Produktdetails
- Verlag: Zürich, Verlag neue Zürcher Zeitung
- ISBN-13: 9783038236177
- ISBN-10: 3038236179
- Artikelnr.: 28240471
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2010Duce hier, Duce dort?
Das Italien von heute und der Faschismus
Wird man einmal von einer "Berlusconi-Epoche" der italienischen Geschichte sprechen? Wohlgemerkt: nicht einfach im Sinne der langen Amtsdauer des Ministerpräsidenten, sondern verstanden als Zeitalter, das unter der Ägide eines Mannes bis in die gesellschaftlichen, kulturellen Tiefenschichten geformt wurde - und, wenn ja, welches wären, von historischer Warte aus betrachtet, die spezifischen Merkmale der "Ära Berlusconi"? Mit Aram Mattioli gibt nun ein Kenner der italienischen Zeitgeschichte eine klare Antwort auf diese Frage, indem er die "Aufwertung des Faschismus" zur Signatur der Epoche erklärt. Der Autor zeigt, in welchem Umfang in Italien seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine geschichtspolitische Neuausrichtung stattgefunden hat, deren Dynamik Berlusconi mit strategischem Geschick sowohl zu nutzen als auch zu fördern wusste.
Die italienische Republik, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, hatte aus der institutionell gehegten Behauptung eines breiten antifaschistischen Konsenses ihre Legitimation und Leitwerte geschöpft, allerdings um den Preis, die radikale Rechte dauerhaft ins moralische und politische Abseits zu stellen, wo diese eine komfortable Nostalgiepflege betrieb. Zu Berlusconis Projekt gehörte es nun, wie der Autor plausibel darlegt, den sich seit den späten achtziger Jahren abzeichnenden Bruch dieser Ordnung mitzutragen. Die Grenzen des öffentlich Sagbaren und politisch Korrekten wurden neu vermessen. Der Mailänder Großunternehmer machte die vom Faschismus herkommende Rechte parteipolitisch salon- und regierungsfähig - ein Prozess, der von einer neuartigen Erinnerungskultur im Zeichen jenes Revisionismus flankiert wurde, den Mattioli mit guten Gründen als Hauptachse des italienischen Sonderwegs innerhalb der westeuropäischen Staatenwelt bezeichnet. Seine Studie untersucht die Symptome der auf diese Weise angebahnten "Normalisierung" des Faschismus: von dessen wissenschaftlicher Enttabuisierung bis zur programmatischen Rehabilitierung "alter Kämpfer", von der Umdeutung nationaler Gedenktage bis zur Polemik gegenüber Schulbüchern, denen die einseitige Verherrlichung des antifaschistischen Widerstands vorgeworfen wurde. Sie tut dies angenehm sachlich, ohne Lust am Berlusconi-"Bashing", das vielfach, aber meist ohne Erkenntnisgewinn von Italien-Beobachtern gepflegt wird.
Mattiolis Analyse des Umgangs der italienischen Gesellschaft mit dem Faschismus macht die ungeheure Gegenwart dieser Vergangenheit deutlich, die nicht vergeht und auch gar nicht vergehen soll, weil ihr Fortleben politischen und medialen Profit verspricht. Das Bild, das der Autor zeichnet, erzählt von uralten, in den Jahrzehnten nach 1945 offenbar nur oberflächlich geheilten Konflikten um die Deutung der Rolle des Faschismus für die Identität des heutigen Italien. Gerade der Verzicht auf den empörten Skandalton macht aus seiner Darstellung die kritisch-sympathetische Zeitdiagnose einer zerrissenen Gesellschaft, deren Schwierigkeit mit der eigenen Geschichte weit über den Faschismus zurückreicht, wie die politisch aufgeheizten Auseinandersetzungen um die passende Form des Gedenkens an die Gründung des italienischen Nationalstaates zeigen, dessen 150. Geburtstag im kommenden Jahr ansteht.
