Peggy Vallaincourt fühlt sich früh zu Frauen hingezogen, Lee Fleming ist der schwule Spross einer konservativen WASP-Familie. Sie besucht das Frauencollege, an dem er als Lyrikdozent lehrt, und zu beider Überraschung fangen sie etwas miteinander an. Das Ergebnis sind Heirat, ein Sohn, Byrdie, und eine Tochter, Mickie. Nach zehn Jahren ist die Ehe gescheitert an Sprachlosigkeit und den verklemmten frühen Sechzigern.
Peggy brennt durch und will beide Kinder mitnehmen, am Ende hat sie aber nur Mickie dabei, für die sie sich die Papiere eines toten schwarzen Mädchens erschwindelt. Fortan gilt die hellblonde Tochter als schwarz - falscher Ausweis genügt. Und als "Schwarze" leben Mutter und Tochter nun unerkannt in dem kleinen Ort in Virginia, wo sie sich in einem leerstehenden Haus Nachfragen nach ihrem Verbleib entziehen. Und lernen eine ganz neue Welt kennen ...
Nell Zink nimmt in dieser temporeichen dunklen Komödie scharfzüngig die fundamentalen Widersprüche in der amerikanischen Gesellschaft aufs Korn: bei Rasse, Klassenzugehörigkeit, Geschlecht und Sexualität. Etwa mit der Frage, wie leicht eine Welt gewillt ist, jemanden für schwarz zu halten - entgegen jedem äußerlichen Anschein.
Es bereitet höchstes Vergnügen, diesem Feuerwerk von einem Buch beim Abbrennen zuzusehen. Es ist aber auch bewegend, nachdenklich und skeptisch und damit unverkennbar ein Werk der janusköpfigen Nell Zink.
Peggy brennt durch und will beide Kinder mitnehmen, am Ende hat sie aber nur Mickie dabei, für die sie sich die Papiere eines toten schwarzen Mädchens erschwindelt. Fortan gilt die hellblonde Tochter als schwarz - falscher Ausweis genügt. Und als "Schwarze" leben Mutter und Tochter nun unerkannt in dem kleinen Ort in Virginia, wo sie sich in einem leerstehenden Haus Nachfragen nach ihrem Verbleib entziehen. Und lernen eine ganz neue Welt kennen ...
Nell Zink nimmt in dieser temporeichen dunklen Komödie scharfzüngig die fundamentalen Widersprüche in der amerikanischen Gesellschaft aufs Korn: bei Rasse, Klassenzugehörigkeit, Geschlecht und Sexualität. Etwa mit der Frage, wie leicht eine Welt gewillt ist, jemanden für schwarz zu halten - entgegen jedem äußerlichen Anschein.
Es bereitet höchstes Vergnügen, diesem Feuerwerk von einem Buch beim Abbrennen zuzusehen. Es ist aber auch bewegend, nachdenklich und skeptisch und damit unverkennbar ein Werk der janusköpfigen Nell Zink.
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Großartig amüsiert hat sich Rezensentin Maike Albath mit diesem Roman um eine androgyne jugen Frau, die in den Sechziger, obwohl lesbisch, von einem schwulen Kollegen geschwängert wird, zwei Kinder von ihm bekommt, dann aber mit einem der beiden Kinder abhaut. Mithilfe einer gestohlenen Geburtsurkunde tauchen die beiden unter, was einfach ist: die Urkunde weist die beiden blonden Geschöpfe nämlich als schwarz aus. Hier wird so ziemlich jede "heilige Kuh" der amerikanischen Gender- und Identitätsdebatten genüsslich geschlachtet, freut sich Albath. Und das in rasantem Tempo! Lernen kann man auch noch was dabei, versichert sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.05.2019Bestseller mit Ansage
Mitten in Brandenburg lebt die amerikanische Autorin Nell Zink,
deren Roman „Virginia“ jetzt auf Deutsch erscheint. Ein Besuch
VON HANS-PETER KUNISCH
Im vorderen linken Eck der Ein-Zimmer-Wohnung steht ein kleiner, weißer Cafétisch. Ob das ihr Schreibtisch ist? „Nein“, sagt Nell Zink und deutet auf die etwas breitere Matratze im linken, hinteren Eck. „Da ist der Schreibtisch. Mit Laptop.“ Der liegt, halb unter einer Decke, auf dem Boden.
