Die Grundkonflikte im Nahen und Mittleren Osten haben sich zu Kriegen ausgeweitet, die die alten Normen des Kriegsverbots gesprengt haben und seine Fesseln vollends zu sprengen drohen. Die Kluft der Armut zwischen Süd und Nord hat sich vergrößert, ohne dass die reichen Staaten zwischen Kyoto und Rio bereit wären, das alte Projekt einer 'Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung' von 1974 wiederzubeleben.Die Kodifikationen der Menschenrechte und der Internationalen Strafgerichtsbarkeit sind Meilensteine der Völkerrechtsentwicklung, die jedoch von ihrem offenen Missbrauch entwertet werden. Die alten Institutionen der UNO werden immer wieder in Frage gestellt, und dennoch wird ohne sie und das Völkerrecht das Chaos und die Gewalt zwischen den Staaten nicht zu bändigen sein.Grund genug, das Standardwerk nach mehr als zehn Jahren auf den aktuellen Stand zu bringen. Bewahrt haben die Autoren ihr Grundprinzip, die Entwicklung des Völkerrechts, seine Wirkung, aber auch seine Ohnmacht vor dem Hintergrund der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft, ihres kapitalistischen Marktes und ihrer kolonialen Herrschaft darzustellen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Das Engagement der beiden Autoren, emeritierte Rechtsprofessoren alle beide, für ein materialgerechtes Völkerrecht findet Wolfgang Graf Vitzthum lobenswert. Weniger gut gefallen hat ihm der Umstand, dass die Autoren in ihrem laut Rezensent ansonsten gut lesbaren historisch-kritischen Studienbuch zu Völkerrecht und Machtpolitik eine methodische Reflexion der Wechselwirkung der beiden Faktoren vermissen lassen. Das Literaturverzeichnis findet er imposant, aber nicht repräsentativ. Darüber hinaus jedoch liegt mit dem Band laut Rezensent eine dichte, fesselnde völkerrechtshistorische Studie vor, die vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht. Höhepunkte für Wolfgang Graf Vitzthum: die Perioden "Völkerbund" und "Dekolonisierung", ferner der rechtsdogmatische Teil des Buches, in dem die Autoren über die Staaten als Hauptakteure des "internationalen Systems" berichten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2014Souveränität in der globalen Ära
Ein historisch-kritisches Studienbuch über Völkerrecht und Machtpolitik
Der Zusammenbruch der sozialistischen Regime in Osteuropa brachte der völkerrechtlichen Ordnung keine substantielle Dividende. Eine Tagung über die Frage "Neues europäisches Völkerrecht nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes?" konnte 1994 selbst für Europa keinen normativen Qualitätssprung feststellen. Die stürmischen Jahre seither lieferten Belege für zahlreiche Rechtsänderungen im Detail. Selbst aufaddiert erreichen sie aber nicht die Wucht einer umfassenden inhaltlichen Neuordnung. Gewiss, das auf Souveränität fixierte sozialistische Völkerrecht mit seinem Doppelstandard im Bereich des Gewalt- und Interventionsverbots gibt es nicht mehr. Aber weder bei der Anerkennung neuer Staaten, noch etwa bei der Staatennachfolge, beim Selbstbestimmungsrecht der Völker, beim Kulturgüter- und Umweltschutz oder bei der Durchsetzung der Menschen- und der Minderheitenrechte führten die tiefgreifenden politischen Veränderungen zu einem qualitativ neuen Normenbestand.
Anderer Ansicht sind Norman Paech und Gerhard Stuby, emeritierte Professoren des öffentlichen Rechts in Hamburg beziehungsweise Bremen. Sie schildern in ihrem historisch-kritischen Studienbuch das geltende Recht, "die neue Völkerrechtsordnung", im Horizont der als epochal qualifizierten Zäsur von 1989/90. Über Epochenbildung lässt sich streiten. Antonio Cassese (Florenz) etwa teilt die Ansicht der Autoren. Die meisten Analysen betonen demgegenüber den Einschnitt von 1945: das Weltkriegsende und die Gründung der Vereinten Nationen. Manche sehen im terroristischen Überfall vom 11. September 2001 die noch tiefere Zäsur. Das Aufkommen eines militanten politischen Islam und der substantielle Fortschritt bei der europäischen Integration sind weitere Kandidaten für Versuche der Periodisierung.
