Videoclips, wie sie in den Musikkanälen MTV oder Viva präsentiert werden, sind typische Produkte einer konsumorientierten Populärkultur. Die einschlägige Fachdiskussion über das Wechselspiel zwischen Jugendkultur und Musikmärkten ist inzwischen differenziert, aber auch unübersichtlicher geworden. Dieser Sammelband verschafft einen Überblick über die dominanten Diskussionslinien. "Viva MTV!" enthält Beiträge zur Geschichte, Ökonomie und Produktion von visueller Musik (mit Schwerpunkt auf MTV und Viva), Produktanalysen von Videoclips (u.a. von Madonna, Michael Jackson, Prince, Kate Bush, The Prodigy, Techno) sowie Studien zur Nutzung und Rezeption von Videoclips und Musikfernsehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.1999Immer dasselbe, reichlich vieltönig
Kulturwissenschaftler suchen das Neue in den Wiederholungen von MTV
In seinem Buch "Die Realität der Massenmedien" vertrat der als Fernsehverächter bekannte Niklas Luhmann die These, das Fernsehen orientiere sich allein am Kriterium der Neuigkeit. Gezeigt werde nur das, was einen Informationswert habe, und das gelte nicht nur für Nachrichtensendungen, sondern auch für Werbung und Unterhaltung. Von den ständigen Wiederholungen uralter Klamotten einmal abgesehen - wie erklärt man die Existenz ganzer Kanäle, die rund um die Uhr die immer gleichen Videoclips und Werbespots senden? Luhmanns Antwort ist die "Reflexivfigur des Informationswertes der Nicht-Information". Denn Wiederholung sei ein "Indikator von Wichtigkeit und Erinnerungswürdigkeit". Bei MTV nennt man das Heavy Rotation: Wenn ich ein Video dreimal täglich sehe, weiß ich, dass ich es wohl mit einem Hit zu tun haben muss. Ein von dem Soziologen Klaus Neumann-Braun herausgegebener Sammelband versucht nun, die in den anglo-amerikanischen Cultural Studies intensiv geführte Debatte um die kulturelle Bedeutung des Musikfernsehens für die deutsche Diskussion fruchtbar zu machen.
Als MTV am 1. August 1981 auf Sendung ging, waren sich die Macher der historischen Stunde bewusst. Die ersten Bilder waren Originalaufnahmen der Mondlandung, bei der Neil Armstrong allerdings eine Flagge mit dem MTV-Logo aufstellte. Der erste Clip war "Video Killed the Radio Star". Tatsächlich ist die Pop-Musikindustrie durch den Siegeszug von MTV binnen weniger Jahre revolutioniert worden. Das Video ist heute das wichtigste Marketinginstrument der Plattenfirmen, wie Axel Schmidt in seinem informativen Abriss der Entwicklung von MTV zeigt. Beruhte das ursprüngliche Konzept auf dem genialen Schachzug, sich das gesamte Programm von der in einer Absatzkrise steckenden Plattenindustrie kostenlos liefern zu lassen, so hat sich daraus mittlerweile eine ganze Promotion-Kette entwickelt. Ein Video wirbt für einen Film, der seinerseits den Soundtrack popularisiert; Songs werden über die Werbung zu Superhits, während in jedem Jeansladen im Gegenzug pausenlos MTV oder dessen deutsches Pendant Viva läuft.
Über die ästhetische Qualität der Videos kann man geteilter Meinung sein. Unter Ausblendung der handfesten kommerziellen Interessen wurde MTV von einer einflussreichen Forschungsrichtung der Cultural Studies in den achtziger Jahren zum anarchistischen Leitmedium der Postmoderne erhoben. John Fikse etwa feierte die "orgasmische" Qualität der Bilderflut, die die poststrukturalistische Auflösung von Bedeutung und Kohärenz unter dem Stern des Lustprinzips in jede gute Kinderstube trage. Im vorliegenden Band führt Ulrich Wenzel diesen Ansatz auf den Gipfel der Absurdität, wenn er in Michael Jackson (im Clip zu "Black and White") Lacans "Spur des Realen" verkörpert sieht.
