Mit dieser Lebensdarstellung macht die Autorin das Bild, das wir von der englischen Schriftstellerin Virginia Woolf haben, um einige Klischees ärmer und um viele Nuancen reicher. Sie zeigt, mit welchem Mut Virginia ihr Leben anging und ihre Erfahrungen und ihre inneren Widersprüche in ihr literarisches Werk einbrachte.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.07.1999Die Balance des mittleren Elends
Hermione Lees Biographie über Virginia Woolf
Man stelle sich vor, ein Schriftsteller ist empfindsam und erinnerungssüchtig, wie beispielsweise Marcel Proust, hat seine Kindheit aber nicht in Paris und Combray, sondern in einem Reihenhaus in Bielefeld und für jährlich einige Wochen bei der Großmutter in der Nähe von Bochum verbracht. Würde aus ihm ein Proust werden können? Könnte er ein Schriftsteller sein? Virginia Woolf, die ebenfalls eine Autorin der Erinnerung ist, hätte diese Frage mit einem "Nein" beantwortet. Glücklicherweise stammt sie nicht aus Bielefeld, mußte ihre Ferien auch nicht in der Nähe von Bochum verbringen. Oder, mit ihren Worten: "Sich vorzustellen, ich könnte nur an Surrey oder Sussex oder die Isle of Wight denken, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke!" Nicht auszudenken. Doch Virginia Woolf hatte Glück, und was für Proust der Garten in Combary war, das war für sie das Haus in St. Yves in Cornwall, in dem sie die Sommer ihrer Kindheit verbrachte und welchem sie anscheinend eine unerschöpfliche Erinnerungsfähigkeit und das verdankt, was die Psychoanalyse das Urvertrauen nennt. In diesem Fall ist es ein erinnerungsfrohes Urvertrauen in die eigene Vergangenheit: "Ich könnte Seiten mit einer Erinnerung nach der anderen füllen, welche die Sommer in St. Yves zum günstigsten Auftakt für ein künftiges Leben machten."
Nun ist eine glückliche Kindheit, an die man sich gern erinnert, kein Garant für ein glückliches und künstlerisch produktives Leben. Eine unglückliche Kindheit auch nicht. Wir wissen, daß die meisten Autoren ihre Produktivität einem, mit Freud zu sprechen, gesunden "Mittelelend" verdanken. Dieses zu erhalten ist nicht immer einfach, wobei die Gefährdung für die meisten eher darin besteht, daß das Pendel zu weit in Richtung Unglück und nicht in Richtung Glück ausschlägt. Auch der Schriftstellerin Virginia Woolf ist es - ihr umfangreiches Werk bestätigt dies - trotz vieler Krisen und Zusammenbrüche über Jahre gelungen, diese Balance eines mittleren Elends zu halten, wenn auch am Ende die psychische Verstörung siegte und sie in den Selbstmord trieb.
Es ist nicht das geringste Verdienst der Virginia-Woolf-Biographie von Hermione Lee, Literaturprofessorin in York, daß sie dieser Balance zu entsprechen sucht, weder ein Heldinnenepos noch eine Krankengeschichte schreibt, sondern eine Strategie der Normalisierung und Entdramatisierung verfolgt. So kann sie denn auch der Zentralfrage ihrer biographischen Ermittlung "Was war los mit ihr?" mit der lakonischen Antwort begegnen: "Virginia Woolf war eine normale Frau, die eine Krankheit hatte."
Es fragt sich, ob man über eine normale Frau, die eine Krankheit hatte, eine Biographie von solchem Umfang schreiben muß: 1152 Seiten. Abgesehen von der angelsächsischen Neigung zur Monumentalbiographie, verdankt sich das Volumen des Buches der akribischen Rekonstruktion und Dokumentation der Lebensverhältnisse Virginia Woolfs. Seien es die ihrer Kindheit, die sie als 1882 in London geborene Tochter des Gelehrten Sir Leslie Stephan und seiner Frau Julia Duckworth in einem anregenden, aber auch neurosefördernden viktorianischen Milieu verbrachte, seien es die ihrer Ehe mit Leonard Woolf, den sie 1912 heiratete, mit dem sie die Hogarth Press gründete und zu einer der zentralen Figuren des Bloomsbury-Kreises wurde.
