Produktdetails
- Verlag: Hanser
- ISBN-13: 9783446199262
- ISBN-10: 3446199268
- Artikelnr.: 08850821
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.01.2001Allgemein
"Vogelflüge" von Vilém Flusser. Carl Hanser Verlag, München 2000. 130 Seiten. Kartoniert, 29,80 Mark. ISBN 3-446-19926-8.
Wie durchquert man, reisend, seine Zeit? Und was passiert, wenn man begreift, daß es keinen Bestimmungsort gibt ("Schicksal"), sondern man sich auf einer abenteuerlichen Reise befindet "ohne Ziel und Sinn"? Verstrickt in alle möglichen Antwortversuche, hat Vilém Flusser den ungewöhnlichsten Reiseführer der letzten Jahre geschrieben. Die Idee zu dem Buch kam ihm während einer Fahrt durch Mitteleuropa, und adressiert waren die Reisenotizen zunächst an Leser in Brasilien, wohin Flusser, 1920 in Prag geboren, 1940 emigriert war und wo er an der Universität São Paulo bis zu seinem Tod 1991 Kommunikationsphilosophie lehrte. Indem Flusser, den brasilianischen Leser vor Augen, kein Interesse entwickeln mußte, die europäische Wirklichkeit zu ändern, konnte er in seinen Überlegungen einen interessierten, aber vorurteilslosen Blick ausprobieren. Das Buch wurde zu einer kleinen Schule der Wahrnehmung, in der in glänzenden Formulierungen alltäglichen Dingen eine poetische Dimension entlockt wird. Es erzählt vom Wind und vom Regen, von Wiesen und vom Mond, von Knospen und vom Nebel, von Zedern oder dem Flug der Vögel. Die von Flusser vorgefundene Landkarte der Welt, die er um eigene Erfindungen ergänzt, sieht dabei so aus: Die Menschheit sei eine Horde von Invasoren, von Immigranten, die seit wahrscheinlich acht Millionen Jahren in die Landschaft einbreche, in verschiedenen Wellen, auf der Suche nach Rentieren, Mammuts, Gräsern, Vieh, Salz, Kohle, Elektrizität, "kurz, auf der Suche nach Glück". Woher die Horde gekommen sei, wisse man nicht. "Es wäre wahrscheinlich eine ,falsche' Frage, danach zu fragen, denn es gibt keine Methode, sie zu beantworten." Aber die Frage stellt sich, und sie ist auf faszinierende Weise beunruhigend. Flusser unterwegs in die Bretagne, nach Carnac, zu den Menhiren, fragt sich wie jedermann: "Was waren das für Menschen, die 2000 Jahre vor dem Bau der ersten ägyptischen Pyramide absurderweise Tausende von schweren, spitzen und unregelmäßigen Steinen errichtet haben?" Carnac, meint Flusser zu wissen, könne nicht im Geist dieser Menschen entstanden sein und keinem ihrer Bedürfnisse entsprungen sein. "Beim Bau der Reihen von Carnac mußten diese unbekannten Völker, diese Bewohner der vorägyptischen Bretagne, um sich ziellose Wege zu bahnen, Projekten gehorcht haben, die ihnen unbekannt waren." Insofern sei der Code von Carnac immer schon geheim und immer schon höchst konnotativ gewesen. Aufmerksam für solchen Zauber der Welt, bewegt sich Flusser durch Europa und liefert uns in fein ziselierten Prosamedaillons seine Sicht und sein Verständnis der Welt, mit großer innerer Erregung Grenzsituationen ausleuchtend und bemüht, sich eine konkrete Sicht auf das "Sublime" zu erarbeiten, das für ihn die dritte Dimension der Welt ausmacht. Das Sublime besteht für ihn etwa in dem Wissen, daß, wer nie bergauf gegangen sei, nie gelebt habe. "Er vegetiert in der Ebene. Wer aber durch das Tal bergauf gegangen und dort geblieben ist, hat ebensowenig gelebt." Denn daß es ein unlebbares Konzept ist, sich auf einem Berggipfel zu isolieren und, wie Unamuno gesagt hat, in der völligen Einsamkeit "seine Wahrheit" zu verlieren, weiß Flusser auch. Es geht ihm um die Wahl der Entscheidung, den notwendigen Rückweg so zu gestalten, daß er den Aufstieg nicht mehr ungültig macht und der, der zurückkommt, nicht mehr der gleiche ist. Nach Lektüre dieses Buches wissen wir wieder ein wenig mehr darüber, wie die Menschen sich die Welt eingerichtet haben - und was sie in sie hinaustreibt. (Lin.)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Vogelflüge" von Vilém Flusser. Carl Hanser Verlag, München 2000. 130 Seiten. Kartoniert, 29,80 Mark. ISBN 3-446-19926-8.
