Rio de Janeiro, 2014. Die Fußballweltmeisterschaft wird in Brasilien ausgetragen, dieOlympischen Spiele 2016 werden folgen. Eine Atmosphäre voller Hoffnung und Euphorieprägt die Stadt.Júlia, eine junge Architektin, ist beauftragt, ein Projekt für das große Sportereignis zurealisieren. Kurz vor ihrer Präsentation im Rathaus läuft die begeisterte Joggerin zumberühmten Aussichtspunkt Vista Chinesa. Plötzlich spürt sie eine Waffe am Kopf undwird in die Tiefen des Regenwaldes gezwungen. Noch während der Mann sie vergewaltigt,rechnet sie mit ihrem Tod. Doch sie überlebt.Dem persönlichen Schmerz stehen die korrupten Polizeibeamten gegenüber, denenweniger an der seelischen Verfassung der jungen Frau gelegen ist als am Erfolg ihrerFahndung. .Júlia entscheidet, der Polizei nicht mehr zur Verfügung zu stehen. .Jahrespäter ist sie Mutter zweier Kinder. Sie spürt, sie muss ihnen erzählen, was ihr widerfahrenist, und vertraut sich ihrer Freundin Tatiana Salem Levy an. Gemeinsam machensich die beiden Frauen an die Arbeit.Entstanden ist ein Buch, das mit äußerstem Feingefühl und so detailliert wie behutsamdie wahre Begebenheit einer Vergewaltigung schildert. Vor dem Hintergrund des vonKorruption geprägten Brasiliens wird die politische Dimension der Geschehnisse sichtbar.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Paul Ingendaay lernt bei Tatiana Salem Levy Schritt für Schritt, was es heißt, sich seiner Vergangenheit zu stellen, um deren Auswirkungen auf die Gegenwart in den Griff zu bekommen. Für die Hauptfigur im Text, eine Frau, die ihren Kindern in einem Brief von ihrer Jahre zurückliegenden Vergewaltigung erzählt, wie auch für Ingendaay keine leichte Erfahrung. Auf das Schlucken beim Lesen folgt beim Rezensenten allerdings unmittelbar die Bewunderung für die Autorin, die den drastischen Stoff "nicht ausbeutet", wie Ingendaay meint, sondern ihn umsichtig auf unterschiedlichen Zeitebenen arrangiert und analysiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2022Etwas blieb im Wald zurück
Wie ein versehrter Mensch sich heilt: Die Brasilianerin Tatiana Salem Levy erzählt die Geschichte einer Vergewaltigung.
Eine der gängigen Erfahrungen der letzten Wochen, da wir als Zeitungsleser und Fernsehgucker täglich der Entwicklung eines Krieges folgen, besteht in einer stark empfundenen Inkongruenz. Was wiegt der Geschmack eines Frühstücksapfels gegen diesen Krieg? Warum sollte ich die Fenster reinigen, wo andere gar keine Fenster mehr haben? Dasselbe mag für privates Unglück gelten, das sich plötzlich, angesichts des großen Unglücks für Millionen, relativiert und verkleinert sieht. Aber natürlich darf man so nicht denken. Denn auch die Kriegserfahrung wird irgendwann, auf Einzelschicksale verteilt, in Bücher eingehen und so überhaupt erst erzählbar werden, und jede Wahrnehmung von Leid beginnt beim eigenen Ich.
Die brasilianische Schriftstellerin Tatiana Salem Levy, geboren 1979, unternimmt in ihrem Roman "Vista Chinesa", ihrer ersten Veröffentlichung auf Deutsch, etwas Schwieriges: Sie erzählt von der Vergewaltigung einer jungen Frau und bleibt gedanklich auf jeder Seite bei diesem Ereignis, ohne ihrem Buch Schönheit, Tiefe und Reflexionsraum zu nehmen. Dass manche Passagen hart sind und nur mit Schlucken bewältigt werden können, wird dabei nicht überraschen. Manche dürften sich fragen: Muss ich mir das antun? Doch die Autorin beutet ihren Stoff nicht aus, sondern faltet ihn gewissermaßen auseinander, um ihn zu analysieren, und wie sie das tut, mit Umsicht, Ökonomie und Wahrhaftigkeit, macht dieses schmale Buch ungewöhnlich.