Paech und Stuby benennen die nach dem Ende des Kalten Krieges einsetzende Ära als "global-kapitalistische Herrschaftsordnung" unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten von Amerika. Im unübersichtlichen Jahr 2001 - bei der 1. Auflage ihres Werkes - mochte dies noch angehen. Mittlerweile vermehrt das Hineinwachsen Chinas in die Rolle einer möglichen Gegenmacht die Zweifel an jener Epochenqualifizierung. Die imperiale chinesische Herausforderung wird in der "Aktualisierten Ausgabe" von 2013 noch nicht berücksichtigt. Gleiches gilt von der Ubiquität und blutigen Härte vieler religiös motivierter Konflikte.
Das gut lesbare Studienbuch verfolgt einen doppelten Ansatz. Zum einen geht es um Völkerrechtsgeschichte: "Nur in der historischen Entwicklung der einzelnen Institute und Prinzipien, den Auseinandersetzungen und Kämpfen um ihre Durchsetzung erschließt sich uns ihr Geltungsgrund und Regelungsanspruch." Zum anderen werden die "Hauptelemente der neuen Völkerrechtsordnung" geschildert, unter Berücksichtigung der real existierenden Kräfteverhältnisse. Die ausschließlich normative Betrachtungsweise wird also gezielt überschritten. Zahlreiche Fallbeispiele illustrieren vornehmlich die delegitimierende Rolle des Völkerrechts bei der Machtentfaltung in den internationalen Beziehungen.
Frucht jenes ersten Ansatzes ist eine dichte, fesselnde völkerrechtshistorische Studie. Sie reicht vom Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur gegenwärtigen, angeblich "unipolaren Welt". Darstellerische Höhepunkte sind die Perioden "Völkerbund" und "Dekolonisierung". Zu bedauern ist das Ausblenden aller früheren Epochen. Selbst das späte Mittelalter mit seinen religiös-ethischen Standards und personalen normativen Ordnungen wird nicht herangezogen. Weltherrschafts- und Weltstaatsgedanken, diplomatische Beziehungen zwischen christlichen Fürsten und muslimischen Herrschern sowie Vorstellungen einer Gemeinschaft, ja "Körperschaft" der abendländischen Könige gab es schon früher, ebenso "friedenschaffende" Interventionen als "Pflicht" der Herrscher-"Gilde". Zumindest Letzteres hätte eine Untersuchung berücksichtigen können, die "humanitäre Interventionen" ausnahmslos und alternativlos als völkerrechtswidrig verurteilt.
Der rechtsdogmatische Hauptteil des Buches unterrichtet über die Staaten als die Hauptakteure des "internationalen Systems", über die Quellen des "rechtlichen Rahmens der internationalen Beziehungen" sowie über die kollektive Friedenssicherung, das humanitäre Völkerrecht, das Kriegsrecht und das Recht der bewaffneten Konflikte. Geschildert werden des Weiteren der internationale Schutz der Menschenrechte, die "Weltwirtschaftsordnung im Wandel des Völkerrechts" und die "Bewahrung von Natur und Umwelt in souveränitätsfreien Räumen". Diese Informationen finden sich auch in den meisten einschlägigen Lehrbüchern, freilich unterschiedlich akzentuiert. Differenzierungen drängen sich in der Tat auf. Das Recht des Investitionsschutzes, der Rechtsstatus von Nordzypern und der Westsahara sowie angeblich weiter bestehende Reparationsschulden Deutschlands werden kaum balanciert behandelt. Paech und Stuby erläutern zudem die Grenzen des Selbstbestimmungsrechts der Völker so wenig wie ihre Forderung, die Herrschaftsstrukturen zu nivellieren und das Völkerrecht zu demokratisieren - Forderungen, die ebenfalls zu kritischer Diskussion einladen.
