Erzählende Essays - essayistische Erzählungen: über den Stoff des Lebens und Schreibens.Ob Uwe Kolbe mit Hölderlin von Bad Homburg nach Frankfurt wandert, ob er Vater und Sohn ein Bratkartoffelgericht zubereiten lässt, in Rheinsberg oder Arkadien unterwegs ist - immer spürt er mit großer Intensität dem geschichtlichen Prozess und der eigenen Identität nach. Beobachtung und Abstraktion, Erzählung und Essay, Nachdenkliches, Poetisches und Polemisches finden zusammen. Was ist der Stoff des Lebens? Wo haben die Erfahrungen, Kontinuitäten und Brüche ihren Grund? Wo verstellen (Selbst-)Täuschungen die klare Sicht auf die Wirklichkeit? Dem Autor sind die Utopien fragwürdig geworden, die einmal auch die eigenen waren. Lange vor '89 verließ er den sich sozialistisch nennenden deutschen Staat; den Mauerfall erlebte er in Texas am Fernseher. Enttäuschungen positiv zu begreifen, ihnen Produktivität abzugewinnen, das ist seit langem sein Credo. Dass Schriftsteller wie Fühmann, Hilbig, ChristaWolf und Robert Walser, bildende Künstler wie Hans Scheib und Annette Schröter für ihn immer wieder Identifikations- und Anstoß- oder Abstoßpunkte sind, verwundert wenig. Im Nachdenken über sie thematisiert Kolbe auch das Eigene, stellt sich den großen Fragen, nach Glück, Scheitern, Tod und deren Widerschein im Poetischen.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Für Jürgen Verdofsky zeugt Uwe Kolbes Essayband mit Reden aus den vergangenen sieben Jahren vom unveränderten Temperament des Autors und von seiner Fähigkeit, die Deutungslinien vom Untergang beziehungsweise Nachleben der DDR auf beeindruckende Weise zu ziehen. Immer wieder stößt Verdofsky auf Pointiertes zur Gegenwart, auf kleine Stücke mit Weitblick; bitte weiterschreiben, denkt er mehr als einmal, so auch bei Kolbes Hommagen an Kollegen wie Christa Wolf oder Wolfgang Hilbig. Insgesamt kann der Rezensent zwar kein Programm erkennen, aber einen wirkungsmächtigen Aufriss von "Kolbes ästhetischer Bestimmtheit".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2012Wissen ums Nichtwissen
Was den Blick aufs Eigentliche von Poesie und Wahrhaftigkeit verstellt: Der Schriftsteller Uwe Kolbe öffnet "Vinetas Archive"
Zwölf Stunden sind Uwe Kolbe im April des Jahres 1982 im Westen erlaubt. Ein älterer Schriftstellerkollege aus der DDR, Franz Fühmann, hatte vermittelt. Unter dem Blick eines Grenzoffiziers erklimmt der vierundzwanzigjährige Kolbe Treppe um Treppe zum S-Bahnsteig Friedrichstraße, mit verwirrendem Gefühl. "Mir war nicht, mir war nach nichts, ich war nicht anwesend." Dann ist er drüben, mit einem Stempel im Pass, den der normale DDR-Bürger nicht besitzt. "Eine Verschiebung von ein paar und zehn Metern hatte mich aus der Realität geschubst." Der Stoß war erfolgt, "ich fiel, ich flog, mir fiel auch jetzt kein Wort ein, die Bewegung aus der Ordnung korrekt wiederzugeben".
"Tabu" ist der Text, der dies erzählt, überschrieben. Uwe Kolbes Tabu hieß damals "Abfinden, sich abfinden, daß man sich abgefunden hatte". Ein anderer Name des Tabus, schreibt er, war "Hoffnung" fürs eigene Land. Was die kurze Ortsverschiebung anstieß und von Uwe Kolbe zeitverzögert erst einige Jahre und Westreisen später annähernd erfasst wird, beschreibt ein zweiter Text mit dem Titel "Noch einmal 1989 - Rückwärtsgewandte Bemerkungen über Utopie und Literatur". Zweidimensional, erzählt er da, war er durch Fernsehbilder auf diesen Westen zwar vorbereitet. Dreckiger Rhein, fallende Kanzler, Streik, Drogen. Nicht vorbereitet war er "auf Alltag, auf Normalität"; auf "die Schönheit als Farbe und Licht, die sich in hundert Punks an der Gedächtniskirche auftat, während kein Polizist in Sicht war".