Júlia, eine junge Architektin aus Rio de Janeiro, wird beim Joggen in ihrem Stadtviertel mit vorgehaltener Pistole in den angrenzenden Regenwald verschleppt und stundenlang vergewaltigt. Die Frau überlebt und schafft es am Abend barfuß nach Hause; der Täter entkommt. Er ist weiß, daran erinnert sie sich, doch alle weiteren körperlichen Merkmale verschwimmen, sobald sie sich wieder in die Szene zurückversetzt. Nicht einmal an die Handschuhe kann sie sich genau erinnern, und in den folgenden Wochen wird Júlia diese Unsicherheit trotz wiederholter Gegenüberstellung von Tatverdächtigen nicht abschütteln. Sie will den Richtigen finden - und hat Angst, es könnte den Falschen treffen.
Levys Roman, den Marianne Gareis in ein geschmeidiges, elegantes Deutsch übersetzt hat, folgt den inneren Stationen der Heldin, hält aber die Balance zwischen Traumaprotokoll und Milieuschilderung: Ein Leben der oberen Mittelklasse fällt auseinander ("man wird doch nicht einfach so vergewaltigt, an einem Dienstagnachmittag") und muss wieder zusammengesetzt werden. Im Hintergrund das Rio de Janeiro vor der Fußballweltmeisterschaft 2014, eine Aufbruchsstimmung, die naturgemäß enttäuscht wird, auch bei den Planungen zu den Olympischen Spielen zwei Jahre später schleicht sich Korruption ein, doch eigentlich, sagt uns Levys Roman, sind die Angelegenheiten der äußeren Welt nur die Begleitmusik des Getöses in der inneren.
Die polizeilichen Nachforschungen sind dabei Hilfe und Belastung zugleich. "Ich bin am Leben", sagt sich Júlia. "Ich will nur noch vergessen." Aber es geht weiter. Und Gerechtigkeit wäre wichtig. Wenn sie sicher sein könnte, was sie gesehen und wahrgenommen hat. Ihr Blick auf den eigenen Körper verändert sich. "Ein Teil von mir, ein großer Teil von mir, war im Regenwald zurückgeblieben, verloren, zerstückelt, Fleischreste, Fressen für die Tiere."
Irgendwann zieht sie mit ihrem Freund Michel zusammen, wird schwanger, fühlt sich augenblicksweise glücklich, aber auch versehrt, und irgendwie ist da immer wieder dieser Geruch nach etwas Schwerem, Fauligem, das sie mit dem Täter verbindet, das ist wieder der üppige Wald, in den sie verschleppt wurde, und überhaupt: Woher soll sie wissen, welche Art Revolver ihr an die Schläfe gehalten wurde? Für Júlia sind alle Revolver gleich. Und ob die Handschuhe, die sie gepackt hielten, blau oder schwarz waren, wird sie nie erfahren. Dick oder dünn? Mit Kuppenverstärkung? Ohne?
Gute Bücher - dieses beruht auf dem authentischen Fall einer Freundin der Autorin - haben mehrere Ebenen und fordern uns verschiedene Perspektiven ab. In Levys Roman gibt es eine Jetzt-Zeit und eine Damals-Zeit. In der Jetzt-Zeit schreibt die Erzählerin einen Brief an ihre Kinder Antonia und Martim, in welchem sie ihnen von einer Vergewaltigung in der Damals-Zeit, mehr als sechs Jahre zuvor, zu erzählen versucht. Es ist das Buch, das wir vor uns haben. Warum spricht sie nicht gleich mit ihnen? Weil die Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen, erst fünf Jahre alt sind. Aber die Mutter spricht auch deswegen nicht mit ihren Kindern, weil sich das weit zurückliegende Ereignis im eigentlichen Sinn nicht erzählen lässt, nur erinnernd umkreisen oder mit verbundenen Augen ertasten, und das Nichtgewusste daran, die großen weißen Flecken in dieser Geschichte sind mindestens so vielsagend und tyrannisierend wie die gesicherten Tatsachen.
