Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.1999Zug von Panik
Die Opposition im Jena der siebziger und achtziger Jahre
Udo Scheer: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. Ch. Links Verlag, Berlin 1999. 244 Seiten, 38,- Mark.
Zehn Jahre ist es erst her, dass die DDR in Agonie fiel - und schon scheinen Berichte über den Staat, der damals unterging, aus ferner Vergangenheit zu kommen. Dies nicht bloß, weil die Weltgeschichte seither unsere Aufmerksamkeit reichlich mit anderen Bedrückungen gefesselt hat. Vier Jahrzehnte lang haben wir die DDR als groben Klotz erlebt, dem kein Keil gewachsen schien. Nun tut unser Gefühl sich schwer damit, jene Macht und das zerfallende Kartenhaus derselben historischen Ära zuzuweisen.
Da Ordnung zu schaffen, hilft eine Neuerscheinung: Unter dem Titel "Vision und Wirklichkeit" berichtet Udo Scheer über die Opposition in Jena während der siebziger und achtziger Jahre. Der Autor, Jahrgang 1951, gehörte selber zu den aufmüpfigen Jungen, die in der thüringischen Universitätsstadt mehr Demokratie durchzusetzen versuchten. Er ist mit allen vertraut, die der Bewegung verbunden waren: mit den Schriftstellern Jürgen Fuchs und Lutz Rathenow, den Musikern Gerulf Pannach und Bettina Wegner; mit den Ostberliner Freunden und Parteigängern Wolf Biermann und Robert Havemann; und natürlich mit der Heerschar derer, die wir erst jetzt kennen lernen, da Scheer ihre Namen nennt.
Dreierlei Lehren vermittelt die Lektüre: Zum ersten lässt sie staunen über das Maß an Tapferkeit, das die Jenenser Jungbürger im Kampf um ihre Rechte aufbrachten. Dies um so mehr, als sie keineswegs furchtlose Superhelden waren, sondern normale Menschen, die Angst empfanden und Sehnsucht nach friedlichem Leben überwinden mussten, wollten sie ihrer Sache treu bleiben. Einer gefährlichen Sache, obwohl die Protestanten nicht auf blutigen Umsturz sannen, sondern nur ihre Meinung sagen wollten und dazu ihre angestammten Mittel nutzten: Schreiben, Malen, Musizieren. Doch wo die Obrigkeit jede Regung überwacht, wird unabhängiges Talent zur Waffe und der Waffenträger zum verfolgten Feind.
Man möchte es auch heute noch kaum glauben, dass eine Staatsgewalt solche Unmengen an Hirnschmalz, Personal und Steuergeldern verschwendete, nur um Denken und Dichten ihrer Bürger zu überwachen, jedes Wort dem verordneten Kanon einzupressen, jede Widerborstigkeit bös zu ahnden. Wer es noch nicht wusste, der lernt hier, dass diese DDR sich unmöglich so stark gefühlt haben kann, wie es von außen schien, dass sie vielmehr ohne unisono gebrüllte Zustimmung ihre Existenz gefährdet wähnte. Das ist die zweite Lehre aus Scheers Bericht: Er macht deutlich, dass ein Zug von Panik die DDR-Innenpolitik prägte. Einen der Jenenser Protestierer hat diese Beimischung umgebracht. Scheer wendet ein ganzes Kapitel auf den jungen Bürgerrechtler Matthias Domaschk und dessen bis heute nicht geklärten Gewalttod in der Untersuchungshaft.
Aus der zweiten resultiert die dritte Lehre: Der Staat DDR besaß in seiner - vermeintlichen - Glanzperiode nicht mehr Stärke als im Stadium seiner Auflösung. Nur gab es einstmals mächtige Diktatoren, die seine Fassade stützen halfen, Stalin, Chruschtschow, Breschnew. Als später Gorbatschow sich um den spezifischen Sowjetkram zu kümmern begann, blieben der DDR nur die eigenen politischen Ressourcen, ihre Ideologie, ihr Volk, ihre Wirtschaft. Vor allem mit Volk und Wirtschaft sah es trübe aus. Das Abenteuer DDR konnte gar nicht anders enden, als es geendet hat. Dafür liefern in der Geschichte der Jenenser Protestanten viele Zeugen ein starkes Bündel Beweise.
