Silvio Berlusconis Aufstieg zum mächtigsten Mann Italiens wurde durch einen tief gehenden Kulturwandel ermöglicht. Die Gesellschaft rückte nicht nur nach rechts. Das vom »Cavaliere« angeführte Bündnis baute die Erinnerungskultur immer mehr in ihrem Sinn um. Weshalb konnte der Faschismus im »Bel paese« wieder salonfähig werden? In die gleichermaßen brisante wie brillante Analyse des prominenten Italienkenners Aram Mattioli werden nicht nur Politikerreden, Memoiren, Bestseller und Filme einbezogen, sondern auch Gedenkrituale, Fernsehdiskussionen und die Errichtung von lokalen Denkmälern. Kurz, der populistisch und zunehmend illiberal regierende Mailänder Medienmogul hat das Land weit mehr verändert, als selbst informierte ausländische Beobachter meinen. Zur Anomalie des heutigen Italiens gehört, dass der grassierende Geschichtsrevisionismus nur noch von einer Minderheit als Skandal empfunden wird. Eine souveräne und konzise Darstellung des gesellschaftlichen Wandels in Italien von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.03.2010Faschismus – auch eine Modeströmung
Aram Mattioli beschreibt den Niedergang der politischen Kultur in Berlusconis Italien
Manchmal fragt man sich schon, wie tief die politische Kultur in Italien noch sinken kann. Anlässlich des populären Sanremo-Schlagerfestivals erklärte der Musikmanager Lele Mora unlängst, er könne sich vorstellen, für die Berlusconi-Partei PDL Politik zu machen. Schließlich sei er ein Mann des rechten Lagers, un fascista, genauer gesagt un mussoliniano. Solche Sprüche von Leuten, die ein gewisses Gewicht in den Medien haben, fallen in Italien schon gar nicht mehr auf.
Faschist? Mussolinianer? Es scheint alles nicht so ernst gemeint zu sein, wie es für fremde Ohren klingen mag. Jedenfalls hat der billige Nonkonformismus in Italien Konjunktur. Da kommt ein Buch des Basler Historikers Aram Mattioli zur rechten Zeit, das untersucht, wie Politiker, Publizisten und andere Meinungsmacher heute über das faschistische Italien reden und so die italienische „Erinnerungspolitik” mitbestimmen.
Billiger Nonkonformismus
Seit dem ersten Amtsantritt von Silvio Berlusconi 1994 in einer Koalition mit der Alleanza Nazionale (der Nachfolgeorganisation der neofaschistischen Bewegung MSI) und der Regionalpartei Lega Nord diskutiert das Land neu über die faschistische Herrschaft unter Benito Mussolini zwischen 1922 und 1943, über die Monate der Sozialrepublik von Salò während der deutschen Besatzung Italiens und die Rolle des antifaschistischen Widerstands. Die Neofaschisten hatten jahrzehntelang als eine Partei außerhalb des „Verfassungsbogens” gegolten, unter dem alle anderen Parteien, die Kommunisten eingeschlossen, demokratisch legitimiert waren. Berlusconis Entscheidung, die Alleanza Nazionale durch eine Koalition in den Verfassungsbogen einzubeziehen, zog folgerichtig den Wandel der politischen Kultur nach sich.
Die früher gleichsam als Parias von allen politischen Institutionen ausgeschlossenen Postfaschisten des MSI, wurden nicht nur salonfähig gemacht, sondern mussten auch in das Wertesystem der demokratischen Republik Italien integriert werden. Also hat sich der MSI unter seinem jungen Parteichef Gianfranco Fini (geboren 1952) im Januar 1995 selbst aufgelöst. An seine Stelle trat die rechtskonservative, „postfaschistische” Alleanza Nazionale (AN), die sich aus der Tradition des Faschismus lösen wollte und sich zu demokratischen Werten bekannte. Zugleich musste der AN in einer sich bis dahin als antifaschistisch verstehenden Gesellschaft gleichsam Platz gemacht werden. Seitdem sind kulturelle Leitwerte verändert und politische Legitimationen neu geschaffen worden. Im Fahrwasser des kulturellen Wandels, schreibt Aram Mattioli, rückte die Gesellschaft nach rechts, und die Ideen der Rechten erhielten „einen kaum für möglich erachteten Raum in den politischen Debatten”. Die Soldaten der Republik von Salò werden zum Beispiel mit dem Widerstand auf eine Stufe gestellt, weil beide angeblich, wenn auch aus unterschiedlichen Antrieben, fürs Vaterland kämpften.