Wie durchquert man, reisend, seine Zeit? Und was passiert, wenn man begreift, daß es keinen Bestimmungsort gibt ("Schicksal"), sondern man sich auf einer abenteuerlichen Reise befindet "ohne Ziel und Sinn"? Verstrickt in alle möglichen Antwortversuche, hat Vilém Flusser den ungewöhnlichsten Reiseführer der letzten Jahre geschrieben. Die Idee zu dem Buch kam ihm während einer Fahrt durch Mitteleuropa, und adressiert waren die Reisenotizen zunächst an Leser in Brasilien, wohin Flusser, 1920 in Prag geboren, 1940 emigriert war und wo er an der Universität São Paulo bis zu seinem Tod 1991 Kommunikationsphilosophie lehrte. Indem Flusser, den brasilianischen Leser vor Augen, kein Interesse entwickeln mußte, die europäische Wirklichkeit zu ändern, konnte er in seinen Überlegungen einen interessierten, aber vorurteilslosen Blick ausprobieren. Das Buch wurde zu einer kleinen Schule der Wahrnehmung, in der in glänzenden Formulierungen alltäglichen Dingen eine poetische Dimension entlockt wird. Es erzählt vom Wind und vom Regen, von Wiesen und vom Mond, von Knospen und vom Nebel, von Zedern oder dem Flug der Vögel. Die von Flusser vorgefundene Landkarte der Welt, die er um eigene Erfindungen ergänzt, sieht dabei so aus: Die Menschheit sei eine Horde von Invasoren, von Immigranten, die seit wahrscheinlich acht Millionen Jahren in die Landschaft einbreche, in verschiedenen Wellen, auf der Suche nach Rentieren, Mammuts, Gräsern, Vieh, Salz, Kohle, Elektrizität, "kurz, auf der Suche nach Glück". Woher die Horde gekommen sei, wisse man nicht. "Es wäre wahrscheinlich eine ,falsche' Frage, danach zu fragen, denn es gibt keine Methode, sie zu beantworten." Aber die Frage stellt sich, und sie ist auf faszinierende Weise beunruhigend. Flusser unterwegs in die Bretagne, nach Carnac, zu den Menhiren, fragt sich wie jedermann: "Was waren das für Menschen, die 2000 Jahre vor dem Bau der ersten ägyptischen Pyramide absurderweise Tausende von schweren, spitzen und unregelmäßigen Steinen errichtet haben?" Carnac, meint Flusser zu wissen, könne nicht im Geist dieser Menschen entstanden sein und keinem ihrer Bedürfnisse entsprungen sein. "Beim Bau der Reihen von Carnac mußten diese unbekannten Völker, diese Bewohner der vorägyptischen Bretagne, um sich ziellose Wege zu bahnen, Projekten gehorcht haben, die ihnen unbekannt waren." Insofern sei der Code von Carnac immer schon geheim und immer schon höchst konnotativ gewesen. Aufmerksam für solchen Zauber der Welt, bewegt sich Flusser durch Europa und liefert uns in fein ziselierten Prosamedaillons seine Sicht und sein Verständnis der Welt, mit großer innerer Erregung Grenzsituationen ausleuchtend und bemüht, sich eine konkrete Sicht auf das "Sublime" zu erarbeiten, das für ihn die dritte Dimension der Welt ausmacht. Das Sublime besteht für ihn etwa in dem Wissen, daß, wer nie bergauf gegangen sei, nie gelebt habe. "Er vegetiert in der Ebene. Wer aber durch das Tal bergauf gegangen und dort geblieben ist, hat ebensowenig gelebt." Denn daß es ein unlebbares Konzept ist, sich auf einem Berggipfel zu isolieren und, wie Unamuno gesagt hat, in der völligen Einsamkeit "seine Wahrheit" zu verlieren, weiß Flusser auch. Es geht ihm um die Wahl der Entscheidung, den notwendigen Rückweg so zu gestalten, daß er den Aufstieg nicht mehr ungültig macht und der, der zurückkommt, nicht mehr der gleiche ist. Nach Lektüre dieses Buches wissen wir wieder ein wenig mehr darüber, wie die Menschen sich die Welt eingerichtet haben - und was sie in sie hinaustreibt. (Lin.)
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Flusser, meint ein "Lin." kürzelnder Rezensent, habe den ungewöhnlichsten Reiseführer der letzten Jahre geschrieben: eine kleine Schule der Wahrnehmung, ein Experiment mit dem "vorurteilslosen Blick", in dem "in glänzenden Formulierungen alltäglichen Dingen eine poetische Dimension" entlockt werde. Flusser erzähle vom Wind und vom Regen, von Wiesen und vom Mond oder dem Flug der Vögel. Dabei entsteht eine "Landkarte der Welt", auf der die Gattung Mensch eine eher unheilvolle Rolle spiele: die einer Horde von Invasoren nämlich, die einst in die Landschaft eingebrochen seien - auf der Suche nach Glück. Voller Faszination für Flusser Gedankengebäude, beschreibt der Rezensent Linien und Flüge durch Zeiten und Landschaften dieses Buches und vermittelt den Eindruck einer ungewöhnlichen, auch einer ungewöhnlich schönen Lektüre. Am Ende, so "Lin.", weiß man wieder ein wenig mehr darüber, wie die Menschen "sich in dieser Welt eingerichtet" haben, und was sie "in sie hinaus" treibt.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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