Die Aussagen der einstmals Beteiligten gehören zu den besten Partien des Buches, und nicht nur, weil sie dem zwangsläufig eher trockenen Geschichtsvortrag lebendige Akzente setzen. Es kommen da auch Meister der Sprache zu Wort, man denke nur an Wolf Biermann oder Jürgen Fuchs. Ihre Beiträge und vergleichbare Äußerungen anderer Wortkundiger lassen verschmerzen, dass der Autor Scheer sich vom DDR-amtlichen Deutsch seiner einstigen Verfolger ein bisschen hat anstecken lassen. Das beginnt bei partizipabhängigen Schachtelsätzen, die unsere Sprache schlecht verträgt, und endet bei inflationären Vokabeln wie "Orientierungsfindung" oder "Rückantwort". Nur ganz nebenbei sei auch erwähnt, dass der Scheer-Freund Hannes Schwenger die falsche Person nennt, wenn er der Schriftstellerin Elke Erb Nähe zur SEW (Sozialistische Einheitspartei Westberlins) ankreidet. Das von ihm gegebene Signalement weist unmissverständlich auf Elke Erbs Schwester Ute Erb.
SABINE BRANDT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Opposition im Jena der siebziger und achtziger Jahre
Udo Scheer: Vision und Wirklichkeit. Die Opposition in Jena in den siebziger und achtziger Jahren. Ch. Links Verlag, Berlin 1999. 244 Seiten, 38,- Mark.
Zehn Jahre ist es erst her, dass die DDR in Agonie fiel - und schon scheinen Berichte über den Staat, der damals unterging, aus ferner Vergangenheit zu kommen. Dies nicht bloß, weil die Weltgeschichte seither unsere Aufmerksamkeit reichlich mit anderen Bedrückungen gefesselt hat. Vier Jahrzehnte lang haben wir die DDR als groben Klotz erlebt, dem kein Keil gewachsen schien. Nun tut unser Gefühl sich schwer damit, jene Macht und das zerfallende Kartenhaus derselben historischen Ära zuzuweisen.
Da Ordnung zu schaffen, hilft eine Neuerscheinung: Unter dem Titel "Vision und Wirklichkeit" berichtet Udo Scheer über die Opposition in Jena während der siebziger und achtziger Jahre. Der Autor, Jahrgang 1951, gehörte selber zu den aufmüpfigen Jungen, die in der thüringischen Universitätsstadt mehr Demokratie durchzusetzen versuchten. Er ist mit allen vertraut, die der Bewegung verbunden waren: mit den Schriftstellern Jürgen Fuchs und Lutz Rathenow, den Musikern Gerulf Pannach und Bettina Wegner; mit den Ostberliner Freunden und Parteigängern Wolf Biermann und Robert Havemann; und natürlich mit der Heerschar derer, die wir erst jetzt kennen lernen, da Scheer ihre Namen nennt.
Dreierlei Lehren vermittelt die Lektüre: Zum ersten lässt sie staunen über das Maß an Tapferkeit, das die Jenenser Jungbürger im Kampf um ihre Rechte aufbrachten. Dies um so mehr, als sie keineswegs furchtlose Superhelden waren, sondern normale Menschen, die Angst empfanden und Sehnsucht nach friedlichem Leben überwinden mussten, wollten sie ihrer Sache treu bleiben. Einer gefährlichen Sache, obwohl die Protestanten nicht auf blutigen Umsturz sannen, sondern nur ihre Meinung sagen wollten und dazu ihre angestammten Mittel nutzten: Schreiben, Malen, Musizieren. Doch wo die Obrigkeit jede Regung überwacht, wird unabhängiges Talent zur Waffe und der Waffenträger zum verfolgten Feind.
Man möchte es auch heute noch kaum glauben, dass eine Staatsgewalt solche Unmengen an Hirnschmalz, Personal und Steuergeldern verschwendete, nur um Denken und Dichten ihrer Bürger zu überwachen, jedes Wort dem verordneten Kanon einzupressen, jede Widerborstigkeit bös zu ahnden. Wer es noch nicht wusste, der lernt hier, dass diese DDR sich unmöglich so stark gefühlt haben kann, wie es von außen schien, dass sie vielmehr ohne unisono gebrüllte Zustimmung ihre Existenz gefährdet wähnte. Das ist die zweite Lehre aus Scheers Bericht: Er macht deutlich, dass ein Zug von Panik die DDR-Innenpolitik prägte. Einen der Jenenser Protestierer hat diese Beimischung umgebracht. Scheer wendet ein ganzes Kapitel auf den jungen Bürgerrechtler Matthias Domaschk und dessen bis heute nicht geklärten Gewalttod in der Untersuchungshaft.