Dass die faschistische Diktatur ein „Megatötungsregime” war und Mussolini ein Verbrecher, der den Tod „von mindestens einer Million Menschen” verschuldete, werde von den Revisionisten schlicht ignoriert. Zugleich mache sich besonders unter jungen Leuten „Ahnungslosigkeit” breit, „ein wachsender Analphabetismus im Fach Faschismus”. Berlusconi selber habe derweil keine Scheu, Wahlbündnisse auch mit Kräften rechts von der AN zumindest auf lokaler und regionaler Ebene einzugehen.
Eine „revisionistische Normalität”, so lautet Aram Mattiolis Grundthese, habe sich durchgesetzt: Italien sei „zu einem Land ohne historisches Gedächtnis geworden”. Um diese These zu belegen, untersucht der Historiker in drei großen Abschnitten die Erosion des antifaschistischen Grundkonsenses, die Elemente des revisionistischen Erinnerungsdiskurses und die rechte Erinnerungspolitik seit dem ersten Amtsantritt Berlusconis.
Nun war es mit dem historischen Gedächtnis – jedenfalls in der breiten italienischen Öffentlichkeit – nie sonderlich weit her. Der Autor selbst spricht von drei unterschiedlichen „Erinnerungsmilieus” in der Nachkriegsgeschichte. Alle drei, die neofaschistische, die konservative und die antifaschistische Erinnerung, hätten jeweils „von den harten Fakten” abgelenkt. Die Nostalgiker verklärten die Vergangenheit, das bürgerliche Lager vernachlässigte die Exzesse der Diktatur und stellte lieber deren modernisierende Wirkung heraus. Und die Linke kreierte den Mythos von einem mehrheitlich antifaschistischen Volk, das schließlich in der Resistenza die Kraft zur Selbstbefreiung gefunden habe.
Mattioli schreibt der „Lebenslüge vom kollektiven Widerstand” immerhin die „historische Leistung” zu, die Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg 1943-45 befriedet zu haben. Man könnte dagegen auch einwenden, dass es gerade diese Lebenslüge war, die den Mythos vom Widerstand, der heute nur noch in einem vagen Verfassungspatriotismus überlebt, zu Leerformeln erstarren ließ und dem Revisionismus Tür und Tor öffnete.
Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der faschistischen Periode hat jedenfalls erst vor wenigen Jahren eingesetzt. Dass es da zu einer Art „Krieg der Erinnerung” gekommen ist, der von unterschiedlichen Fraktionen in der hoch politisierten Geschichtswissenschaft geführt wird und bis in die Medien reicht, zeigt jedoch, dass es durchaus Widerstand gegen revisionistische Thesen gibt.
In dem kulturellen Klima Italiens, das weitgehend vom Fernsehen geprägt wird, bleibt dieser Widerstand allerdings blass. Silvio Berlusconi hat politisch großes Interesse an einer Art entpolitisierter „nationaler Aussöhnung”. Als Herr der Medienlandschaft – und das ist vielleicht bedenklicher als die Revisionismusdebatte selbst – lässt er einerseits willfährige Meinungsmacher auftreten und anderseits durch vorgeblich unpolitische Massenunterhaltung eine Konsumkultur verbreiten, in der die politische Debatte nur noch als Gezänk am Rande eine Rolle spielt.
Aram Mattioli hat ein leidenschaftliches Buch geschrieben. Der 49-Jährige wurde in einer Familie sozialisiert, die, wie er schreibt, „stolz auf die antifaschistische Tradition der Republik Italien und der Resistenza” war. Mit seiner Meinung hält er nicht hinterm Berg. Die Berlusconi-Politik sowie den „wild um sich greifenden” Revisionismus nennt er „dreist” und „skrupellos”.