Nell Zink, 1964 in Corona, Kalifornien, geboren, im Alter von sieben Jahren mit den Eltern ins ländliche Virginia gezogen, hat in Williamsburg, New York und Tel Aviv gelebt, hat Philosophie studiert, jahrelang als Maurerin, als Sekretärin bei Colgate und als technische Zeichnerin gearbeitet, hat ein Animal Fanzine herausgegeben, in Tübingen spät Medienwissenschaft studiert und als Übersetzerin gearbeitet. Nach dreizehn Jahren dort überlegte sie, ob es „auf immer Schwabenländle“ sein müsse: „Stuttgarter wollen nach Köln, Tübinger nach Berlin. Aber ich wollte in keine große Stadt und ich wollte billig leben. Damals hatte ich nichts.“
Und so wohnt Nell Zink, die für ihren zweiten Roman „Virginia“, der eben auf Deutsch erschienen ist, in New York 425 000 Dollar Vorschuss erhalten hat, seit 2013 „in der ostdeutschen Pampa“, in der Kleinstadt Bad Belzig im Naturpark Hoher Fläming. Zugtechnisch zwischen Dessau und Berlin ganz gut gelegen, was auch die Firma Immobilien Steinhardt merkt. In deren Schaufenster sind fast alle Anzeigen mit „reserviert“ und „verkauft“ markiert. „Es zieht an“, sagt Zink. „Anfangs war ich, wenn ich aus Berlin kam, die Einzige, die in Belzig noch im Zug saß. Jetzt sind zu jeder Uhrzeit Leute dabei. Aber keine Reichen. Es gibt keine großen Seen.“
Viele Freunde hätten damals den Kopf geschüttelt. „Geh nicht in den Osten! Du bist verrückt! Dich verhauen sie dort!“ Sie lacht. „Aber hier ist das etwas anders. Hier gab es vor mir das ZEGG.“ Das „Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung“, ursprünglich inspiriert von den Ideen des umstrittenen Psychologen Dieter Duhm, das schon kurz nach der Wende am Rand von Belzig alternative Lebensmodelle erforschte. Über hundert Menschen jeden Alters leben dort. Heute ist es ein gemeinnütziges Bildungszentrum und Probierfläche ökologischen Lebens, es gibt Kurse zu „Permakultur Design“ und „Leben mit Bienen“, aber in der „Liebesakademie“ bleibt die „Kunst der Berührung“ wichtig. Es gibt eine „Trainingsgruppe mehrere lieben“, parallel dazu den Kurs „Stopp – Mir reicht’s jetzt!“
Beides passt zu Zinks Roman „Virginia“, der im Original „Mislaid“ heißt und 2015 erschien. Darin entdeckt Peggy, eine Pfarrerstochter aus Virginia, 1966 im abgelegenen Stillwater College, dass sie Lesbe ist, aber als sie mit Lee Fleming, dem schwulen Renommier-Poeten des College, eine Kanufahrt über den See zum Erbsitz macht, auf den ihn die Familie abgeschoben hat, und er seine Hände auf ihren Hintern legt, weil er sich eine Bootsfahrt nicht anders vorstellen kann, funkt es – bei beiden. Sie heiraten, kriegen zwei Kinder. Doch Lee ist nach einer kurzen Phase der Gier auf Peggy wieder schwul, Peggy bleibt Mutter. Nach zehn Jahren hat sie genug, nimmt die Tochter Mireille, verschwindet in der Anonymität des südlichen Virginia der Sechzigerjahre, sammelt Regenwürmer und macht Drogengeschäfte. Lee bleibt mit dem älteren Sohn allein.
Nicht nur, weil es in den USA keine Meldepflicht gibt, kann Peggy untertauchen. Sie schafft ein ungewöhnliches passing, wechselt die Hautfarbe. Statt aber zu versuchen, als weiß zu gelten, was der übliche Vorgang wäre, werden ihre Tochter und sie schwarz. Was ihnen in den Siebzigerjahren der rassistische Südstaat Virginia erlaubt: Wer dickere Lippen und gekräuseltes Haar hat, ist dort nach der „Ein-Blutstropfen-Regelung“, klar zuzuordnen. Peggy besorgt sich die Geburtsurkunde eines verstorbenen schwarzen Mädchens, und aus Mireille Vaillancourt wird Karen Brown, aus Peggy deren Mutter Meg.
