Ein Mann hat alles verloren, seine Freundin, seine Geliebte, seinen Beruf, seine Wohnung und ist hoch verschuldet. Nun lebt er allein auf einer Insel in der Elbmündung als Vogelwart. Doch Anna kündigt ihren Besuch an - eben jene Anna, die vor sechs Jahren vor ihm nach New York geflohen ist und zuvor sein Leben komplett aus den Angeln gehoben hat. Während Eschenbach sich auf das Wiedersehen mit ihr vorbereitet, besuchen ihn die Geister der Vergangenheit und es entfaltet sich die Geschichte von Eschenbach, Selma, Anna und Ewald. Die Geschichte von zwei Paaren, die glücklich miteinander waren und es nicht bleiben konnten. Uwe Timm erzählt präzise, schön, komisch und klug von den geheimnisvollen Spielregeln des Lebens und von der Kunst des Abschieds.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.08.2013Was kostet ein Kilo Begehren?
Uwe Timm hat einen Roman über die Liebe in all ihren Erscheinungsformen geschrieben. Dabei versinkt seine "Vogelweide" im Anspielungssumpf.
Der Versuch der Trennung war für die Liebenden jedes Mal wieder ein Anfang. Sie mussten sich nur sehen, und der Augenblick führte sie aufs Neue zusammen. Eben sagte sie noch: Ich will dich nicht mehr sehen, ich bin verheiratet, glücklich verheiratet, mir fehlt es an nichts. Doch dann widersprach er, und sie lenkte ein. So ungefähr geht die Geschichte von Anna und Eschenbach, die sich freilich nicht erzählen lässt, ohne auch von Ewald und Selma zu berichten. Und es ist, natürlich, die alte Geschichte: Zwei Paare, die miteinander nicht unglücklich sind, verlieben sich trotzdem jenseits ihrer Ehe.
Das geschieht in der Berliner Mittelschichtsgesellschaft mit Stadtwohnung und Haus am See so häufig wie anderswo auch. Eschenbach, ein studierter Theologe und erfolgreicher Unternehmer von Mitte fünfzig, ist liiert mit der Kunstschmiedin Selma, hat sich aber in Anna verliebt, die Frau des Architekten Ewald. Dass sich die Umschwärmte tatsächlich auf ein Verhältnis mit ihm einlässt, versteht die Mutter und Kunstlehrerin selbst am allerwenigsten: "Beide haben wir Glück", hadert sie, "lieben unsere Partner. Warum also das? Es gibt keinen Mangel an Liebe." Dass sie glücklich ist und trotzdem mehr will, erscheint ihr maßlos. Und trotzdem stürzt sie zum nächsten Rendezvous.
Denn einmal von den Vorsätzen befreit, trifft sich das Paar unter immer aberwitzigeren Umständen. Da werden Arztbesuche erfunden und Schüler im Werkraum vergessen, weil die Zeit so schnell vergeht. Man trifft sich in Hotels, und es ist den beiden egal, was das Personal über das Paar ohne Koffer sagt, das schon zwei Stunden später das Zimmer wieder verlässt. Es geht sogar zu Anna nach Hause, wenn die Kinder in der Schule sind und das Au-pair-Mädchen im Deutschkurs sitzt. Da waren keine Überlegung, kein Takt, keine Rücksichtnahme: "Sie waren, so sagte er es für sich und für sie, von Sinnen."
Der Liebesrausch im Venusberg dauert drei Monate, dann kommt der Absturz. Dass danach nichts mehr ist, wie es einmal war, erfahren wir gleich zu Beginn des neuen Romans von Uwe Timm. Und damit fangen die Probleme an. Denn der Schriftsteller, der es in seinem OEuvre meisterlich versteht, politische, historische und private Wirklichkeit ineinanderfließen zu lassen, richtet nunmehr den Blick auf Herzen in Aufruhr. Das geht nicht gut. Weil die Konstruktion der Geschichte dem Autor im Weg steht. Weil er es nicht schafft, seine Idee von Liebe, Macht und Begehren mit Leben zu füllen.