Sinnvoller scheint der Zugang über die Gender Studies, die in diesem Band durch scharfsinnige Clipanalysen von Madonna und The Prodigy vertreten sind und das ironische Spiel mit Geschlechterstereotypen herausarbeiten. Kaum zu übersehen ist dabei, dass sich auch bei den Videos ein kanonisches Korpus gebildet hat, das den Diskurs bestimmt, aber für das Medium insgesamt nicht repräsentativ ist - Jacksons "Thriller"-Video wird einmal als "Klassiker" bezeichnet. Dabei geht es den Verfechtern einer subversiven MTV-Kultur doch gerade um die Aufhebung der Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur. Sie setzen auf den souveränen Konsumenten, der aus dem mehrdeutigen Sinnangebot kreativ auswählt. Eggo Müller hält aus der Sicht einer traditionellen Medienkritik dagegen, dass viele Wahlmöglichkeiten durch die ökonomischen Verflechtungen von vornherein ausgeschlossen würden: Bewegen kann sich der Zuschauer nur an der Leine der Kulturindustrie.
Man muss nicht überholten Manipulationshypothesen anhängen, wenn man feststellt, dass MTV primär kommerziellen Interessen folgt. Das betrifft sowohl die (hochselektive) Auswahl der Clips als auch deren Ästhetik. Die Sendepolitik von MTV und Viva besteht darin, die Grenzen zwischen Werbung, "Infoblöcken" (die ebenfalls nichts mit Musikjournalismus zu tun haben) und den Clips selbst verschwimmen zu lassen: MTV ist eine Dauerwerbesendung, eine "temporalisierte Plakatwand". Aufwendig produzierte so genannte Konzeptvideos sind zudem die Ausnahme. Die Mehrzahl der Filme sind Performance-Clips, die wenig anderes zeigen als die Künstler selbst. Schließlich ist der Star das Produkt, das vermarktet werden soll. Da die Anzahl der Posen begrenzt ist, die der frisch dem Ghetto entronnene Gangsta-Rapper beim Rappen einnehmen kann, ist Langeweile programmiert. Und das ist sogar erwünscht, denn wie der Op-Song selbst muss auch das erfolgreiche Video auf dem schmalen Grat zwischen Originalität und Erwartbarkeit balancieren.
Die methodisch sehr unterschiedlich vorgehenden Einzelanalysen, die sich unter anderem Videos von Prince, der Hardrockgruppe Living Colour oder einem Technoclip widmen, sind leider nicht immer gelungen. Das optimale Operationsbesteck scheint noch nicht gefunden, entzieht sich doch der Gegenstand herkömmlichen film- oder musikwissenschaftlichen Ansätzen. Am Extremfall Techno reflektieren Neumann-Braun und Schmidt die prinzipiellen Grenzen eines akademischen Zugangs: "Der A-Semantik von Musik und Bild ist das Ziel der (zumindest zeitweisen) Selbstaufgabe des Technohörers zur Seite gestellt: Stop >mindfucking
RICHARD KÄMMERLINGS.
Klaus Neumann-Braun (Hrsg.): "Viva MTV". Popmusik im Fernsehen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 352 S., br., 24,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kulturwissenschaftler suchen das Neue in den Wiederholungen von MTV
In seinem Buch "Die Realität der Massenmedien" vertrat der als Fernsehverächter bekannte Niklas Luhmann die These, das Fernsehen orientiere sich allein am Kriterium der Neuigkeit. Gezeigt werde nur das, was einen Informationswert habe, und das gelte nicht nur für Nachrichtensendungen, sondern auch für Werbung und Unterhaltung. Von den ständigen Wiederholungen uralter Klamotten einmal abgesehen - wie erklärt man die Existenz ganzer Kanäle, die rund um die Uhr die immer gleichen Videoclips und Werbespots senden? Luhmanns Antwort ist die "Reflexivfigur des Informationswertes der Nicht-Information". Denn Wiederholung sei ein "Indikator von Wichtigkeit und Erinnerungswürdigkeit". Bei MTV nennt man das Heavy Rotation: Wenn ich ein Video dreimal täglich sehe, weiß ich, dass ich es wohl mit einem Hit zu tun haben muss. Ein von dem Soziologen Klaus Neumann-Braun herausgegebener Sammelband versucht nun, die in den anglo-amerikanischen Cultural Studies intensiv geführte Debatte um die kulturelle Bedeutung des Musikfernsehens für die deutsche Diskussion fruchtbar zu machen.