Dieses Umherirren in der eigenen Sprachlosigkeit ist nicht beliebig, ganz im Gegenteil, es ist wegen der Größe des Unglücks verständlich, darf aber andererseits - abermals wegen der Größe des Unglücks - nicht hingenommen werden. Als Júlia sich bei ihrem Mann Michel nach dem Namen der Kommissarin erkundigt, die den Fall bearbeitet, fragt der, wozu sie den Namen brauche, worauf sie antwortet: für einen Brief. "Und er fragte, ein Brief an wen?, und ich antwortete, an unsere Kinder, und er erwiderte, warum musst du immer in der Vergangenheit wühlen?, und ich sagte, dass ich gar nicht in der Vergangenheit wühlte, sondern in der Gegenwart."
Das ist es: ein vergangenes Unglück als mächtige, alles beherrschende Gegenwart. Zu den eindringlichen Erfahrungen bei der Lektüre zählt es, Tatiana Salem Levy bei diesen Erkundungen zu folgen. Ja, so geht es wohl, wenn man sich gegen die Erinnerung sträubt, ihr aber trotzdem entgegentreten muss; so und nicht anders könnte man sich fühlen; wie schrecklich, vor so einer Aufgabe zu stehen, für die es ja keine Anleitung geben kann! Und wie tröstlich, es in diesem bemerkenswerten Roman Schritt für Schritt erzählt zu bekommen. PAUL INGENDAAY
Tatiana Salem Levy: "Vista Chinesa". Roman. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2022.
127 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie ein versehrter Mensch sich heilt: Die Brasilianerin Tatiana Salem Levy erzählt die Geschichte einer Vergewaltigung.
Eine der gängigen Erfahrungen der letzten Wochen, da wir als Zeitungsleser und Fernsehgucker täglich der Entwicklung eines Krieges folgen, besteht in einer stark empfundenen Inkongruenz. Was wiegt der Geschmack eines Frühstücksapfels gegen diesen Krieg? Warum sollte ich die Fenster reinigen, wo andere gar keine Fenster mehr haben? Dasselbe mag für privates Unglück gelten, das sich plötzlich, angesichts des großen Unglücks für Millionen, relativiert und verkleinert sieht. Aber natürlich darf man so nicht denken. Denn auch die Kriegserfahrung wird irgendwann, auf Einzelschicksale verteilt, in Bücher eingehen und so überhaupt erst erzählbar werden, und jede Wahrnehmung von Leid beginnt beim eigenen Ich.
Die brasilianische Schriftstellerin Tatiana Salem Levy, geboren 1979, unternimmt in ihrem Roman "Vista Chinesa", ihrer ersten Veröffentlichung auf Deutsch, etwas Schwieriges: Sie erzählt von der Vergewaltigung einer jungen Frau und bleibt gedanklich auf jeder Seite bei diesem Ereignis, ohne ihrem Buch Schönheit, Tiefe und Reflexionsraum zu nehmen. Dass manche Passagen hart sind und nur mit Schlucken bewältigt werden können, wird dabei nicht überraschen. Manche dürften sich fragen: Muss ich mir das antun? Doch die Autorin beutet ihren Stoff nicht aus, sondern faltet ihn gewissermaßen auseinander, um ihn zu analysieren, und wie sie das tut, mit Umsicht, Ökonomie und Wahrhaftigkeit, macht dieses schmale Buch ungewöhnlich.
Júlia, eine junge Architektin aus Rio de Janeiro, wird beim Joggen in ihrem Stadtviertel mit vorgehaltener Pistole in den angrenzenden Regenwald verschleppt und stundenlang vergewaltigt. Die Frau überlebt und schafft es am Abend barfuß nach Hause; der Täter entkommt. Er ist weiß, daran erinnert sie sich, doch alle weiteren körperlichen Merkmale verschwimmen, sobald sie sich wieder in die Szene zurückversetzt. Nicht einmal an die Handschuhe kann sie sich genau erinnern, und in den folgenden Wochen wird Júlia diese Unsicherheit trotz wiederholter Gegenüberstellung von Tatverdächtigen nicht abschütteln. Sie will den Richtigen finden - und hat Angst, es könnte den Falschen treffen.
Levys Roman, den Marianne Gareis in ein geschmeidiges, elegantes Deutsch übersetzt hat, folgt den inneren Stationen der Heldin, hält aber die Balance zwischen Traumaprotokoll und Milieuschilderung: Ein Leben der oberen Mittelklasse fällt auseinander ("man wird doch nicht einfach so vergewaltigt, an einem Dienstagnachmittag") und muss wieder zusammengesetzt werden. Im Hintergrund das Rio de Janeiro vor der Fußballweltmeisterschaft 2014, eine Aufbruchsstimmung, die naturgemäß enttäuscht wird, auch bei den Planungen zu den Olympischen Spielen zwei Jahre später schleicht sich Korruption ein, doch eigentlich, sagt uns Levys Roman, sind die Angelegenheiten der äußeren Welt nur die Begleitmusik des Getöses in der inneren.