All das lohnt, erzählt zu werden, es ist auch mehrmals erzählt worden, allerdings nicht unter so gründlicher Sichtung von Archivmaterial. Aus Briefen und nachgelassenen Papieren entnimmt Lee genaue Angaben über die Lebenshaltungskosten und die finanzielle Situation der Woolfs: "Die jährlichen Ausgaben des Ehepaars Woolf beliefen sich 1914 auf 443 Pfund." Auf den Penny genau: "Virginia besaß 9013 Pfund 16 Shilling 9 Pence an ererbtem Kapital." Der Leser wird detailliert über haustechnische Angelegenheiten - den Einbau einer neuen "Badewassermaschine" im Februar 1943 beispielsweise - und die Probleme mit dem Küchenpersonal informiert: So wird der Köchin Nelly am 27. März 1934 gekündigt, diese nimmt aus Rache "alle Kochbücher mit", und an ihrer Stelle wird Mabel eingestellt, "die leicht vor den Kopf zu stoßen und ein wenig kämpferischer Charakter war" und darum den Spitznamen "die Kuh" bekam.
Auch über den Wechsel der Wohnsitze und die damit verbundenen Umstände erfahren wir mehr, als uns lieb ist. Anfang 1924 lassen sich die Woolfs wieder in London nieder. Lee scheut sich nicht, die förmliche Umzugsmitteilung zu zitieren: "Mr & Mrs Leonard Woolf / künftig / Tavistock Square 52, / London / W.C.1. / Telephon: Museum 2621. / Ab Donnerstag, 13. März 1924." Mit dem Umzug nach London gaben die Woolfs "Monk's House" in dem Dorf Rodmell in Essex, das sie einige Jahre vorher (1919) gekauft hatten, nicht auf, sondern sie behielten das Haus als Landsitz. Daß ein Umzug mit dem Verkauf und der Neuanschaffung von Möbeln und Hausrat einhergeht, läßt sich denken. Hermione Lee teilt uns Einzelheiten mit, die nur Woolf-Fanatiker wissen möchten. Dabei zählt sie nicht nur die Möblierung und den Hausrat des Hauses in Rodmell auf, sondern auch die zum Verkauf anstehenden Möbel und Gegenstände eines aufgegebenen Hauses in Asheham, so wie sie Leonard Woolf in einem Verkaufskatalog aufgelistet hat: "die Eichen- und Mahagonischränke, die Binsenstühle, die messingen Bettgestelle, die lackierten Wannen für Sitz- und Fußbäder, die gehäkelten Sesselschoner und damastenen Servietten, die kupferne Wärmeflasche und die Kupferkessel, das ,Sherton-Sideboard mit drehbarer Cellarette (Flaschenschränkchen) auf massiven Bronzefüßen', das Broadwood Pianoforte für den Hausgebrauch, der ,ausgestopfte Otter in der Vitrine', das ,Paar Stierhörner und Fossilien', die Schiffsmodelle hinter Glas". Und im Anschluß erfahren wir: "Die Woolfs kauften ein paar Möbel, etwas Besteck, eine Menge Gartensachen." Das ist so erhellend wie die Briefstelle aus einem Brief von Marx an Engels, wo es heißt: "In London hat es geregnet."
Möglicherweise ist die Biographin in ihrem Detailfanatismus aber nicht nur dem Wunsch, die 1000-Seiten-Marke zu erreichen, sondern auch ihrem Gegenstand erlegen und verfährt nun mimetisch, wenn sie die Biographie auf die gleiche Weise mit Dingen vollstopft, wie Virginia Woolf in einigen ihrer fiktionalen Texte "das viktorianische Leben mit Dingen vollgestopft" hat.