CHRISTIANE LIERMANN
Aram Mattioli: "Viva Mussolini!" Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Schöningh Verlag, Paderborn 2010. 204 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Italien von heute und der Faschismus
Wird man einmal von einer "Berlusconi-Epoche" der italienischen Geschichte sprechen? Wohlgemerkt: nicht einfach im Sinne der langen Amtsdauer des Ministerpräsidenten, sondern verstanden als Zeitalter, das unter der Ägide eines Mannes bis in die gesellschaftlichen, kulturellen Tiefenschichten geformt wurde - und, wenn ja, welches wären, von historischer Warte aus betrachtet, die spezifischen Merkmale der "Ära Berlusconi"? Mit Aram Mattioli gibt nun ein Kenner der italienischen Zeitgeschichte eine klare Antwort auf diese Frage, indem er die "Aufwertung des Faschismus" zur Signatur der Epoche erklärt. Der Autor zeigt, in welchem Umfang in Italien seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine geschichtspolitische Neuausrichtung stattgefunden hat, deren Dynamik Berlusconi mit strategischem Geschick sowohl zu nutzen als auch zu fördern wusste.
Die italienische Republik, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, hatte aus der institutionell gehegten Behauptung eines breiten antifaschistischen Konsenses ihre Legitimation und Leitwerte geschöpft, allerdings um den Preis, die radikale Rechte dauerhaft ins moralische und politische Abseits zu stellen, wo diese eine komfortable Nostalgiepflege betrieb. Zu Berlusconis Projekt gehörte es nun, wie der Autor plausibel darlegt, den sich seit den späten achtziger Jahren abzeichnenden Bruch dieser Ordnung mitzutragen. Die Grenzen des öffentlich Sagbaren und politisch Korrekten wurden neu vermessen. Der Mailänder Großunternehmer machte die vom Faschismus herkommende Rechte parteipolitisch salon- und regierungsfähig - ein Prozess, der von einer neuartigen Erinnerungskultur im Zeichen jenes Revisionismus flankiert wurde, den Mattioli mit guten Gründen als Hauptachse des italienischen Sonderwegs innerhalb der westeuropäischen Staatenwelt bezeichnet. Seine Studie untersucht die Symptome der auf diese Weise angebahnten "Normalisierung" des Faschismus: von dessen wissenschaftlicher Enttabuisierung bis zur programmatischen Rehabilitierung "alter Kämpfer", von der Umdeutung nationaler Gedenktage bis zur Polemik gegenüber Schulbüchern, denen die einseitige Verherrlichung des antifaschistischen Widerstands vorgeworfen wurde. Sie tut dies angenehm sachlich, ohne Lust am Berlusconi-"Bashing", das vielfach, aber meist ohne Erkenntnisgewinn von Italien-Beobachtern gepflegt wird.
Mattiolis Analyse des Umgangs der italienischen Gesellschaft mit dem Faschismus macht die ungeheure Gegenwart dieser Vergangenheit deutlich, die nicht vergeht und auch gar nicht vergehen soll, weil ihr Fortleben politischen und medialen Profit verspricht. Das Bild, das der Autor zeichnet, erzählt von uralten, in den Jahrzehnten nach 1945 offenbar nur oberflächlich geheilten Konflikten um die Deutung der Rolle des Faschismus für die Identität des heutigen Italien. Gerade der Verzicht auf den empörten Skandalton macht aus seiner Darstellung die kritisch-sympathetische Zeitdiagnose einer zerrissenen Gesellschaft, deren Schwierigkeit mit der eigenen Geschichte weit über den Faschismus zurückreicht, wie die politisch aufgeheizten Auseinandersetzungen um die passende Form des Gedenkens an die Gründung des italienischen Nationalstaates zeigen, dessen 150. Geburtstag im kommenden Jahr ansteht.
CHRISTIANE LIERMANN
Aram Mattioli: "Viva Mussolini!" Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Schöningh Verlag, Paderborn 2010. 204 S., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Nicht dass Rezensent Franz Haas nicht Bescheid wüsste über das Desaster der politischen Kultur Italiens. Wenn er es allerdings derart systematisch kompakt und quellensatt wie bei dem Luzerner Historiker Aram Mattioli, serviert bekommt, läuft es ihm kalt den Rücken runter. Wie der Revisionismus und die Duce-Verharmlosung und -Verherrlichung schleichend salonfähig wurde seit den 1980er Jahren bis heute, wie sich ein Fini (nur zum Schein?) zum Bittgänger in Jerusalem wandeln konnte, wie sich schließlich das historische Gedächtnis eines Landes in den Fußballstadien und in der Regierung Berlusconi vollends selbst auslöschte, um den Faschismus aufzuwerten - all das kann der Rezensent hier nachlesen und kann noch einmal das Gruseln lernen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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