Die polizeilichen Nachforschungen sind dabei Hilfe und Belastung zugleich. "Ich bin am Leben", sagt sich Júlia. "Ich will nur noch vergessen." Aber es geht weiter. Und Gerechtigkeit wäre wichtig. Wenn sie sicher sein könnte, was sie gesehen und wahrgenommen hat. Ihr Blick auf den eigenen Körper verändert sich. "Ein Teil von mir, ein großer Teil von mir, war im Regenwald zurückgeblieben, verloren, zerstückelt, Fleischreste, Fressen für die Tiere."
Irgendwann zieht sie mit ihrem Freund Michel zusammen, wird schwanger, fühlt sich augenblicksweise glücklich, aber auch versehrt, und irgendwie ist da immer wieder dieser Geruch nach etwas Schwerem, Fauligem, das sie mit dem Täter verbindet, das ist wieder der üppige Wald, in den sie verschleppt wurde, und überhaupt: Woher soll sie wissen, welche Art Revolver ihr an die Schläfe gehalten wurde? Für Júlia sind alle Revolver gleich. Und ob die Handschuhe, die sie gepackt hielten, blau oder schwarz waren, wird sie nie erfahren. Dick oder dünn? Mit Kuppenverstärkung? Ohne?
Gute Bücher - dieses beruht auf dem authentischen Fall einer Freundin der Autorin - haben mehrere Ebenen und fordern uns verschiedene Perspektiven ab. In Levys Roman gibt es eine Jetzt-Zeit und eine Damals-Zeit. In der Jetzt-Zeit schreibt die Erzählerin einen Brief an ihre Kinder Antonia und Martim, in welchem sie ihnen von einer Vergewaltigung in der Damals-Zeit, mehr als sechs Jahre zuvor, zu erzählen versucht. Es ist das Buch, das wir vor uns haben. Warum spricht sie nicht gleich mit ihnen? Weil die Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen, erst fünf Jahre alt sind. Aber die Mutter spricht auch deswegen nicht mit ihren Kindern, weil sich das weit zurückliegende Ereignis im eigentlichen Sinn nicht erzählen lässt, nur erinnernd umkreisen oder mit verbundenen Augen ertasten, und das Nichtgewusste daran, die großen weißen Flecken in dieser Geschichte sind mindestens so vielsagend und tyrannisierend wie die gesicherten Tatsachen.
Dieses Umherirren in der eigenen Sprachlosigkeit ist nicht beliebig, ganz im Gegenteil, es ist wegen der Größe des Unglücks verständlich, darf aber andererseits - abermals wegen der Größe des Unglücks - nicht hingenommen werden. Als Júlia sich bei ihrem Mann Michel nach dem Namen der Kommissarin erkundigt, die den Fall bearbeitet, fragt der, wozu sie den Namen brauche, worauf sie antwortet: für einen Brief. "Und er fragte, ein Brief an wen?, und ich antwortete, an unsere Kinder, und er erwiderte, warum musst du immer in der Vergangenheit wühlen?, und ich sagte, dass ich gar nicht in der Vergangenheit wühlte, sondern in der Gegenwart."
Das ist es: ein vergangenes Unglück als mächtige, alles beherrschende Gegenwart. Zu den eindringlichen Erfahrungen bei der Lektüre zählt es, Tatiana Salem Levy bei diesen Erkundungen zu folgen. Ja, so geht es wohl, wenn man sich gegen die Erinnerung sträubt, ihr aber trotzdem entgegentreten muss; so und nicht anders könnte man sich fühlen; wie schrecklich, vor so einer Aufgabe zu stehen, für die es ja keine Anleitung geben kann! Und wie tröstlich, es in diesem bemerkenswerten Roman Schritt für Schritt erzählt zu bekommen. PAUL INGENDAAY
Tatiana Salem Levy: "Vista Chinesa". Roman. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2022.
127 S., geb., 22,- Euro.
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