Lees Biographie droht zu etwas zu werden, was den Schränken und Kredenzen in Virginias Woolfs Londoner Elternhaus in Hyde Park Gate gleicht: "Alte Briefe füllten Dutzende schwarze Wehen der Vergangenheit. Es gab dort Kästen mit schwerem Familiensilber. Es gab Massen von Porzellan und Glas" (Virginia Woolf). Daß aus dem überbordenden Werk kein Schinken, sondern eine bedeutende Biographie geworden ist, verdankt sich der unpathetischen Sprache und Darstellungsweise Hermione Lees. Wenn Lee über Woolfs Erzählweise im Roman "The Years" sagt: "Es gibt keine Helden, keine tragische Geschichte, keine auf einen Höhepunkt zulaufende Handlung, keine Auflösung", dann trifft dies in gewisser Weise auf ihr eigenes biographisches Verfahren zu, was auf methodische Disziplin schließen läßt.
Schließlich wäre die Lebens- und Werkgeschichte Virginia Woolfs ohne weiteres als ein heroisches Frauen- und Künstlerdrama zu inszenieren gewesen, eingespannt in die Pole Feminismus und Konservativismus, Narzißmus und Selbstverleugnung, Genie und Wahnsinn, Exzentrik und Jungfernhaftigkeit, Weltfremdheit und Engagement, Bloomsbury-Boheme und verstockte Innerlichkeit, frühe Mißbrauchserfahrung, "Sapphismus" (Virginia Woolfs Begriff für die lesbische Neigung) und bürgerliches Eheleben. All das versagt sich Lee zugunsten einer vom recherchierten Material her wohl ausladenden, aber immer gezügelten, ja geradezu puritanischen Darstellungsweise, die zwar die künstlerische Arbeit würdigt, aber jedem Künstlermythos mißtraut und zugleich dem Leser ebenfalls eine überaus ehrliche, durch keine billige Freude gemilderte Leseleistung abverlangt.
Wohl geht Lee chronologisch vor, bis hin zu einer Tag-für-Tag-Darstellung, doch bricht sie die Chronologie zugunsten thematischer Schwerpunkte auf, was den Vorteil hat, daß der zwar interessierte, aber nicht übermotivierte Leser sich über einzelnes kapitelweise informieren kann: über "Erste Lieben", "Mißbrauch", "Die Hogarth Press", "Krieg" oder "Wahnsinn". Speziell letzterer bleibt freilich unaufgeklärt. Warum Virginia Woolf am 28. März 1941 ihre Jacke mit einem Stein beschwert und sich in der Nähe von "Monk's House" im Fluß Ouse ertränkt hat, wissen wir nicht. Wir wissen allenfalls, warum sie es bis dahin nicht getan hat. Weil sie den "Stimmen", die sie in ihrem Kopf hörte, durch ihr Schreiben, durch ihre eigene Stimme Bedeutung geben, sie übertönen und entmächtigen konnte. "Ich nehme an", notiert sie 1928 über das Schreiben von ,To the Lighthouse', "daß ich für mich selbst getan habe, was die Psychoanalytiker für ihre Patienten tun."
Die Therapie war auf Dauer nicht wirksam. Die Stimmen wurden wieder lauter, und es wirkt wie eine schlechte Pointe, daß auch noch die bellende Radiostimme Adolf Hitlers hinzukam. "Our master's Voice" nannte Virginia Woolf sie scherzhaft. Über dem Garten von "Monk's House" waren noch kurz zuvor deutsche Bomber gekreist, und die Proustsche Lösung, von der sie selbst immer noch träumte - "Machen wir das Radio aus, und lauschen wir der Vergangenheit", heißt es in "Three Guineas" -, war ihr am Ende aus doppelten Gründen versagt.