Eine verrückte Geschichte, die einer Bekannten von Zink so ähnlich geschehen ist, allerdings ohne das passing, das bei Erscheinen des Originals auch als unglaubwürdig galt. Bis der Fall der US-Kulturwissenschaftlerin und Bürgerrechtlerin Rachel Dolezal auftauchte, deren Hippie-Eltern tschechisch und deutsch waren, aber schwarze Kinder adoptiert hatten, was ihre eigene Tochter Rachel wohl dazu brachte, sich irgendwie „trans-schwarz“ zu fühlen. Die Eltern outeten sie als weiß, der Skandal war da.
Das sei ein „absoluter Glücksfall“ für sie gewesen, sagt Nell Zink: „Plötzlich hatte ich keine Legitimationsprobleme mehr.“ Selber wechselt sie nicht die Geschlechter und Hautfarben, eher Gesellschaften und Zeiten. In einer Art altenglischem Gärtnerinnendress, Bluejeans mit Schlag und breitkrempigem Knautschhut über langen, grau-braunen Haaren, sitzt Zink mit hochgezogenen Beinen auf einer der Liegen vor dem Belziger „Haus am See“. Der ist er etwa ein Viertel so groß wie der Berliner Stadttümpel Weißensee, samt konkurrierender Fontäne. Getrunken wird Radler mit regionalem Waldmeister.
Kritiker schreiben gern, dass es Zink in „Virginia“ um die Auflösung der Geschlechterkategorien gehe. Was, sagt sie, „ja irgendwie stimmt“. Aber eigentlich sei dieses Thema für sie ein Motor, um den politischen Hintergrund in Bewegung zu bringen: „Ich wollte, dass Amerikaner heute lesen, woher der Rassismus des Südens kommt.“ Das Klima war noch anders zu der Zeit, in der der Roman spielt. Peggys Pfarrer-Vater etwa bildet sich etwas darauf ein, aus einer Familie zu stammen, die dem Mörder des Sklavenfreunds Abraham Lincoln Unterschlupf gewährte. „Die berühmte Scheune, in der er untergekommen sein soll, war in der Gegend, in der ich aufwuchs“, erzählt Nell Zink.
Politisch zu denken liegt in Belzig nahe. Auf dem Weg vom Bahnhof zu Zinks Haus leuchtet ein Europawahl-Plakat der NPD. Der Kandidat bleckt die Zähne über dem Spruch „Sozial geht nur national“. Angewidert schüttelt Zink den Kopf. „Aber wissen Sie, wer so ähnlich formuliert: Jens Spahn. In der Superillu hat er im Interview gesagt: ‚Der Sozialstaat funktioniert nur innerhalb eines räumlich begrenzten Nationalstaats.‘ Ich habe dem Verfassungsschutz geschrieben, der mir freundlich für den Hinweis gedankt hat. Ich weiß allerdings nicht, ob es eine automatische Antwort war.“
Zink bewegt sich an der Grenze zwischen Ironie und Ernst, auch in ihren Büchern: „Wenn es nach mir ginge, könnte ich nur politische Sachen schreiben, aber das würden zu wenige lesen.“ In ihrem ersten Roman „Der Mauerläufer“ („The Wallcreeper“, 2014), der aus einem Briefwechsel mit dem literarischen Weltstar Jonathan Franzen entstand (wie Zink ein Vogelliebhaber), wählte die damals knapp fünfzigjährige Debütantin eine Ästhetik, die ihr überhaupt nicht passt: „Gleich auf den ersten Seiten ein Autounfall, der Verlust eines Babys und dann dieser drastische Sex!“ Ein Schreiben des Schocks. Es sei darum gegangen, sagt Zink, „Franzen zu zeigen, dass mir klar ist, was der Markt will. Ich habe die ersten dreißig Seiten in vier Tagen geschrieben und nie mehr angeschaut. Ich weiß, was ich tue. Aber ich selbst lese lieber Adalbert Stifter und Robert Walser.“
Und je mehr Erfolg sie habe, desto eher könne sie schreiben, was sie interessiere. In ihrem neuen Roman „Doxology“, der in den USA Ende August erscheint, geht es unter anderem um einen Punk-Musiker und seine religiöse Herkunftsfamilie, die nicht mit ihm klarkommt: „Mich interessiert die Weitergabe von Werten zwischen den Generationen.“ Wie schon in „Virginia“, dem Roman, der jetzt von Michael Kellner stilsicher übersetzt worden ist. Byrdie, der Sohn des schwulen Außenseiterdichters aus großer Familie, wird ein stinknormaler Musterschüler, der sich für Mädchen und Mainstream interessiert. Am Ende sind alle absurd glücklich.