Das fängt beim Titel "Vogelweide" an, der nicht nur auf Eschenbachs Aufenthalt auf einer unbewohnten Nordseeinsel anspielt, auf der er als Vogelwart Unterschlupf findet, sondern auch auf den Minnesänger, der die erfüllte Liebe von gleich zu gleich besang - alles übrigens Personal aus Wagners "Tannhäuser", der Oper schlechthin, wenn es sich um Liebe und Sünde, Buße und Gnade dreht. Darunter geht es in diesem Roman nicht. Und dabei droht er vor lauter Anspielungen auf Shakespeare über Storm bis zu Shackleton die eigene Stimme zu verlieren.
Da sitzt Eschenbach, nachdem er die Frau, die Firma und die Geliebte verloren hat, allein mit sich und der Vogelwelt auf der Insel und erinnert sich der turbulenten Ereignisse sechs Jahre zuvor. Anlass für seine Rückschau ist ein Anruf von Anna, die erstmals nach der Trennung wieder von sich hören lässt und den Eremiten in seiner Klause auch noch aufsuchen will. Bis sie es schließlich auf das Eiland schafft, das nur bei Ebbe und mit einer Pferdekutsche zu erreichen ist, vergehen noch 285 Seiten, in denen erzählt wird, was bisher geschah.
Tatsächlich will Uwe Timm die Liebe in all ihren Erscheinungsformen ausloten. Das tut er ein bisschen so, als habe ihm beim Schreiben eine Liste vorgelegen, die es abzuhaken galt. Das Internet mit seinen natürlich verwerflichen, weil seelenlosen Kontaktbörsen kommt dabei ebenso vor wie eine Meinungsforscherin, die dem Wesen der Liebe mit Statistik auf die Sprünge helfen will: "Ja. Dieses Streben nach Glück und der Liebe ist bestimmbar. Wir müssen es erforschen." Dass hier eine überflüssige Karikatur von Elisabeth Noelle-Neumann gezeichnet wird, ist so wenig originell wie der Bezug zu anderen Personen der Zeitgeschichte wie Margot Käßmann oder Ronald Reagan.
Wie gern hätte man von diesem Autor etwas Überraschendes oder gar Neues über das Begehren erfahren. Stattdessen wirft er einen überreflektierten Blick auf unsere Wirklichkeit, der zu stereotypen Bildern führt. Der indianische Liebhaber, der Überlebenstraining in der Schorfheide anbietet, bleibt so behauptet wie der Stararchitekt, der Wohnsiedlungen in China baut, oder Annas wundersame Karriere als Erfolgsgaleristin in Amerika. Gern hätte man auf Keats und Goethe, Luther und Luhmann verzichtet, wenn man dafür mehr Uwe Timm im Original bekommen hätte.
Was Eschenbach in seiner insularen Unbehaustheit am meisten auffällt, ist das Fehlen menschlicher Stimmen. Ihm erscheinen die Gespenster der erinnerten Vergangenheit, doch der Roman vermag nicht, dass sie Gestalt annehmen. "Vogelweide" überzeugt immer dann, wenn der Autor das Milieu porträtiert, das kokett sein schlechtes Gewissen über die Ungerechtigkeit der Welt formuliert, auf Vernissagen Konversation über Atommüll treibt und die Ferien im Gebirge oder auf Sylt verbringt. Timms Erörterungen zur Leidenschaft aber werden selbst zur unfreiwilligen Passionsgeschichte.
Im Gespräch mit der Statistikerin, im Roman nur die schicksalsbestimmende Norne genannt, sagt Eschenbach: "Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir, die Unvollkommenen, suchen nach dem Vollkommenen im anderen. Äußerlich und seelisch. Lieben heißt, den anderen überbewerten." Da unterbricht Eschenbach sich selbst: "Ich fange an zu predigen", sagt er, und man kann ihm kaum widersprechen.
SANDRA KEGEL
Uwe Timm: "Vogelweide". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013. 336 S. geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Uwe Timm hat einen Roman über die Liebe in all ihren Erscheinungsformen geschrieben. Dabei versinkt seine "Vogelweide" im Anspielungssumpf.