HANS-ULRICH TREICHEL
Hermione Lee: "Virginia Woolf. Ein Leben". Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 1152 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hermione Lees Biographie über Virginia Woolf
Man stelle sich vor, ein Schriftsteller ist empfindsam und erinnerungssüchtig, wie beispielsweise Marcel Proust, hat seine Kindheit aber nicht in Paris und Combray, sondern in einem Reihenhaus in Bielefeld und für jährlich einige Wochen bei der Großmutter in der Nähe von Bochum verbracht. Würde aus ihm ein Proust werden können? Könnte er ein Schriftsteller sein? Virginia Woolf, die ebenfalls eine Autorin der Erinnerung ist, hätte diese Frage mit einem "Nein" beantwortet. Glücklicherweise stammt sie nicht aus Bielefeld, mußte ihre Ferien auch nicht in der Nähe von Bochum verbringen. Oder, mit ihren Worten: "Sich vorzustellen, ich könnte nur an Surrey oder Sussex oder die Isle of Wight denken, wenn ich an meine Kindheit zurückdenke!" Nicht auszudenken. Doch Virginia Woolf hatte Glück, und was für Proust der Garten in Combary war, das war für sie das Haus in St. Yves in Cornwall, in dem sie die Sommer ihrer Kindheit verbrachte und welchem sie anscheinend eine unerschöpfliche Erinnerungsfähigkeit und das verdankt, was die Psychoanalyse das Urvertrauen nennt. In diesem Fall ist es ein erinnerungsfrohes Urvertrauen in die eigene Vergangenheit: "Ich könnte Seiten mit einer Erinnerung nach der anderen füllen, welche die Sommer in St. Yves zum günstigsten Auftakt für ein künftiges Leben machten."
Nun ist eine glückliche Kindheit, an die man sich gern erinnert, kein Garant für ein glückliches und künstlerisch produktives Leben. Eine unglückliche Kindheit auch nicht. Wir wissen, daß die meisten Autoren ihre Produktivität einem, mit Freud zu sprechen, gesunden "Mittelelend" verdanken. Dieses zu erhalten ist nicht immer einfach, wobei die Gefährdung für die meisten eher darin besteht, daß das Pendel zu weit in Richtung Unglück und nicht in Richtung Glück ausschlägt. Auch der Schriftstellerin Virginia Woolf ist es - ihr umfangreiches Werk bestätigt dies - trotz vieler Krisen und Zusammenbrüche über Jahre gelungen, diese Balance eines mittleren Elends zu halten, wenn auch am Ende die psychische Verstörung siegte und sie in den Selbstmord trieb.
Es ist nicht das geringste Verdienst der Virginia-Woolf-Biographie von Hermione Lee, Literaturprofessorin in York, daß sie dieser Balance zu entsprechen sucht, weder ein Heldinnenepos noch eine Krankengeschichte schreibt, sondern eine Strategie der Normalisierung und Entdramatisierung verfolgt. So kann sie denn auch der Zentralfrage ihrer biographischen Ermittlung "Was war los mit ihr?" mit der lakonischen Antwort begegnen: "Virginia Woolf war eine normale Frau, die eine Krankheit hatte."
Es fragt sich, ob man über eine normale Frau, die eine Krankheit hatte, eine Biographie von solchem Umfang schreiben muß: 1152 Seiten. Abgesehen von der angelsächsischen Neigung zur Monumentalbiographie, verdankt sich das Volumen des Buches der akribischen Rekonstruktion und Dokumentation der Lebensverhältnisse Virginia Woolfs. Seien es die ihrer Kindheit, die sie als 1882 in London geborene Tochter des Gelehrten Sir Leslie Stephan und seiner Frau Julia Duckworth in einem anregenden, aber auch neurosefördernden viktorianischen Milieu verbrachte, seien es die ihrer Ehe mit Leonard Woolf, den sie 1912 heiratete, mit dem sie die Hogarth Press gründete und zu einer der zentralen Figuren des Bloomsbury-Kreises wurde.