Eine brillante, steile Satire. Die Welt setzt ohnehin gern einen drauf. Nicht nur im Fall Rachel Dolezal. Auf dem Gelände des ZEGG, durch das wir heute friedlich spazieren, wurden einst HJ- und BdM-Führer ausgebildet. Später, bis 1988, DDR-Geheimagenten: „Man sagt hier, es waren gerade die, die eine erotische Schulung bekamen.“
Parallel zur „Trainingsgruppe
mehrere lieben“ gibt es den Kurs
„Stopp – Mir reicht’s jetzt“
„Ich wollte, dass Amerikaner
heute lesen, woher der Rassismus
des Südens kommt.“
„Ich weiß, was ich tue. Aber ich
selbst lese lieber Adalbert Stifter
und Robert Walser.“
Ihre Freunde haben sie vor dem Osten gewarnt. Jetzt wohnt Nell Zink schon einige Jahre in Bad Belzig.
Foto:david levenson / getty
Nell Zink: Virginia.
Roman. Aus dem Englischen von Michael Kellner.
Rowohlt Verlag,
Reinbek 2019.
318 Seiten. 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mitten in Brandenburg lebt die amerikanische Autorin Nell Zink,
deren Roman „Virginia“ jetzt auf Deutsch erscheint. Ein Besuch
VON HANS-PETER KUNISCH
Im vorderen linken Eck der Ein-Zimmer-Wohnung steht ein kleiner, weißer Cafétisch. Ob das ihr Schreibtisch ist? „Nein“, sagt Nell Zink und deutet auf die etwas breitere Matratze im linken, hinteren Eck. „Da ist der Schreibtisch. Mit Laptop.“ Der liegt, halb unter einer Decke, auf dem Boden.
Nell Zink, 1964 in Corona, Kalifornien, geboren, im Alter von sieben Jahren mit den Eltern ins ländliche Virginia gezogen, hat in Williamsburg, New York und Tel Aviv gelebt, hat Philosophie studiert, jahrelang als Maurerin, als Sekretärin bei Colgate und als technische Zeichnerin gearbeitet, hat ein Animal Fanzine herausgegeben, in Tübingen spät Medienwissenschaft studiert und als Übersetzerin gearbeitet. Nach dreizehn Jahren dort überlegte sie, ob es „auf immer Schwabenländle“ sein müsse: „Stuttgarter wollen nach Köln, Tübinger nach Berlin. Aber ich wollte in keine große Stadt und ich wollte billig leben. Damals hatte ich nichts.“
Und so wohnt Nell Zink, die für ihren zweiten Roman „Virginia“, der eben auf Deutsch erschienen ist, in New York 425 000 Dollar Vorschuss erhalten hat, seit 2013 „in der ostdeutschen Pampa“, in der Kleinstadt Bad Belzig im Naturpark Hoher Fläming. Zugtechnisch zwischen Dessau und Berlin ganz gut gelegen, was auch die Firma Immobilien Steinhardt merkt. In deren Schaufenster sind fast alle Anzeigen mit „reserviert“ und „verkauft“ markiert. „Es zieht an“, sagt Zink. „Anfangs war ich, wenn ich aus Berlin kam, die Einzige, die in Belzig noch im Zug saß. Jetzt sind zu jeder Uhrzeit Leute dabei. Aber keine Reichen. Es gibt keine großen Seen.“
Viele Freunde hätten damals den Kopf geschüttelt. „Geh nicht in den Osten! Du bist verrückt! Dich verhauen sie dort!“ Sie lacht. „Aber hier ist das etwas anders. Hier gab es vor mir das ZEGG.“ Das „Zentrum für Experimentelle Gesellschaftsgestaltung“, ursprünglich inspiriert von den Ideen des umstrittenen Psychologen Dieter Duhm, das schon kurz nach der Wende am Rand von Belzig alternative Lebensmodelle erforschte. Über hundert Menschen jeden Alters leben dort. Heute ist es ein gemeinnütziges Bildungszentrum und Probierfläche ökologischen Lebens, es gibt Kurse zu „Permakultur Design“ und „Leben mit Bienen“, aber in der „Liebesakademie“ bleibt die „Kunst der Berührung“ wichtig. Es gibt eine „Trainingsgruppe mehrere lieben“, parallel dazu den Kurs „Stopp – Mir reicht’s jetzt!“
