Wie und warum wurden seelisch kranke Menschen zum Bild? Seit Ende des 19. Jahrhunderts fotografierten Ärzte hinter Anstaltsmauern ihre Patienten. Mediziner versuchten durch das Medium Fotografie, das unsichtbare Seelenleben an fixierbaren Körpersymptomen kenntlich zu machen.In diesem Buch werden die »Fotografien-wider-Willen« als Teil einer normierenden Körperpolitik interpretiert, die das Fremde definierte und damit eine Gegenwelt zur repräsentativen bürgerlichen Normalität entwarf. »Visuelle Gewalt« ist Kennwort für ein Ordnungsverfahren, das im Namen von wissenschaftlicher Vernunft auf Körper und Seelen zielte, Menschen typisierte und ausgrenzte. Populäre Darstellungen des Wahns sind bis heute davon geprägt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.11.2010Fotoirrsinn
Mit der "Bildwerdung des Psychiatriepatienten" beschäftigt sich eine Studie der Medienwissenschaftlerin Susanne Regener, die - nach kurzem Blick auf die Geschichte der medizinischen Abbildung - Fotografien untersucht, die in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in psychiatrischen Anstalten entstanden sind. Das Besondere: Es handelt sich nicht um Aufnahmen, die zu medizinischen Zwecken angefertigt wurden, sondern um Gelegenheitsbilder. Sie entstanden am Rande des Klinikalltags, wurden vom Personal oder von Besuchern initiiert oder vielleicht auch von Ärzten in ihrer Freizeit gemacht. So sieht man, überliefert aus der Provinzialirrenanstalt, später Landesheil- und Pflegeanstalt Weilmünster, Porträts von Bewohnerinnen und Bewohnern, die wohl im Aufenthaltsraum aufgenommen wurden, aber auch Menschen im Bett, in der Badewanne, teilweise entblößt, manche abweisend, manche posierend, einige unter Zwang zurechtgesetzt oder auch festgehalten. Einige schnappschussartige Aufnahmen enthalten pittoreske Elemente: Eine Tätowierung wird herausgehoben, ein Mann trägt zwei Rabenvögel auf Schulter und Arm: "Conditor mit gezähmten Falken" lautet die Bildunterschrift. Regeners Interpretationsversuche bleiben disparat. Hinweise gelten dem - hier offenkundig auch von Laien ausgeübten - "ärztlichen Blick" sowie der Zuschreibung von Krankheit, Andersheit, Lächerlichkeit. Dass die Autorin mittels der Diagnose der visuellen Gewaltausübung auf die eigenartige Fotokultur zugeht, ist nachvollziehbar. Mitgebrachte Wertungen und ein durchgehend moralischer Unterton verengen dennoch die Analyse: Die Bilder treffen "Anormalitätsaussagen", Voyeurismus und "heimliche Lust an der Monstrosität" toben sich aus, "Normalität" wird hergestellt - sehr viel mehr lernt man nicht. Gleichwohl tut das Buch einen wichtigen Schritt in das unheimliche Gelände einer nicht professionellen, sondern gleichsam halbwilden Psychiatriefotografie. (Susanne Regener: "Visuelle Gewalt". Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. transcript Verlag, Bielefeld 2010. 253 S., br., 135 Abb., 27,80 [Euro].) pgg
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit der "Bildwerdung des Psychiatriepatienten" beschäftigt sich eine Studie der Medienwissenschaftlerin Susanne Regener, die - nach kurzem Blick auf die Geschichte der medizinischen Abbildung - Fotografien untersucht, die in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts in psychiatrischen Anstalten entstanden sind. Das Besondere: Es handelt sich nicht um Aufnahmen, die zu medizinischen Zwecken angefertigt wurden, sondern um Gelegenheitsbilder. Sie entstanden am Rande des Klinikalltags, wurden vom Personal oder von Besuchern initiiert oder vielleicht auch von Ärzten in ihrer Freizeit gemacht. So sieht man, überliefert aus der Provinzialirrenanstalt, später Landesheil- und Pflegeanstalt Weilmünster, Porträts von Bewohnerinnen und Bewohnern, die wohl im Aufenthaltsraum aufgenommen wurden, aber auch Menschen im Bett, in der Badewanne, teilweise entblößt, manche abweisend, manche posierend, einige unter Zwang zurechtgesetzt oder auch festgehalten. Einige schnappschussartige Aufnahmen enthalten pittoreske Elemente: Eine Tätowierung wird herausgehoben, ein Mann trägt zwei Rabenvögel auf Schulter und Arm: "Conditor mit gezähmten Falken" lautet die Bildunterschrift. Regeners Interpretationsversuche bleiben disparat. Hinweise gelten dem - hier offenkundig auch von Laien ausgeübten - "ärztlichen Blick" sowie der Zuschreibung von Krankheit, Andersheit, Lächerlichkeit. Dass die Autorin mittels der Diagnose der visuellen Gewaltausübung auf die eigenartige Fotokultur zugeht, ist nachvollziehbar. Mitgebrachte Wertungen und ein durchgehend moralischer Unterton verengen dennoch die Analyse: Die Bilder treffen "Anormalitätsaussagen", Voyeurismus und "heimliche Lust an der Monstrosität" toben sich aus, "Normalität" wird hergestellt - sehr viel mehr lernt man nicht. Gleichwohl tut das Buch einen wichtigen Schritt in das unheimliche Gelände einer nicht professionellen, sondern gleichsam halbwilden Psychiatriefotografie. (Susanne Regener: "Visuelle Gewalt". Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. transcript Verlag, Bielefeld 2010. 253 S., br., 135 Abb., 27,80 [Euro].) pgg
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»[Das Buch tut] einen wichtigen Schritt in das unheimliche Gelände einer nicht professionellen, sondern gleichsam halbwilden Psychiatriefotografie.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.11.2010 »Der große Vorzug von Regeners Studie liegt in der [...] entfalteten mediologischen Methode: Entscheidende Argumente lassen sich überhaupt erst anhand der sichtbaren Formen, anhand von Bildern also, gewinnen und aufzeigen.« Steffen Siegel, taz, 19.10.2010 Besprochen in: Dr. med. Mabuse, 187 (2010)