Willfährige Meinungsmacher
Hier und da mag er übers Ziel hinausschießen. Zum Beispiel verkennt er die Rolle des ehemaligen Postfaschisten Gianfranco Fini, der inzwischen als Parlamentspräsident geradezu als demokratische Alternative zu Berlusconis rechtspopulistischen Allmachtansprüchen erscheint und bei der gemäßigten Linken gar als „Genosse Fini” apostrophiert wird. Dennoch belegen gerade dümmliche Äußerungen gegenwärtiger „Mussolinianer”, wie die Aufwertung des Faschismus und der Niedergang der politischen Kultur in Berlusconis Italien Hand in Hand gehen. HENNING KLÜVER
ARAM MATTIOLI: „Viva Mussolini!” Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010. 204 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Aram Mattioli beschreibt den Niedergang der politischen Kultur in Berlusconis Italien
Manchmal fragt man sich schon, wie tief die politische Kultur in Italien noch sinken kann. Anlässlich des populären Sanremo-Schlagerfestivals erklärte der Musikmanager Lele Mora unlängst, er könne sich vorstellen, für die Berlusconi-Partei PDL Politik zu machen. Schließlich sei er ein Mann des rechten Lagers, un fascista, genauer gesagt un mussoliniano. Solche Sprüche von Leuten, die ein gewisses Gewicht in den Medien haben, fallen in Italien schon gar nicht mehr auf.
Faschist? Mussolinianer? Es scheint alles nicht so ernst gemeint zu sein, wie es für fremde Ohren klingen mag. Jedenfalls hat der billige Nonkonformismus in Italien Konjunktur. Da kommt ein Buch des Basler Historikers Aram Mattioli zur rechten Zeit, das untersucht, wie Politiker, Publizisten und andere Meinungsmacher heute über das faschistische Italien reden und so die italienische „Erinnerungspolitik” mitbestimmen.
Billiger Nonkonformismus
Seit dem ersten Amtsantritt von Silvio Berlusconi 1994 in einer Koalition mit der Alleanza Nazionale (der Nachfolgeorganisation der neofaschistischen Bewegung MSI) und der Regionalpartei Lega Nord diskutiert das Land neu über die faschistische Herrschaft unter Benito Mussolini zwischen 1922 und 1943, über die Monate der Sozialrepublik von Salò während der deutschen Besatzung Italiens und die Rolle des antifaschistischen Widerstands. Die Neofaschisten hatten jahrzehntelang als eine Partei außerhalb des „Verfassungsbogens” gegolten, unter dem alle anderen Parteien, die Kommunisten eingeschlossen, demokratisch legitimiert waren. Berlusconis Entscheidung, die Alleanza Nazionale durch eine Koalition in den Verfassungsbogen einzubeziehen, zog folgerichtig den Wandel der politischen Kultur nach sich.
Die früher gleichsam als Parias von allen politischen Institutionen ausgeschlossenen Postfaschisten des MSI, wurden nicht nur salonfähig gemacht, sondern mussten auch in das Wertesystem der demokratischen Republik Italien integriert werden. Also hat sich der MSI unter seinem jungen Parteichef Gianfranco Fini (geboren 1952) im Januar 1995 selbst aufgelöst. An seine Stelle trat die rechtskonservative, „postfaschistische” Alleanza Nazionale (AN), die sich aus der Tradition des Faschismus lösen wollte und sich zu demokratischen Werten bekannte. Zugleich musste der AN in einer sich bis dahin als antifaschistisch verstehenden Gesellschaft gleichsam Platz gemacht werden. Seitdem sind kulturelle Leitwerte verändert und politische Legitimationen neu geschaffen worden. Im Fahrwasser des kulturellen Wandels, schreibt Aram Mattioli, rückte die Gesellschaft nach rechts, und die Ideen der Rechten erhielten „einen kaum für möglich erachteten Raum in den politischen Debatten”. Die Soldaten der Republik von Salò werden zum Beispiel mit dem Widerstand auf eine Stufe gestellt, weil beide angeblich, wenn auch aus unterschiedlichen Antrieben, fürs Vaterland kämpften.
Dass die faschistische Diktatur ein „Megatötungsregime” war und Mussolini ein Verbrecher, der den Tod „von mindestens einer Million Menschen” verschuldete, werde von den Revisionisten schlicht ignoriert. Zugleich mache sich besonders unter jungen Leuten „Ahnungslosigkeit” breit, „ein wachsender Analphabetismus im Fach Faschismus”. Berlusconi selber habe derweil keine Scheu, Wahlbündnisse auch mit Kräften rechts von der AN zumindest auf lokaler und regionaler Ebene einzugehen.
