildschirm“
„Es war der erste Donnerstag
im Oktober, die
Natur schon in Farben . . . “
„Ich war vier, als der antifaschistische Schutzwall entstand“: Der Lyriker, Erzähler und Essayist Uwe Kolbe. Foto: Brigitte Friedrich
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Für Jürgen Verdofsky zeugt Uwe Kolbes Essayband mit Reden aus den vergangenen sieben Jahren vom unveränderten Temperament des Autors und von seiner Fähigkeit, die Deutungslinien vom Untergang beziehungsweise Nachleben der DDR auf beeindruckende Weise zu ziehen. Immer wieder stößt Verdofsky auf Pointiertes zur Gegenwart, auf kleine Stücke mit Weitblick; bitte weiterschreiben, denkt er mehr als einmal, so auch bei Kolbes Hommagen an Kollegen wie Christa Wolf oder Wolfgang Hilbig. Insgesamt kann der Rezensent zwar kein Programm erkennen, aber einen wirkungsmächtigen Aufriss von "Kolbes ästhetischer Bestimmtheit".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2012Wissen ums Nichtwissen
Was den Blick aufs Eigentliche von Poesie und Wahrhaftigkeit verstellt: Der Schriftsteller Uwe Kolbe öffnet "Vinetas Archive"
Zwölf Stunden sind Uwe Kolbe im April des Jahres 1982 im Westen erlaubt. Ein älterer Schriftstellerkollege aus der DDR, Franz Fühmann, hatte vermittelt. Unter dem Blick eines Grenzoffiziers erklimmt der vierundzwanzigjährige Kolbe Treppe um Treppe zum S-Bahnsteig Friedrichstraße, mit verwirrendem Gefühl. "Mir war nicht, mir war nach nichts, ich war nicht anwesend." Dann ist er drüben, mit einem Stempel im Pass, den der normale DDR-Bürger nicht besitzt. "Eine Verschiebung von ein paar und zehn Metern hatte mich aus der Realität geschubst." Der Stoß war erfolgt, "ich fiel, ich flog, mir fiel auch jetzt kein Wort ein, die Bewegung aus der Ordnung korrekt wiederzugeben".
"Tabu" ist der Text, der dies erzählt, überschrieben. Uwe Kolbes Tabu hieß damals "Abfinden, sich abfinden, daß man sich abgefunden hatte". Ein anderer Name des Tabus, schreibt er, war "Hoffnung" fürs eigene Land. Was die kurze Ortsverschiebung anstieß und von Uwe Kolbe zeitverzögert erst einige Jahre und Westreisen später annähernd erfasst wird, beschreibt ein zweiter Text mit dem Titel "Noch einmal 1989 - Rückwärtsgewandte Bemerkungen über Utopie und Literatur". Zweidimensional, erzählt er da, war er durch Fernsehbilder auf diesen Westen zwar vorbereitet. Dreckiger Rhein, fallende Kanzler, Streik, Drogen. Nicht vorbereitet war er "auf Alltag, auf Normalität"; auf "die Schönheit als Farbe und Licht, die sich in hundert Punks an der Gedächtniskirche auftat, während kein Polizist in Sicht war".
Uwe Kolbe galt in der DDR schließlich als unbequem. Zwischen 1982 und 1985 wurde er mit Publikationsverbot belegt und fand ein Ventil in der nichtoffiziellen Literaturzeitschrift "Mikado". 1987 reist er aus, wohlwissend, dass "weder hier noch da der Weg ins Offene" liegt.
Nähert man sich dem heute in Berlin lebenden Lyriker und Autor Uwe Kolbe von diesem biographischen Punkt, vom Abstand zwischen zwei Welten, der seit seinen ersten zwölf West-Stunden klafft, von der prägenden Erkenntnis, dass die Erfahrungen in geschlossenen Gesellschaften nicht für die offene Gesellschaft taugen, dann kümmert einen die gleiche Besorgnis, die Uwe Kolbe im Blick auf den Schriftstellerkollegen Wolfgang Hilbig hat, für den er den Nachruf schreibt: Was genau wissen wir damit wirklich? Und wie ändert dieser Hintergrund den Blick aufs Werk?