Der Versuch der Trennung war für die Liebenden jedes Mal wieder ein Anfang. Sie mussten sich nur sehen, und der Augenblick führte sie aufs Neue zusammen. Eben sagte sie noch: Ich will dich nicht mehr sehen, ich bin verheiratet, glücklich verheiratet, mir fehlt es an nichts. Doch dann widersprach er, und sie lenkte ein. So ungefähr geht die Geschichte von Anna und Eschenbach, die sich freilich nicht erzählen lässt, ohne auch von Ewald und Selma zu berichten. Und es ist, natürlich, die alte Geschichte: Zwei Paare, die miteinander nicht unglücklich sind, verlieben sich trotzdem jenseits ihrer Ehe.
Das geschieht in der Berliner Mittelschichtsgesellschaft mit Stadtwohnung und Haus am See so häufig wie anderswo auch. Eschenbach, ein studierter Theologe und erfolgreicher Unternehmer von Mitte fünfzig, ist liiert mit der Kunstschmiedin Selma, hat sich aber in Anna verliebt, die Frau des Architekten Ewald. Dass sich die Umschwärmte tatsächlich auf ein Verhältnis mit ihm einlässt, versteht die Mutter und Kunstlehrerin selbst am allerwenigsten: "Beide haben wir Glück", hadert sie, "lieben unsere Partner. Warum also das? Es gibt keinen Mangel an Liebe." Dass sie glücklich ist und trotzdem mehr will, erscheint ihr maßlos. Und trotzdem stürzt sie zum nächsten Rendezvous.
Denn einmal von den Vorsätzen befreit, trifft sich das Paar unter immer aberwitzigeren Umständen. Da werden Arztbesuche erfunden und Schüler im Werkraum vergessen, weil die Zeit so schnell vergeht. Man trifft sich in Hotels, und es ist den beiden egal, was das Personal über das Paar ohne Koffer sagt, das schon zwei Stunden später das Zimmer wieder verlässt. Es geht sogar zu Anna nach Hause, wenn die Kinder in der Schule sind und das Au-pair-Mädchen im Deutschkurs sitzt. Da waren keine Überlegung, kein Takt, keine Rücksichtnahme: "Sie waren, so sagte er es für sich und für sie, von Sinnen."
Der Liebesrausch im Venusberg dauert drei Monate, dann kommt der Absturz. Dass danach nichts mehr ist, wie es einmal war, erfahren wir gleich zu Beginn des neuen Romans von Uwe Timm. Und damit fangen die Probleme an. Denn der Schriftsteller, der es in seinem OEuvre meisterlich versteht, politische, historische und private Wirklichkeit ineinanderfließen zu lassen, richtet nunmehr den Blick auf Herzen in Aufruhr. Das geht nicht gut. Weil die Konstruktion der Geschichte dem Autor im Weg steht. Weil er es nicht schafft, seine Idee von Liebe, Macht und Begehren mit Leben zu füllen.
Das fängt beim Titel "Vogelweide" an, der nicht nur auf Eschenbachs Aufenthalt auf einer unbewohnten Nordseeinsel anspielt, auf der er als Vogelwart Unterschlupf findet, sondern auch auf den Minnesänger, der die erfüllte Liebe von gleich zu gleich besang - alles übrigens Personal aus Wagners "Tannhäuser", der Oper schlechthin, wenn es sich um Liebe und Sünde, Buße und Gnade dreht. Darunter geht es in diesem Roman nicht. Und dabei droht er vor lauter Anspielungen auf Shakespeare über Storm bis zu Shackleton die eigene Stimme zu verlieren.
Da sitzt Eschenbach, nachdem er die Frau, die Firma und die Geliebte verloren hat, allein mit sich und der Vogelwelt auf der Insel und erinnert sich der turbulenten Ereignisse sechs Jahre zuvor. Anlass für seine Rückschau ist ein Anruf von Anna, die erstmals nach der Trennung wieder von sich hören lässt und den Eremiten in seiner Klause auch noch aufsuchen will. Bis sie es schließlich auf das Eiland schafft, das nur bei Ebbe und mit einer Pferdekutsche zu erreichen ist, vergehen noch 285 Seiten, in denen erzählt wird, was bisher geschah.