All das lohnt, erzählt zu werden, es ist auch mehrmals erzählt worden, allerdings nicht unter so gründlicher Sichtung von Archivmaterial. Aus Briefen und nachgelassenen Papieren entnimmt Lee genaue Angaben über die Lebenshaltungskosten und die finanzielle Situation der Woolfs: "Die jährlichen Ausgaben des Ehepaars Woolf beliefen sich 1914 auf 443 Pfund." Auf den Penny genau: "Virginia besaß 9013 Pfund 16 Shilling 9 Pence an ererbtem Kapital." Der Leser wird detailliert über haustechnische Angelegenheiten - den Einbau einer neuen "Badewassermaschine" im Februar 1943 beispielsweise - und die Probleme mit dem Küchenpersonal informiert: So wird der Köchin Nelly am 27. März 1934 gekündigt, diese nimmt aus Rache "alle Kochbücher mit", und an ihrer Stelle wird Mabel eingestellt, "die leicht vor den Kopf zu stoßen und ein wenig kämpferischer Charakter war" und darum den Spitznamen "die Kuh" bekam.
Auch über den Wechsel der Wohnsitze und die damit verbundenen Umstände erfahren wir mehr, als uns lieb ist. Anfang 1924 lassen sich die Woolfs wieder in London nieder. Lee scheut sich nicht, die förmliche Umzugsmitteilung zu zitieren: "Mr & Mrs Leonard Woolf / künftig / Tavistock Square 52, / London / W.C.1. / Telephon: Museum 2621. / Ab Donnerstag, 13. März 1924." Mit dem Umzug nach London gaben die Woolfs "Monk's House" in dem Dorf Rodmell in Essex, das sie einige Jahre vorher (1919) gekauft hatten, nicht auf, sondern sie behielten das Haus als Landsitz. Daß ein Umzug mit dem Verkauf und der Neuanschaffung von Möbeln und Hausrat einhergeht, läßt sich denken. Hermione Lee teilt uns Einzelheiten mit, die nur Woolf-Fanatiker wissen möchten. Dabei zählt sie nicht nur die Möblierung und den Hausrat des Hauses in Rodmell auf, sondern auch die zum Verkauf anstehenden Möbel und Gegenstände eines aufgegebenen Hauses in Asheham, so wie sie Leonard Woolf in einem Verkaufskatalog aufgelistet hat: "die Eichen- und Mahagonischränke, die Binsenstühle, die messingen Bettgestelle, die lackierten Wannen für Sitz- und Fußbäder, die gehäkelten Sesselschoner und damastenen Servietten, die kupferne Wärmeflasche und die Kupferkessel, das ,Sherton-Sideboard mit drehbarer Cellarette (Flaschenschränkchen) auf massiven Bronzefüßen', das Broadwood Pianoforte für den Hausgebrauch, der ,ausgestopfte Otter in der Vitrine', das ,Paar Stierhörner und Fossilien', die Schiffsmodelle hinter Glas". Und im Anschluß erfahren wir: "Die Woolfs kauften ein paar Möbel, etwas Besteck, eine Menge Gartensachen." Das ist so erhellend wie die Briefstelle aus einem Brief von Marx an Engels, wo es heißt: "In London hat es geregnet."
Möglicherweise ist die Biographin in ihrem Detailfanatismus aber nicht nur dem Wunsch, die 1000-Seiten-Marke zu erreichen, sondern auch ihrem Gegenstand erlegen und verfährt nun mimetisch, wenn sie die Biographie auf die gleiche Weise mit Dingen vollstopft, wie Virginia Woolf in einigen ihrer fiktionalen Texte "das viktorianische Leben mit Dingen vollgestopft" hat.