Ohne größeren Schaden übergeht das Buch die ergebnisarmen rechtstheoretischen und -dogmatischen Debatten über die "Konstitutionalisierung des Völkerrechts", die "Staatengemeinschaft als Rechte- und Pflichtengemeinschaft" und das viel berufene "Ende des Staates". Geradezu polemisch verwerfen beide Autoren die Weltstaats-, Weltdemokratie- und Weltbürgervisionen von Jürgen Habermas. Bei aller ihrer sonstigen "Progressivität" beharren sie auf der Unentbehrlichkeit der staatlichen Souveränität, auch in der globalen Ära. Das Literaturverzeichnis ist imposant, aber nicht repräsentativ. Beispielsweise finden sich von Paech allein so viele Titel aufgelistet wie von allen ausstrahlungsstarken Nachkriegsdirektoren des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Völkerrecht zusammen. Die durchgängige Theorieabstinenz des Buches ist bedauerlich. Ein Werk, das Recht und Realien, Sollen und Sein, eben "Völkerrecht und Machtpolitik", pointiert zusammenführt, sollte über die Wechselwirkung dieser beiden titelgebenden Faktoren methodisch abgesichert reflektieren. Max Hubers Schrift über die Seinsgrundlagen des Völkerrechts (1910) und Wolfgang Friedmanns Untersuchung über das Recht als Regulator und Funktion des sozialen Wandels (1969) könnten bei der bilanzierenden Theoriebildung helfen. Vielleicht enthält eine Neuauflage des Buches dereinst diesen Mehrwert. Das wäre gerade bei einem Werk zu wünschen, das sich - ohne vor den Tatsachen zu kapitulieren oder ihre Relevanz im Recht zu leugnen - für ein materialgerechtes Völkerrecht engagiert.
WOLFGANG GRAF VITZTHUM
Norman Paech/Gerhard Stuby: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Aktualisierte Ausgabe. VSA Verlag, Hamburg 2013. 1062 S., 60,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein historisch-kritisches Studienbuch über Völkerrecht und Machtpolitik
Der Zusammenbruch der sozialistischen Regime in Osteuropa brachte der völkerrechtlichen Ordnung keine substantielle Dividende. Eine Tagung über die Frage "Neues europäisches Völkerrecht nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes?" konnte 1994 selbst für Europa keinen normativen Qualitätssprung feststellen. Die stürmischen Jahre seither lieferten Belege für zahlreiche Rechtsänderungen im Detail. Selbst aufaddiert erreichen sie aber nicht die Wucht einer umfassenden inhaltlichen Neuordnung. Gewiss, das auf Souveränität fixierte sozialistische Völkerrecht mit seinem Doppelstandard im Bereich des Gewalt- und Interventionsverbots gibt es nicht mehr. Aber weder bei der Anerkennung neuer Staaten, noch etwa bei der Staatennachfolge, beim Selbstbestimmungsrecht der Völker, beim Kulturgüter- und Umweltschutz oder bei der Durchsetzung der Menschen- und der Minderheitenrechte führten die tiefgreifenden politischen Veränderungen zu einem qualitativ neuen Normenbestand.
Anderer Ansicht sind Norman Paech und Gerhard Stuby, emeritierte Professoren des öffentlichen Rechts in Hamburg beziehungsweise Bremen. Sie schildern in ihrem historisch-kritischen Studienbuch das geltende Recht, "die neue Völkerrechtsordnung", im Horizont der als epochal qualifizierten Zäsur von 1989/90. Über Epochenbildung lässt sich streiten. Antonio Cassese (Florenz) etwa teilt die Ansicht der Autoren. Die meisten Analysen betonen demgegenüber den Einschnitt von 1945: das Weltkriegsende und die Gründung der Vereinten Nationen. Manche sehen im terroristischen Überfall vom 11. September 2001 die noch tiefere Zäsur. Das Aufkommen eines militanten politischen Islam und der substantielle Fortschritt bei der europäischen Integration sind weitere Kandidaten für Versuche der Periodisierung.
Paech und Stuby benennen die nach dem Ende des Kalten Krieges einsetzende Ära als "global-kapitalistische Herrschaftsordnung" unter der Hegemonie der Vereinigten Staaten von Amerika. Im unübersichtlichen Jahr 2001 - bei der 1. Auflage ihres Werkes - mochte dies noch angehen. Mittlerweile vermehrt das Hineinwachsen Chinas in die Rolle einer möglichen Gegenmacht die Zweifel an jener Epochenqualifizierung. Die imperiale chinesische Herausforderung wird in der "Aktualisierten Ausgabe" von 2013 noch nicht berücksichtigt. Gleiches gilt von der Ubiquität und blutigen Härte vieler religiös motivierter Konflikte.
Das gut lesbare Studienbuch verfolgt einen doppelten Ansatz. Zum einen geht es um Völkerrechtsgeschichte: "Nur in der historischen Entwicklung der einzelnen Institute und Prinzipien, den Auseinandersetzungen und Kämpfen um ihre Durchsetzung erschließt sich uns ihr Geltungsgrund und Regelungsanspruch." Zum anderen werden die "Hauptelemente der neuen Völkerrechtsordnung" geschildert, unter Berücksichtigung der real existierenden Kräfteverhältnisse. Die ausschließlich normative Betrachtungsweise wird also gezielt überschritten. Zahlreiche Fallbeispiele illustrieren vornehmlich die delegitimierende Rolle des Völkerrechts bei der Machtentfaltung in den internationalen Beziehungen.