Eine „revisionistische Normalität”, so lautet Aram Mattiolis Grundthese, habe sich durchgesetzt: Italien sei „zu einem Land ohne historisches Gedächtnis geworden”. Um diese These zu belegen, untersucht der Historiker in drei großen Abschnitten die Erosion des antifaschistischen Grundkonsenses, die Elemente des revisionistischen Erinnerungsdiskurses und die rechte Erinnerungspolitik seit dem ersten Amtsantritt Berlusconis.
Nun war es mit dem historischen Gedächtnis – jedenfalls in der breiten italienischen Öffentlichkeit – nie sonderlich weit her. Der Autor selbst spricht von drei unterschiedlichen „Erinnerungsmilieus” in der Nachkriegsgeschichte. Alle drei, die neofaschistische, die konservative und die antifaschistische Erinnerung, hätten jeweils „von den harten Fakten” abgelenkt. Die Nostalgiker verklärten die Vergangenheit, das bürgerliche Lager vernachlässigte die Exzesse der Diktatur und stellte lieber deren modernisierende Wirkung heraus. Und die Linke kreierte den Mythos von einem mehrheitlich antifaschistischen Volk, das schließlich in der Resistenza die Kraft zur Selbstbefreiung gefunden habe.
Mattioli schreibt der „Lebenslüge vom kollektiven Widerstand” immerhin die „historische Leistung” zu, die Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg 1943-45 befriedet zu haben. Man könnte dagegen auch einwenden, dass es gerade diese Lebenslüge war, die den Mythos vom Widerstand, der heute nur noch in einem vagen Verfassungspatriotismus überlebt, zu Leerformeln erstarren ließ und dem Revisionismus Tür und Tor öffnete.
Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der faschistischen Periode hat jedenfalls erst vor wenigen Jahren eingesetzt. Dass es da zu einer Art „Krieg der Erinnerung” gekommen ist, der von unterschiedlichen Fraktionen in der hoch politisierten Geschichtswissenschaft geführt wird und bis in die Medien reicht, zeigt jedoch, dass es durchaus Widerstand gegen revisionistische Thesen gibt.
In dem kulturellen Klima Italiens, das weitgehend vom Fernsehen geprägt wird, bleibt dieser Widerstand allerdings blass. Silvio Berlusconi hat politisch großes Interesse an einer Art entpolitisierter „nationaler Aussöhnung”. Als Herr der Medienlandschaft – und das ist vielleicht bedenklicher als die Revisionismusdebatte selbst – lässt er einerseits willfährige Meinungsmacher auftreten und anderseits durch vorgeblich unpolitische Massenunterhaltung eine Konsumkultur verbreiten, in der die politische Debatte nur noch als Gezänk am Rande eine Rolle spielt.
Aram Mattioli hat ein leidenschaftliches Buch geschrieben. Der 49-Jährige wurde in einer Familie sozialisiert, die, wie er schreibt, „stolz auf die antifaschistische Tradition der Republik Italien und der Resistenza” war. Mit seiner Meinung hält er nicht hinterm Berg. Die Berlusconi-Politik sowie den „wild um sich greifenden” Revisionismus nennt er „dreist” und „skrupellos”.
Willfährige Meinungsmacher
Hier und da mag er übers Ziel hinausschießen. Zum Beispiel verkennt er die Rolle des ehemaligen Postfaschisten Gianfranco Fini, der inzwischen als Parlamentspräsident geradezu als demokratische Alternative zu Berlusconis rechtspopulistischen Allmachtansprüchen erscheint und bei der gemäßigten Linken gar als „Genosse Fini” apostrophiert wird. Dennoch belegen gerade dümmliche Äußerungen gegenwärtiger „Mussolinianer”, wie die Aufwertung des Faschismus und der Niedergang der politischen Kultur in Berlusconis Italien Hand in Hand gehen. HENNING KLÜVER
ARAM MATTIOLI: „Viva Mussolini!” Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010. 204 Seiten, 19,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2010Duce hier, Duce dort?