Als MTV am 1. August 1981 auf Sendung ging, waren sich die Macher der historischen Stunde bewusst. Die ersten Bilder waren Originalaufnahmen der Mondlandung, bei der Neil Armstrong allerdings eine Flagge mit dem MTV-Logo aufstellte. Der erste Clip war "Video Killed the Radio Star". Tatsächlich ist die Pop-Musikindustrie durch den Siegeszug von MTV binnen weniger Jahre revolutioniert worden. Das Video ist heute das wichtigste Marketinginstrument der Plattenfirmen, wie Axel Schmidt in seinem informativen Abriss der Entwicklung von MTV zeigt. Beruhte das ursprüngliche Konzept auf dem genialen Schachzug, sich das gesamte Programm von der in einer Absatzkrise steckenden Plattenindustrie kostenlos liefern zu lassen, so hat sich daraus mittlerweile eine ganze Promotion-Kette entwickelt. Ein Video wirbt für einen Film, der seinerseits den Soundtrack popularisiert; Songs werden über die Werbung zu Superhits, während in jedem Jeansladen im Gegenzug pausenlos MTV oder dessen deutsches Pendant Viva läuft.
Über die ästhetische Qualität der Videos kann man geteilter Meinung sein. Unter Ausblendung der handfesten kommerziellen Interessen wurde MTV von einer einflussreichen Forschungsrichtung der Cultural Studies in den achtziger Jahren zum anarchistischen Leitmedium der Postmoderne erhoben. John Fikse etwa feierte die "orgasmische" Qualität der Bilderflut, die die poststrukturalistische Auflösung von Bedeutung und Kohärenz unter dem Stern des Lustprinzips in jede gute Kinderstube trage. Im vorliegenden Band führt Ulrich Wenzel diesen Ansatz auf den Gipfel der Absurdität, wenn er in Michael Jackson (im Clip zu "Black and White") Lacans "Spur des Realen" verkörpert sieht.
Sinnvoller scheint der Zugang über die Gender Studies, die in diesem Band durch scharfsinnige Clipanalysen von Madonna und The Prodigy vertreten sind und das ironische Spiel mit Geschlechterstereotypen herausarbeiten. Kaum zu übersehen ist dabei, dass sich auch bei den Videos ein kanonisches Korpus gebildet hat, das den Diskurs bestimmt, aber für das Medium insgesamt nicht repräsentativ ist - Jacksons "Thriller"-Video wird einmal als "Klassiker" bezeichnet. Dabei geht es den Verfechtern einer subversiven MTV-Kultur doch gerade um die Aufhebung der Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur. Sie setzen auf den souveränen Konsumenten, der aus dem mehrdeutigen Sinnangebot kreativ auswählt. Eggo Müller hält aus der Sicht einer traditionellen Medienkritik dagegen, dass viele Wahlmöglichkeiten durch die ökonomischen Verflechtungen von vornherein ausgeschlossen würden: Bewegen kann sich der Zuschauer nur an der Leine der Kulturindustrie.
Man muss nicht überholten Manipulationshypothesen anhängen, wenn man feststellt, dass MTV primär kommerziellen Interessen folgt. Das betrifft sowohl die (hochselektive) Auswahl der Clips als auch deren Ästhetik. Die Sendepolitik von MTV und Viva besteht darin, die Grenzen zwischen Werbung, "Infoblöcken" (die ebenfalls nichts mit Musikjournalismus zu tun haben) und den Clips selbst verschwimmen zu lassen: MTV ist eine Dauerwerbesendung, eine "temporalisierte Plakatwand". Aufwendig produzierte so genannte Konzeptvideos sind zudem die Ausnahme. Die Mehrzahl der Filme sind Performance-Clips, die wenig anderes zeigen als die Künstler selbst. Schließlich ist der Star das Produkt, das vermarktet werden soll. Da die Anzahl der Posen begrenzt ist, die der frisch dem Ghetto entronnene Gangsta-Rapper beim Rappen einnehmen kann, ist Langeweile programmiert. Und das ist sogar erwünscht, denn wie der Op-Song selbst muss auch das erfolgreiche Video auf dem schmalen Grat zwischen Originalität und Erwartbarkeit balancieren.
Die methodisch sehr unterschiedlich vorgehenden Einzelanalysen, die sich unter anderem Videos von Prince, der Hardrockgruppe Living Colour oder einem Technoclip widmen, sind leider nicht immer gelungen. Das optimale Operationsbesteck scheint noch nicht gefunden, entzieht sich doch der Gegenstand herkömmlichen film- oder musikwissenschaftlichen Ansätzen. Am Extremfall Techno reflektieren Neumann-Braun und Schmidt die prinzipiellen Grenzen eines akademischen Zugangs: "Der A-Semantik von Musik und Bild ist das Ziel der (zumindest zeitweisen) Selbstaufgabe des Technohörers zur Seite gestellt: Stop >mindfucking
RICHARD KÄMMERLINGS.
Klaus Neumann-Braun (Hrsg.): "Viva MTV". Popmusik im Fernsehen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 352 S., br., 24,80 DM.
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