Tatsächlich will Uwe Timm die Liebe in all ihren Erscheinungsformen ausloten. Das tut er ein bisschen so, als habe ihm beim Schreiben eine Liste vorgelegen, die es abzuhaken galt. Das Internet mit seinen natürlich verwerflichen, weil seelenlosen Kontaktbörsen kommt dabei ebenso vor wie eine Meinungsforscherin, die dem Wesen der Liebe mit Statistik auf die Sprünge helfen will: "Ja. Dieses Streben nach Glück und der Liebe ist bestimmbar. Wir müssen es erforschen." Dass hier eine überflüssige Karikatur von Elisabeth Noelle-Neumann gezeichnet wird, ist so wenig originell wie der Bezug zu anderen Personen der Zeitgeschichte wie Margot Käßmann oder Ronald Reagan.
Wie gern hätte man von diesem Autor etwas Überraschendes oder gar Neues über das Begehren erfahren. Stattdessen wirft er einen überreflektierten Blick auf unsere Wirklichkeit, der zu stereotypen Bildern führt. Der indianische Liebhaber, der Überlebenstraining in der Schorfheide anbietet, bleibt so behauptet wie der Stararchitekt, der Wohnsiedlungen in China baut, oder Annas wundersame Karriere als Erfolgsgaleristin in Amerika. Gern hätte man auf Keats und Goethe, Luther und Luhmann verzichtet, wenn man dafür mehr Uwe Timm im Original bekommen hätte.
Was Eschenbach in seiner insularen Unbehaustheit am meisten auffällt, ist das Fehlen menschlicher Stimmen. Ihm erscheinen die Gespenster der erinnerten Vergangenheit, doch der Roman vermag nicht, dass sie Gestalt annehmen. "Vogelweide" überzeugt immer dann, wenn der Autor das Milieu porträtiert, das kokett sein schlechtes Gewissen über die Ungerechtigkeit der Welt formuliert, auf Vernissagen Konversation über Atommüll treibt und die Ferien im Gebirge oder auf Sylt verbringt. Timms Erörterungen zur Leidenschaft aber werden selbst zur unfreiwilligen Passionsgeschichte.
Im Gespräch mit der Statistikerin, im Roman nur die schicksalsbestimmende Norne genannt, sagt Eschenbach: "Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir, die Unvollkommenen, suchen nach dem Vollkommenen im anderen. Äußerlich und seelisch. Lieben heißt, den anderen überbewerten." Da unterbricht Eschenbach sich selbst: "Ich fange an zu predigen", sagt er, und man kann ihm kaum widersprechen.
SANDRA KEGEL
Uwe Timm: "Vogelweide". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013. 336 S. geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Das kunstvolle Arrangement der vielen Bezüge zu Kunst und Kultur in diesem Roman von Uwe Timm entgeht Beatrice von Matt nicht. Ebensowenig die Beobachtungs- und Erzählgabe des Autors, wenn es darum geht, Porträts und aktuelle Lebensentwürfe zwischen Beruf, Familie, Erinnerung und Sehnsucht auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen. Der Grund, warum sie die Geschichte um einen auf einer Elbinsel siedelnden ehemaligen Unternehmer und Gesellschaftsmenschen, den die Vergangenheit in Gestalt einer Frau einholt, letztlich nicht vollständig überzeugt, liegt in der Theorielast, die Timm seinem Text aufbürdet. Da sind die Bezüge, da sind für Matt ferner philosophische Erkundungen der Liebe, vor deren Hintergrund die weibliche Sehnsuchtsfigur blass bleibt, wie die Rezensentin schreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2013Strähnen, die sich seitlich lösen
Seit Goethes „Wahlverwandtschaften“ ist viel Wasser in die Nordsee geflossen –
Uwe Timm landet mit seinem Roman „Vogelweide“ in den Untiefen einer Überkreuz-Liebesgeschichte
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Das Leichte mit dem Tiefgründigen, das Private mit dem Politisch-Historischen klug zu verquicken, war über Jahrzehnte die Spezialität des Schriftstellers Uwe Timm. Sie hat ihm die stabile Sympathie einer Lesergemeinde eingetragen, an der seine Generationsgenossen, die Junggebliebenen der Kriegs- und Nachkriegsjahrgänge, den größten Anteil stellen. Seinen neuen Roman allerdings würden viele von ihnen, darauf sei gewettet, ohne den Verfassernamen gar nicht als Timm-Text erkennen. Man fragt sich verblüfft, ob man es hier mit der Nonchalance eines Alterswerks zu tun hat oder mit der demonstrativen Weigerung, ganz erwachsen zu werden. Beides möchte man dem Autor gern zugestehen. Aber es lässt sich nicht verhehlen, dass man dieses Buch nur ungern auf eine einsame Insel mitnehmen würde.