Aus der zweiten resultiert die dritte Lehre: Der Staat DDR besaß in seiner - vermeintlichen - Glanzperiode nicht mehr Stärke als im Stadium seiner Auflösung. Nur gab es einstmals mächtige Diktatoren, die seine Fassade stützen halfen, Stalin, Chruschtschow, Breschnew. Als später Gorbatschow sich um den spezifischen Sowjetkram zu kümmern begann, blieben der DDR nur die eigenen politischen Ressourcen, ihre Ideologie, ihr Volk, ihre Wirtschaft. Vor allem mit Volk und Wirtschaft sah es trübe aus. Das Abenteuer DDR konnte gar nicht anders enden, als es geendet hat. Dafür liefern in der Geschichte der Jenenser Protestanten viele Zeugen ein starkes Bündel Beweise.
Die Aussagen der einstmals Beteiligten gehören zu den besten Partien des Buches, und nicht nur, weil sie dem zwangsläufig eher trockenen Geschichtsvortrag lebendige Akzente setzen. Es kommen da auch Meister der Sprache zu Wort, man denke nur an Wolf Biermann oder Jürgen Fuchs. Ihre Beiträge und vergleichbare Äußerungen anderer Wortkundiger lassen verschmerzen, dass der Autor Scheer sich vom DDR-amtlichen Deutsch seiner einstigen Verfolger ein bisschen hat anstecken lassen. Das beginnt bei partizipabhängigen Schachtelsätzen, die unsere Sprache schlecht verträgt, und endet bei inflationären Vokabeln wie "Orientierungsfindung" oder "Rückantwort". Nur ganz nebenbei sei auch erwähnt, dass der Scheer-Freund Hannes Schwenger die falsche Person nennt, wenn er der Schriftstellerin Elke Erb Nähe zur SEW (Sozialistische Einheitspartei Westberlins) ankreidet. Das von ihm gegebene Signalement weist unmissverständlich auf Elke Erbs Schwester Ute Erb.
SABINE BRANDT
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Ein Zeugnis für Zivilcourage und Solidarität und zugleich ein Stück DDR-Alltagsgeschichtsschreibung. Bei Scheer läßt sich viel lernen über den"gewöhnlichen Sozialismus"; er überzeugt, weil er nüchtern-sachlich, fast kühl, protokolliert, wie es zugegangen ist im Staat der SED. Ein faszinierendes Buch." (Karl-Wilhelm Fricke, Das Parlament, 17.9.99)
"Udo Scheer ist es mit seinem Buch in einer sehr anschaulichen Weise gelungen, die heimliche Hauptstadt der DDR-Opposition in den siebziger Jahren zu beschreiben." (Ilko-Sascha Kowalczuk, Berliner Zeitung, 25./26.9.99)
"In einer geschickten Collage von Akten und Erinnerungen ist es dem Autor gelungen, scheinbar nur für die Dabeigewesenen entzifferbare Bruchstücke und Mosaiksteine zu einer übergreifenden Darstellung zusammenzuführen.Sie verrät mehr über die SED-Diktatur im Großen und Kleinen, als es viele abstrakte Monografien oder auch wissenschaftlich gehaltene Darlegungen über"die Ostdeutschen"vermögen." (Ilko-Sascha Kowalczuk, Berliner Zeitung, 25./26.9.99)
"Udo Scheer ist es mit seinem Buch in einer sehr anschaulichen Weise gelungen, die heimliche Hauptstadt der DDR-Opposition in den siebziger Jahren zu beschreiben." (Ilko-Sascha Kowalczuk, Berliner Zeitung, 25./26.9.99)
"In einer geschickten Collage von Akten und Erinnerungen ist es dem Autor gelungen, scheinbar nur für die Dabeigewesenen entzifferbare Bruchstücke und Mosaiksteine zu einer übergreifenden Darstellung zusammenzuführen.Sie verrät mehr über die SED-Diktatur im Großen und Kleinen, als es viele abstrakte Monografien oder auch wissenschaftlich gehaltene Darlegungen über"die Ostdeutschen"vermögen." (Ilko-Sascha Kowalczuk, Berliner Zeitung, 25./26.9.99)