Lees Biographie droht zu etwas zu werden, was den Schränken und Kredenzen in Virginias Woolfs Londoner Elternhaus in Hyde Park Gate gleicht: "Alte Briefe füllten Dutzende schwarze Wehen der Vergangenheit. Es gab dort Kästen mit schwerem Familiensilber. Es gab Massen von Porzellan und Glas" (Virginia Woolf). Daß aus dem überbordenden Werk kein Schinken, sondern eine bedeutende Biographie geworden ist, verdankt sich der unpathetischen Sprache und Darstellungsweise Hermione Lees. Wenn Lee über Woolfs Erzählweise im Roman "The Years" sagt: "Es gibt keine Helden, keine tragische Geschichte, keine auf einen Höhepunkt zulaufende Handlung, keine Auflösung", dann trifft dies in gewisser Weise auf ihr eigenes biographisches Verfahren zu, was auf methodische Disziplin schließen läßt.
Schließlich wäre die Lebens- und Werkgeschichte Virginia Woolfs ohne weiteres als ein heroisches Frauen- und Künstlerdrama zu inszenieren gewesen, eingespannt in die Pole Feminismus und Konservativismus, Narzißmus und Selbstverleugnung, Genie und Wahnsinn, Exzentrik und Jungfernhaftigkeit, Weltfremdheit und Engagement, Bloomsbury-Boheme und verstockte Innerlichkeit, frühe Mißbrauchserfahrung, "Sapphismus" (Virginia Woolfs Begriff für die lesbische Neigung) und bürgerliches Eheleben. All das versagt sich Lee zugunsten einer vom recherchierten Material her wohl ausladenden, aber immer gezügelten, ja geradezu puritanischen Darstellungsweise, die zwar die künstlerische Arbeit würdigt, aber jedem Künstlermythos mißtraut und zugleich dem Leser ebenfalls eine überaus ehrliche, durch keine billige Freude gemilderte Leseleistung abverlangt.
Wohl geht Lee chronologisch vor, bis hin zu einer Tag-für-Tag-Darstellung, doch bricht sie die Chronologie zugunsten thematischer Schwerpunkte auf, was den Vorteil hat, daß der zwar interessierte, aber nicht übermotivierte Leser sich über einzelnes kapitelweise informieren kann: über "Erste Lieben", "Mißbrauch", "Die Hogarth Press", "Krieg" oder "Wahnsinn". Speziell letzterer bleibt freilich unaufgeklärt. Warum Virginia Woolf am 28. März 1941 ihre Jacke mit einem Stein beschwert und sich in der Nähe von "Monk's House" im Fluß Ouse ertränkt hat, wissen wir nicht. Wir wissen allenfalls, warum sie es bis dahin nicht getan hat. Weil sie den "Stimmen", die sie in ihrem Kopf hörte, durch ihr Schreiben, durch ihre eigene Stimme Bedeutung geben, sie übertönen und entmächtigen konnte. "Ich nehme an", notiert sie 1928 über das Schreiben von ,To the Lighthouse', "daß ich für mich selbst getan habe, was die Psychoanalytiker für ihre Patienten tun."
Die Therapie war auf Dauer nicht wirksam. Die Stimmen wurden wieder lauter, und es wirkt wie eine schlechte Pointe, daß auch noch die bellende Radiostimme Adolf Hitlers hinzukam. "Our master's Voice" nannte Virginia Woolf sie scherzhaft. Über dem Garten von "Monk's House" waren noch kurz zuvor deutsche Bomber gekreist, und die Proustsche Lösung, von der sie selbst immer noch träumte - "Machen wir das Radio aus, und lauschen wir der Vergangenheit", heißt es in "Three Guineas" -, war ihr am Ende aus doppelten Gründen versagt.
HANS-ULRICH TREICHEL
Hermione Lee: "Virginia Woolf. Ein Leben". Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999. 1152 S., geb., 68,- DM.
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