Das Italien von heute und der Faschismus
Wird man einmal von einer "Berlusconi-Epoche" der italienischen Geschichte sprechen? Wohlgemerkt: nicht einfach im Sinne der langen Amtsdauer des Ministerpräsidenten, sondern verstanden als Zeitalter, das unter der Ägide eines Mannes bis in die gesellschaftlichen, kulturellen Tiefenschichten geformt wurde - und, wenn ja, welches wären, von historischer Warte aus betrachtet, die spezifischen Merkmale der "Ära Berlusconi"? Mit Aram Mattioli gibt nun ein Kenner der italienischen Zeitgeschichte eine klare Antwort auf diese Frage, indem er die "Aufwertung des Faschismus" zur Signatur der Epoche erklärt. Der Autor zeigt, in welchem Umfang in Italien seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine geschichtspolitische Neuausrichtung stattgefunden hat, deren Dynamik Berlusconi mit strategischem Geschick sowohl zu nutzen als auch zu fördern wusste.
Die italienische Republik, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, hatte aus der institutionell gehegten Behauptung eines breiten antifaschistischen Konsenses ihre Legitimation und Leitwerte geschöpft, allerdings um den Preis, die radikale Rechte dauerhaft ins moralische und politische Abseits zu stellen, wo diese eine komfortable Nostalgiepflege betrieb. Zu Berlusconis Projekt gehörte es nun, wie der Autor plausibel darlegt, den sich seit den späten achtziger Jahren abzeichnenden Bruch dieser Ordnung mitzutragen. Die Grenzen des öffentlich Sagbaren und politisch Korrekten wurden neu vermessen. Der Mailänder Großunternehmer machte die vom Faschismus herkommende Rechte parteipolitisch salon- und regierungsfähig - ein Prozess, der von einer neuartigen Erinnerungskultur im Zeichen jenes Revisionismus flankiert wurde, den Mattioli mit guten Gründen als Hauptachse des italienischen Sonderwegs innerhalb der westeuropäischen Staatenwelt bezeichnet. Seine Studie untersucht die Symptome der auf diese Weise angebahnten "Normalisierung" des Faschismus: von dessen wissenschaftlicher Enttabuisierung bis zur programmatischen Rehabilitierung "alter Kämpfer", von der Umdeutung nationaler Gedenktage bis zur Polemik gegenüber Schulbüchern, denen die einseitige Verherrlichung des antifaschistischen Widerstands vorgeworfen wurde. Sie tut dies angenehm sachlich, ohne Lust am Berlusconi-"Bashing", das vielfach, aber meist ohne Erkenntnisgewinn von Italien-Beobachtern gepflegt wird.
Mattiolis Analyse des Umgangs der italienischen Gesellschaft mit dem Faschismus macht die ungeheure Gegenwart dieser Vergangenheit deutlich, die nicht vergeht und auch gar nicht vergehen soll, weil ihr Fortleben politischen und medialen Profit verspricht. Das Bild, das der Autor zeichnet, erzählt von uralten, in den Jahrzehnten nach 1945 offenbar nur oberflächlich geheilten Konflikten um die Deutung der Rolle des Faschismus für die Identität des heutigen Italien. Gerade der Verzicht auf den empörten Skandalton macht aus seiner Darstellung die kritisch-sympathetische Zeitdiagnose einer zerrissenen Gesellschaft, deren Schwierigkeit mit der eigenen Geschichte weit über den Faschismus zurückreicht, wie die politisch aufgeheizten Auseinandersetzungen um die passende Form des Gedenkens an die Gründung des italienischen Nationalstaates zeigen, dessen 150. Geburtstag im kommenden Jahr ansteht.
CHRISTIANE LIERMANN
Aram Mattioli: "Viva Mussolini!" Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Schöningh Verlag, Paderborn 2010. 204 S., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Italien von heute und der Faschismus
Wird man einmal von einer "Berlusconi-Epoche" der italienischen Geschichte sprechen? Wohlgemerkt: nicht einfach im Sinne der langen Amtsdauer des Ministerpräsidenten, sondern verstanden als Zeitalter, das unter der Ägide eines Mannes bis in die gesellschaftlichen, kulturellen Tiefenschichten geformt wurde - und, wenn ja, welches wären, von historischer Warte aus betrachtet, die spezifischen Merkmale der "Ära Berlusconi"? Mit Aram Mattioli gibt nun ein Kenner der italienischen Zeitgeschichte eine klare Antwort auf diese Frage, indem er die "Aufwertung des Faschismus" zur Signatur der Epoche erklärt. Der Autor zeigt, in welchem Umfang in Italien seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine geschichtspolitische Neuausrichtung stattgefunden hat, deren Dynamik Berlusconi mit strategischem Geschick sowohl zu nutzen als auch zu fördern wusste.