Uwe Kolbe führt in dem Sammelband "Vinetas Archive" vor, wie gerade das Benennen der Ambivalenz das Bewusstsein dafür schärft, dass feste Einordnungen, klare Begriffe den Blick auf das Eigentliche, auf "Poesie und Wahrhaftigkeit", verstellen können. Daraus zieht er Konsequenzen für sein Denken und Schreiben. Er spitzt nichts zu und macht sich kein Bild. Trotzdem sieht er nicht ab von Diktaturerfahrung und dem Aufwachsen in der DDR.
"Vineta", die Stadt, die diesem Band den halben Titel leiht, versank der Sage nach in der Ostsee, weil ihre Bewohner sich für etwas Besseres hielten. Wenn Uwe Kolbe also, nach Preisen, Lyrikbänden und einiger Prosa, "Vinetas Archive" öffnet, verwendet er keineswegs nur Essays aus den letzten sieben Jahren wieder, die er nun überarbeitet hat. Vielmehr zeichnet er zugleich seine ganz persönliche Identitätskurve. Sie beginnt im Osten, durchdringt die Romantik und Hölderlin, ehrt verschiedene bildende Künstler, feiert Robert Walser und streift Christa Wolf, Wolfgang Hilbig oder Liedtexte der Rolling Stones. Und sie endet in der Beantwortung von Fragen einer Schülergruppe, die wissen will, welche Intention der Autor beim Gedicht "Der Glückliche" verfolgt habe: "Eine Intention gibt es nicht. Es gab ein Auf und Ab, ein ,Ohngefähr', ein weiches Vielleicht, eine Vermutung."
Uwe Kolbe leistet sich also "den Luxus der Erinnerung, des Grabens und Heraufholens so lange, bis die Bilder sprechen". Die von ihm Porträtierten, darunter Christiane Latendorf, Hans Scheib oder Sarah Haffner, treten als eigenwillige Künstler hervor. "Vinetas Archive" pflegt eine Haltung, nicht den Effekt, und vertraut auf die Leuchtspur einer Sprache, die das Korsett verschmäht und ablenkungswillig bleibt.
ANJA HIRSCH.
Uwe Kolbe: "Vinetas Archive". Annäherungen an Gründe.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 244 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was den Blick aufs Eigentliche von Poesie und Wahrhaftigkeit verstellt: Der Schriftsteller Uwe Kolbe öffnet "Vinetas Archive"
Zwölf Stunden sind Uwe Kolbe im April des Jahres 1982 im Westen erlaubt. Ein älterer Schriftstellerkollege aus der DDR, Franz Fühmann, hatte vermittelt. Unter dem Blick eines Grenzoffiziers erklimmt der vierundzwanzigjährige Kolbe Treppe um Treppe zum S-Bahnsteig Friedrichstraße, mit verwirrendem Gefühl. "Mir war nicht, mir war nach nichts, ich war nicht anwesend." Dann ist er drüben, mit einem Stempel im Pass, den der normale DDR-Bürger nicht besitzt. "Eine Verschiebung von ein paar und zehn Metern hatte mich aus der Realität geschubst." Der Stoß war erfolgt, "ich fiel, ich flog, mir fiel auch jetzt kein Wort ein, die Bewegung aus der Ordnung korrekt wiederzugeben".