Uwe Kolbe galt in der DDR schließlich als unbequem. Zwischen 1982 und 1985 wurde er mit Publikationsverbot belegt und fand ein Ventil in der nichtoffiziellen Literaturzeitschrift "Mikado". 1987 reist er aus, wohlwissend, dass "weder hier noch da der Weg ins Offene" liegt.
Nähert man sich dem heute in Berlin lebenden Lyriker und Autor Uwe Kolbe von diesem biographischen Punkt, vom Abstand zwischen zwei Welten, der seit seinen ersten zwölf West-Stunden klafft, von der prägenden Erkenntnis, dass die Erfahrungen in geschlossenen Gesellschaften nicht für die offene Gesellschaft taugen, dann kümmert einen die gleiche Besorgnis, die Uwe Kolbe im Blick auf den Schriftstellerkollegen Wolfgang Hilbig hat, für den er den Nachruf schreibt: Was genau wissen wir damit wirklich? Und wie ändert dieser Hintergrund den Blick aufs Werk?
Uwe Kolbe führt in dem Sammelband "Vinetas Archive" vor, wie gerade das Benennen der Ambivalenz das Bewusstsein dafür schärft, dass feste Einordnungen, klare Begriffe den Blick auf das Eigentliche, auf "Poesie und Wahrhaftigkeit", verstellen können. Daraus zieht er Konsequenzen für sein Denken und Schreiben. Er spitzt nichts zu und macht sich kein Bild. Trotzdem sieht er nicht ab von Diktaturerfahrung und dem Aufwachsen in der DDR.
"Vineta", die Stadt, die diesem Band den halben Titel leiht, versank der Sage nach in der Ostsee, weil ihre Bewohner sich für etwas Besseres hielten. Wenn Uwe Kolbe also, nach Preisen, Lyrikbänden und einiger Prosa, "Vinetas Archive" öffnet, verwendet er keineswegs nur Essays aus den letzten sieben Jahren wieder, die er nun überarbeitet hat. Vielmehr zeichnet er zugleich seine ganz persönliche Identitätskurve. Sie beginnt im Osten, durchdringt die Romantik und Hölderlin, ehrt verschiedene bildende Künstler, feiert Robert Walser und streift Christa Wolf, Wolfgang Hilbig oder Liedtexte der Rolling Stones. Und sie endet in der Beantwortung von Fragen einer Schülergruppe, die wissen will, welche Intention der Autor beim Gedicht "Der Glückliche" verfolgt habe: "Eine Intention gibt es nicht. Es gab ein Auf und Ab, ein ,Ohngefähr', ein weiches Vielleicht, eine Vermutung."
Uwe Kolbe leistet sich also "den Luxus der Erinnerung, des Grabens und Heraufholens so lange, bis die Bilder sprechen". Die von ihm Porträtierten, darunter Christiane Latendorf, Hans Scheib oder Sarah Haffner, treten als eigenwillige Künstler hervor. "Vinetas Archive" pflegt eine Haltung, nicht den Effekt, und vertraut auf die Leuchtspur einer Sprache, die das Korsett verschmäht und ablenkungswillig bleibt.
ANJA HIRSCH.
Uwe Kolbe: "Vinetas Archive". Annäherungen an Gründe.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 244 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was den Blick aufs Eigentliche von Poesie und Wahrhaftigkeit verstellt: Der Schriftsteller Uwe Kolbe öffnet "Vinetas Archive"
Zwölf Stunden sind Uwe Kolbe im April des Jahres 1982 im Westen erlaubt. Ein älterer Schriftstellerkollege aus der DDR, Franz Fühmann, hatte vermittelt. Unter dem Blick eines Grenzoffiziers erklimmt der vierundzwanzigjährige Kolbe Treppe um Treppe zum S-Bahnsteig Friedrichstraße, mit verwirrendem Gefühl. "Mir war nicht, mir war nach nichts, ich war nicht anwesend." Dann ist er drüben, mit einem Stempel im Pass, den der normale DDR-Bürger nicht besitzt. "Eine Verschiebung von ein paar und zehn Metern hatte mich aus der Realität geschubst." Der Stoß war erfolgt, "ich fiel, ich flog, mir fiel auch jetzt kein Wort ein, die Bewegung aus der Ordnung korrekt wiederzugeben".