Die italienische Republik, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden war, hatte aus der institutionell gehegten Behauptung eines breiten antifaschistischen Konsenses ihre Legitimation und Leitwerte geschöpft, allerdings um den Preis, die radikale Rechte dauerhaft ins moralische und politische Abseits zu stellen, wo diese eine komfortable Nostalgiepflege betrieb. Zu Berlusconis Projekt gehörte es nun, wie der Autor plausibel darlegt, den sich seit den späten achtziger Jahren abzeichnenden Bruch dieser Ordnung mitzutragen. Die Grenzen des öffentlich Sagbaren und politisch Korrekten wurden neu vermessen. Der Mailänder Großunternehmer machte die vom Faschismus herkommende Rechte parteipolitisch salon- und regierungsfähig - ein Prozess, der von einer neuartigen Erinnerungskultur im Zeichen jenes Revisionismus flankiert wurde, den Mattioli mit guten Gründen als Hauptachse des italienischen Sonderwegs innerhalb der westeuropäischen Staatenwelt bezeichnet. Seine Studie untersucht die Symptome der auf diese Weise angebahnten "Normalisierung" des Faschismus: von dessen wissenschaftlicher Enttabuisierung bis zur programmatischen Rehabilitierung "alter Kämpfer", von der Umdeutung nationaler Gedenktage bis zur Polemik gegenüber Schulbüchern, denen die einseitige Verherrlichung des antifaschistischen Widerstands vorgeworfen wurde. Sie tut dies angenehm sachlich, ohne Lust am Berlusconi-"Bashing", das vielfach, aber meist ohne Erkenntnisgewinn von Italien-Beobachtern gepflegt wird.
Mattiolis Analyse des Umgangs der italienischen Gesellschaft mit dem Faschismus macht die ungeheure Gegenwart dieser Vergangenheit deutlich, die nicht vergeht und auch gar nicht vergehen soll, weil ihr Fortleben politischen und medialen Profit verspricht. Das Bild, das der Autor zeichnet, erzählt von uralten, in den Jahrzehnten nach 1945 offenbar nur oberflächlich geheilten Konflikten um die Deutung der Rolle des Faschismus für die Identität des heutigen Italien. Gerade der Verzicht auf den empörten Skandalton macht aus seiner Darstellung die kritisch-sympathetische Zeitdiagnose einer zerrissenen Gesellschaft, deren Schwierigkeit mit der eigenen Geschichte weit über den Faschismus zurückreicht, wie die politisch aufgeheizten Auseinandersetzungen um die passende Form des Gedenkens an die Gründung des italienischen Nationalstaates zeigen, dessen 150. Geburtstag im kommenden Jahr ansteht.
CHRISTIANE LIERMANN
Aram Mattioli: "Viva Mussolini!" Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Schöningh Verlag, Paderborn 2010. 204 S., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wie spricht das öffentliche Italien heute über seine faschistische Vergangenheit? Im Buch des Basler Historikers Aram Mattioli, das für Henning Klüver gerade zu richtigen Zeit erscheint, findet der Rezensent Antworten. Es steht nicht gut um Italiens Erinnerungskultur, das lernt Klüver hier schnell, die "revisionistische Normalität", so die These des Autors, hat sich durchgesetzt. Mattiolis Untersuchung möglicher Ursachen dafür vermag der Rezensent nur wenig entgegenzusetzen (die Rolle Gianfranco Finis etwa sieht er anders): Der Widerstand gegen den revisionistischen Erinnerungsdiskurs, muss er eingestehen, bleibt im derzeitigen kulturellen Klima Italiens tatsächlich "blass". Um so mehr gilt die Achtung des Rezensenten diesem "leidenschaftlich" geschriebenen Buch und einem Autor, der seine Meinung sagt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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