"Tabu" ist der Text, der dies erzählt, überschrieben. Uwe Kolbes Tabu hieß damals "Abfinden, sich abfinden, daß man sich abgefunden hatte". Ein anderer Name des Tabus, schreibt er, war "Hoffnung" fürs eigene Land. Was die kurze Ortsverschiebung anstieß und von Uwe Kolbe zeitverzögert erst einige Jahre und Westreisen später annähernd erfasst wird, beschreibt ein zweiter Text mit dem Titel "Noch einmal 1989 - Rückwärtsgewandte Bemerkungen über Utopie und Literatur". Zweidimensional, erzählt er da, war er durch Fernsehbilder auf diesen Westen zwar vorbereitet. Dreckiger Rhein, fallende Kanzler, Streik, Drogen. Nicht vorbereitet war er "auf Alltag, auf Normalität"; auf "die Schönheit als Farbe und Licht, die sich in hundert Punks an der Gedächtniskirche auftat, während kein Polizist in Sicht war".
Uwe Kolbe galt in der DDR schließlich als unbequem. Zwischen 1982 und 1985 wurde er mit Publikationsverbot belegt und fand ein Ventil in der nichtoffiziellen Literaturzeitschrift "Mikado". 1987 reist er aus, wohlwissend, dass "weder hier noch da der Weg ins Offene" liegt.
Nähert man sich dem heute in Berlin lebenden Lyriker und Autor Uwe Kolbe von diesem biographischen Punkt, vom Abstand zwischen zwei Welten, der seit seinen ersten zwölf West-Stunden klafft, von der prägenden Erkenntnis, dass die Erfahrungen in geschlossenen Gesellschaften nicht für die offene Gesellschaft taugen, dann kümmert einen die gleiche Besorgnis, die Uwe Kolbe im Blick auf den Schriftstellerkollegen Wolfgang Hilbig hat, für den er den Nachruf schreibt: Was genau wissen wir damit wirklich? Und wie ändert dieser Hintergrund den Blick aufs Werk?
Uwe Kolbe führt in dem Sammelband "Vinetas Archive" vor, wie gerade das Benennen der Ambivalenz das Bewusstsein dafür schärft, dass feste Einordnungen, klare Begriffe den Blick auf das Eigentliche, auf "Poesie und Wahrhaftigkeit", verstellen können. Daraus zieht er Konsequenzen für sein Denken und Schreiben. Er spitzt nichts zu und macht sich kein Bild. Trotzdem sieht er nicht ab von Diktaturerfahrung und dem Aufwachsen in der DDR.
"Vineta", die Stadt, die diesem Band den halben Titel leiht, versank der Sage nach in der Ostsee, weil ihre Bewohner sich für etwas Besseres hielten. Wenn Uwe Kolbe also, nach Preisen, Lyrikbänden und einiger Prosa, "Vinetas Archive" öffnet, verwendet er keineswegs nur Essays aus den letzten sieben Jahren wieder, die er nun überarbeitet hat. Vielmehr zeichnet er zugleich seine ganz persönliche Identitätskurve. Sie beginnt im Osten, durchdringt die Romantik und Hölderlin, ehrt verschiedene bildende Künstler, feiert Robert Walser und streift Christa Wolf, Wolfgang Hilbig oder Liedtexte der Rolling Stones. Und sie endet in der Beantwortung von Fragen einer Schülergruppe, die wissen will, welche Intention der Autor beim Gedicht "Der Glückliche" verfolgt habe: "Eine Intention gibt es nicht. Es gab ein Auf und Ab, ein ,Ohngefähr', ein weiches Vielleicht, eine Vermutung."
Uwe Kolbe leistet sich also "den Luxus der Erinnerung, des Grabens und Heraufholens so lange, bis die Bilder sprechen". Die von ihm Porträtierten, darunter Christiane Latendorf, Hans Scheib oder Sarah Haffner, treten als eigenwillige Künstler hervor. "Vinetas Archive" pflegt eine Haltung, nicht den Effekt, und vertraut auf die Leuchtspur einer Sprache, die das Korsett verschmäht und ablenkungswillig bleibt.
ANJA HIRSCH.
Uwe Kolbe: "Vinetas Archive". Annäherungen an Gründe.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 244 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main