Beides passt zu Zinks Roman „Virginia“, der im Original „Mislaid“ heißt und 2015 erschien. Darin entdeckt Peggy, eine Pfarrerstochter aus Virginia, 1966 im abgelegenen Stillwater College, dass sie Lesbe ist, aber als sie mit Lee Fleming, dem schwulen Renommier-Poeten des College, eine Kanufahrt über den See zum Erbsitz macht, auf den ihn die Familie abgeschoben hat, und er seine Hände auf ihren Hintern legt, weil er sich eine Bootsfahrt nicht anders vorstellen kann, funkt es – bei beiden. Sie heiraten, kriegen zwei Kinder. Doch Lee ist nach einer kurzen Phase der Gier auf Peggy wieder schwul, Peggy bleibt Mutter. Nach zehn Jahren hat sie genug, nimmt die Tochter Mireille, verschwindet in der Anonymität des südlichen Virginia der Sechzigerjahre, sammelt Regenwürmer und macht Drogengeschäfte. Lee bleibt mit dem älteren Sohn allein.
Nicht nur, weil es in den USA keine Meldepflicht gibt, kann Peggy untertauchen. Sie schafft ein ungewöhnliches passing, wechselt die Hautfarbe. Statt aber zu versuchen, als weiß zu gelten, was der übliche Vorgang wäre, werden ihre Tochter und sie schwarz. Was ihnen in den Siebzigerjahren der rassistische Südstaat Virginia erlaubt: Wer dickere Lippen und gekräuseltes Haar hat, ist dort nach der „Ein-Blutstropfen-Regelung“, klar zuzuordnen. Peggy besorgt sich die Geburtsurkunde eines verstorbenen schwarzen Mädchens, und aus Mireille Vaillancourt wird Karen Brown, aus Peggy deren Mutter Meg.
Eine verrückte Geschichte, die einer Bekannten von Zink so ähnlich geschehen ist, allerdings ohne das passing, das bei Erscheinen des Originals auch als unglaubwürdig galt. Bis der Fall der US-Kulturwissenschaftlerin und Bürgerrechtlerin Rachel Dolezal auftauchte, deren Hippie-Eltern tschechisch und deutsch waren, aber schwarze Kinder adoptiert hatten, was ihre eigene Tochter Rachel wohl dazu brachte, sich irgendwie „trans-schwarz“ zu fühlen. Die Eltern outeten sie als weiß, der Skandal war da.
Das sei ein „absoluter Glücksfall“ für sie gewesen, sagt Nell Zink: „Plötzlich hatte ich keine Legitimationsprobleme mehr.“ Selber wechselt sie nicht die Geschlechter und Hautfarben, eher Gesellschaften und Zeiten. In einer Art altenglischem Gärtnerinnendress, Bluejeans mit Schlag und breitkrempigem Knautschhut über langen, grau-braunen Haaren, sitzt Zink mit hochgezogenen Beinen auf einer der Liegen vor dem Belziger „Haus am See“. Der ist er etwa ein Viertel so groß wie der Berliner Stadttümpel Weißensee, samt konkurrierender Fontäne. Getrunken wird Radler mit regionalem Waldmeister.
Kritiker schreiben gern, dass es Zink in „Virginia“ um die Auflösung der Geschlechterkategorien gehe. Was, sagt sie, „ja irgendwie stimmt“. Aber eigentlich sei dieses Thema für sie ein Motor, um den politischen Hintergrund in Bewegung zu bringen: „Ich wollte, dass Amerikaner heute lesen, woher der Rassismus des Südens kommt.“ Das Klima war noch anders zu der Zeit, in der der Roman spielt. Peggys Pfarrer-Vater etwa bildet sich etwas darauf ein, aus einer Familie zu stammen, die dem Mörder des Sklavenfreunds Abraham Lincoln Unterschlupf gewährte. „Die berühmte Scheune, in der er untergekommen sein soll, war in der Gegend, in der ich aufwuchs“, erzählt Nell Zink.