"Tabu" ist der Text, der dies erzählt, überschrieben. Uwe Kolbes Tabu hieß damals "Abfinden, sich abfinden, daß man sich abgefunden hatte". Ein anderer Name des Tabus, schreibt er, war "Hoffnung" fürs eigene Land. Was die kurze Ortsverschiebung anstieß und von Uwe Kolbe zeitverzögert erst einige Jahre und Westreisen später annähernd erfasst wird, beschreibt ein zweiter Text mit dem Titel "Noch einmal 1989 - Rückwärtsgewandte Bemerkungen über Utopie und Literatur". Zweidimensional, erzählt er da, war er durch Fernsehbilder auf diesen Westen zwar vorbereitet. Dreckiger Rhein, fallende Kanzler, Streik, Drogen. Nicht vorbereitet war er "auf Alltag, auf Normalität"; auf "die Schönheit als Farbe und Licht, die sich in hundert Punks an der Gedächtniskirche auftat, während kein Polizist in Sicht war".
Uwe Kolbe galt in der DDR schließlich als unbequem. Zwischen 1982 und 1985 wurde er mit Publikationsverbot belegt und fand ein Ventil in der nichtoffiziellen Literaturzeitschrift "Mikado". 1987 reist er aus, wohlwissend, dass "weder hier noch da der Weg ins Offene" liegt.
Nähert man sich dem heute in Berlin lebenden Lyriker und Autor Uwe Kolbe von diesem biographischen Punkt, vom Abstand zwischen zwei Welten, der seit seinen ersten zwölf West-Stunden klafft, von der prägenden Erkenntnis, dass die Erfahrungen in geschlossenen Gesellschaften nicht für die offene Gesellschaft taugen, dann kümmert einen die gleiche Besorgnis, die Uwe Kolbe im Blick auf den Schriftstellerkollegen Wolfgang Hilbig hat, für den er den Nachruf schreibt: Was genau wissen wir damit wirklich? Und wie ändert dieser Hintergrund den Blick aufs Werk?
Uwe Kolbe führt in dem Sammelband "Vinetas Archive" vor, wie gerade das Benennen der Ambivalenz das Bewusstsein dafür schärft, dass feste Einordnungen, klare Begriffe den Blick auf das Eigentliche, auf "Poesie und Wahrhaftigkeit", verstellen können. Daraus zieht er Konsequenzen für sein Denken und Schreiben. Er spitzt nichts zu und macht sich kein Bild. Trotzdem sieht er nicht ab von Diktaturerfahrung und dem Aufwachsen in der DDR.
"Vineta", die Stadt, die diesem Band den halben Titel leiht, versank der Sage nach in der Ostsee, weil ihre Bewohner sich für etwas Besseres hielten. Wenn Uwe Kolbe also, nach Preisen, Lyrikbänden und einiger Prosa, "Vinetas Archive" öffnet, verwendet er keineswegs nur Essays aus den letzten sieben Jahren wieder, die er nun überarbeitet hat. Vielmehr zeichnet er zugleich seine ganz persönliche Identitätskurve. Sie beginnt im Osten, durchdringt die Romantik und Hölderlin, ehrt verschiedene bildende Künstler, feiert Robert Walser und streift Christa Wolf, Wolfgang Hilbig oder Liedtexte der Rolling Stones. Und sie endet in der Beantwortung von Fragen einer Schülergruppe, die wissen will, welche Intention der Autor beim Gedicht "Der Glückliche" verfolgt habe: "Eine Intention gibt es nicht. Es gab ein Auf und Ab, ein ,Ohngefähr', ein weiches Vielleicht, eine Vermutung."
Uwe Kolbe leistet sich also "den Luxus der Erinnerung, des Grabens und Heraufholens so lange, bis die Bilder sprechen". Die von ihm Porträtierten, darunter Christiane Latendorf, Hans Scheib oder Sarah Haffner, treten als eigenwillige Künstler hervor. "Vinetas Archive" pflegt eine Haltung, nicht den Effekt, und vertraut auf die Leuchtspur einer Sprache, die das Korsett verschmäht und ablenkungswillig bleibt.
ANJA HIRSCH.
Uwe Kolbe: "Vinetas Archive". Annäherungen an Gründe.
Wallstein Verlag, Göttingen 2011. 244 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main