Frucht jenes ersten Ansatzes ist eine dichte, fesselnde völkerrechtshistorische Studie. Sie reicht vom Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur gegenwärtigen, angeblich "unipolaren Welt". Darstellerische Höhepunkte sind die Perioden "Völkerbund" und "Dekolonisierung". Zu bedauern ist das Ausblenden aller früheren Epochen. Selbst das späte Mittelalter mit seinen religiös-ethischen Standards und personalen normativen Ordnungen wird nicht herangezogen. Weltherrschafts- und Weltstaatsgedanken, diplomatische Beziehungen zwischen christlichen Fürsten und muslimischen Herrschern sowie Vorstellungen einer Gemeinschaft, ja "Körperschaft" der abendländischen Könige gab es schon früher, ebenso "friedenschaffende" Interventionen als "Pflicht" der Herrscher-"Gilde". Zumindest Letzteres hätte eine Untersuchung berücksichtigen können, die "humanitäre Interventionen" ausnahmslos und alternativlos als völkerrechtswidrig verurteilt.
Der rechtsdogmatische Hauptteil des Buches unterrichtet über die Staaten als die Hauptakteure des "internationalen Systems", über die Quellen des "rechtlichen Rahmens der internationalen Beziehungen" sowie über die kollektive Friedenssicherung, das humanitäre Völkerrecht, das Kriegsrecht und das Recht der bewaffneten Konflikte. Geschildert werden des Weiteren der internationale Schutz der Menschenrechte, die "Weltwirtschaftsordnung im Wandel des Völkerrechts" und die "Bewahrung von Natur und Umwelt in souveränitätsfreien Räumen". Diese Informationen finden sich auch in den meisten einschlägigen Lehrbüchern, freilich unterschiedlich akzentuiert. Differenzierungen drängen sich in der Tat auf. Das Recht des Investitionsschutzes, der Rechtsstatus von Nordzypern und der Westsahara sowie angeblich weiter bestehende Reparationsschulden Deutschlands werden kaum balanciert behandelt. Paech und Stuby erläutern zudem die Grenzen des Selbstbestimmungsrechts der Völker so wenig wie ihre Forderung, die Herrschaftsstrukturen zu nivellieren und das Völkerrecht zu demokratisieren - Forderungen, die ebenfalls zu kritischer Diskussion einladen.
Ohne größeren Schaden übergeht das Buch die ergebnisarmen rechtstheoretischen und -dogmatischen Debatten über die "Konstitutionalisierung des Völkerrechts", die "Staatengemeinschaft als Rechte- und Pflichtengemeinschaft" und das viel berufene "Ende des Staates". Geradezu polemisch verwerfen beide Autoren die Weltstaats-, Weltdemokratie- und Weltbürgervisionen von Jürgen Habermas. Bei aller ihrer sonstigen "Progressivität" beharren sie auf der Unentbehrlichkeit der staatlichen Souveränität, auch in der globalen Ära. Das Literaturverzeichnis ist imposant, aber nicht repräsentativ. Beispielsweise finden sich von Paech allein so viele Titel aufgelistet wie von allen ausstrahlungsstarken Nachkriegsdirektoren des Heidelberger Max-Planck-Instituts für Völkerrecht zusammen. Die durchgängige Theorieabstinenz des Buches ist bedauerlich. Ein Werk, das Recht und Realien, Sollen und Sein, eben "Völkerrecht und Machtpolitik", pointiert zusammenführt, sollte über die Wechselwirkung dieser beiden titelgebenden Faktoren methodisch abgesichert reflektieren. Max Hubers Schrift über die Seinsgrundlagen des Völkerrechts (1910) und Wolfgang Friedmanns Untersuchung über das Recht als Regulator und Funktion des sozialen Wandels (1969) könnten bei der bilanzierenden Theoriebildung helfen. Vielleicht enthält eine Neuauflage des Buches dereinst diesen Mehrwert. Das wäre gerade bei einem Werk zu wünschen, das sich - ohne vor den Tatsachen zu kapitulieren oder ihre Relevanz im Recht zu leugnen - für ein materialgerechtes Völkerrecht engagiert.
WOLFGANG GRAF VITZTHUM
Norman Paech/Gerhard Stuby: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Aktualisierte Ausgabe. VSA Verlag, Hamburg 2013. 1062 S., 60,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main