Politisch zu denken liegt in Belzig nahe. Auf dem Weg vom Bahnhof zu Zinks Haus leuchtet ein Europawahl-Plakat der NPD. Der Kandidat bleckt die Zähne über dem Spruch „Sozial geht nur national“. Angewidert schüttelt Zink den Kopf. „Aber wissen Sie, wer so ähnlich formuliert: Jens Spahn. In der Superillu hat er im Interview gesagt: ‚Der Sozialstaat funktioniert nur innerhalb eines räumlich begrenzten Nationalstaats.‘ Ich habe dem Verfassungsschutz geschrieben, der mir freundlich für den Hinweis gedankt hat. Ich weiß allerdings nicht, ob es eine automatische Antwort war.“
Zink bewegt sich an der Grenze zwischen Ironie und Ernst, auch in ihren Büchern: „Wenn es nach mir ginge, könnte ich nur politische Sachen schreiben, aber das würden zu wenige lesen.“ In ihrem ersten Roman „Der Mauerläufer“ („The Wallcreeper“, 2014), der aus einem Briefwechsel mit dem literarischen Weltstar Jonathan Franzen entstand (wie Zink ein Vogelliebhaber), wählte die damals knapp fünfzigjährige Debütantin eine Ästhetik, die ihr überhaupt nicht passt: „Gleich auf den ersten Seiten ein Autounfall, der Verlust eines Babys und dann dieser drastische Sex!“ Ein Schreiben des Schocks. Es sei darum gegangen, sagt Zink, „Franzen zu zeigen, dass mir klar ist, was der Markt will. Ich habe die ersten dreißig Seiten in vier Tagen geschrieben und nie mehr angeschaut. Ich weiß, was ich tue. Aber ich selbst lese lieber Adalbert Stifter und Robert Walser.“
Und je mehr Erfolg sie habe, desto eher könne sie schreiben, was sie interessiere. In ihrem neuen Roman „Doxology“, der in den USA Ende August erscheint, geht es unter anderem um einen Punk-Musiker und seine religiöse Herkunftsfamilie, die nicht mit ihm klarkommt: „Mich interessiert die Weitergabe von Werten zwischen den Generationen.“ Wie schon in „Virginia“, dem Roman, der jetzt von Michael Kellner stilsicher übersetzt worden ist. Byrdie, der Sohn des schwulen Außenseiterdichters aus großer Familie, wird ein stinknormaler Musterschüler, der sich für Mädchen und Mainstream interessiert. Am Ende sind alle absurd glücklich.
Eine brillante, steile Satire. Die Welt setzt ohnehin gern einen drauf. Nicht nur im Fall Rachel Dolezal. Auf dem Gelände des ZEGG, durch das wir heute friedlich spazieren, wurden einst HJ- und BdM-Führer ausgebildet. Später, bis 1988, DDR-Geheimagenten: „Man sagt hier, es waren gerade die, die eine erotische Schulung bekamen.“
Parallel zur „Trainingsgruppe
mehrere lieben“ gibt es den Kurs
„Stopp – Mir reicht’s jetzt“
„Ich wollte, dass Amerikaner
heute lesen, woher der Rassismus
des Südens kommt.“
„Ich weiß, was ich tue. Aber ich
selbst lese lieber Adalbert Stifter
und Robert Walser.“
Ihre Freunde haben sie vor dem Osten gewarnt. Jetzt wohnt Nell Zink schon einige Jahre in Bad Belzig.
Foto:david levenson / getty
Nell Zink: Virginia.
Roman. Aus dem Englischen von Michael Kellner.
Rowohlt Verlag,
Reinbek 2019.
318 Seiten. 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mit viel Humor und Wärme erzählt Nell Zink von einem Leben, in dem Hautfarben und Rollenmuster verschwimmen, in dem man weiß und schwarz, weiblich und männlich gleichzeitig sein kann, und sie tut das auf leichte, aber nicht banale Art und Weise: ein wunderbares Lesevergnügen. Irene Binal ORF 20190428