Das ist insofern schade, als die Geschichte, oder zumindest die Rahmenhandlung, auf einer Insel spielt. Der Held, ein beruflich und privat gescheiterter Mittfünfziger, hat sich für einen Sommer als Vogelwart auf dem ansonsten unbewohnten Nordsee-Eiland Scharhörn verdingt, weil er wegen Baulärm aus seiner Berliner Wohnung flüchten musste. Jetzt befolgt er, in mönchisch karger, aber ästhetisch inspirierender Umgebung, die Rituale des Naturschutzdienstes, beobachtet, protokolliert, säubert den Strand von angeschwemmtem Müll.
Und lässt zwischen Schwimmen, Teekochen und DeLillo-Lektüre sein Leben Revue passieren, vornehmlich seine Liebesaffäre mit der verheirateten Anna, die den Beziehungswirren durch Flucht in die USA entkommen ist und nun, nach Jahren der Trennung, ihren Besuch auf der Insel angekündigt hat.
Der Held heißt Eschenbach, der Roman „Vogelweide“, aber wer irgendeinen motivischen Bezug zu mittelalterlicher Dichtung oder wenigstens zum „Tannhäuser“ erwartet, wird enttäuscht. Der Roman ist mit literarischen und zeitgeschichtlichen Anspielungen so übersät wie der Buchumschlag mit Vogeltrittspuren, aber alles bleibt in flachen Gewässern, versandet im Namedropping. Und noch mehr irritiert, dass die Erzählung tief in den handwarmen Schlick eines Berliner Lifestyle-Milieus einsinkt, zu dem man Uwe Timm, vielleicht voreilig, eine ironische Distanz unterstellt hätte.
Christian Eschenbach, studierter Theologe, autodidaktisch zum Informatiker mutiert, hatte einst eine erfolgreiche Software-Firma und eine schöne Beziehung zu Selma, der „weichbrüstigen“ polnischen Silberschmiedin. Anna, die Kunst- und Lateinlehrerin, war verehelicht mit dem global tätigen Stararchitekten Ewald. Wohnen im Loft, in der Garage ein Saab-Oldtimer, an den Wänden Originale berühmter Expressionisten, Rinderherz mit Pflaumen nach einem Rezept aus dem Grass-Roman „Der Butt“, Tessiner Veltliner und zwanzig Jahre alter Whisky, Galeriebesuche und Fernreisen, Tischgespräche über demokratische Kontrollsysteme und Stadtplanung beziehungsweise Gott und die Welt, mit deutlich zur Schau getragenem Bildungshorizont und kulinarischem Anspruchsniveau: Der Autor verweilt mit so viel Hingabe bei dieser Fassadenmalerei, dass man ihm die Absicht, die bröckelnden Wände dahinter freizulegen, schon bald nicht mehr glaubt.
Und es bröckelt dann ja auch alles sehr glimpflich. Eschenbach ist zum Zeitpunkt der Rahmenerzählung bankrott und seiner Statussymbole ledig, hält sich aber als freier Autor über Wasser, redigiert Reiseführer und recherchiert zuweilen für ein Meinungsforschungsinstitut, dessen Chefin unverwechselbar und etwas albern als Elisabeth Noelle-Neumann kenntlich gemacht wird. Seinen neuen Lebensstil, der ihm nicht nur Zeit geschenkt hat, sondern auch das Wissen darum, „was ein Pfund Butter kostet“, empfindet er als Reichtum.
Anna wiederum hat die Leitung einer Galerie in Los Angeles übernommen, und Ewald, nach wie vor gut im Geschäft, hat sich mit Selma zusammengetan. Es ist also nichts wirklich Schlimmes passiert. Deshalb kann Eschenbach sich den Luxus leisten, auf seiner Vogelweide die im Sande verlaufene Liebesgeschichte mit Anna zu rekapitulieren und über das Phänomen „Begehren“ nachzusinnen, jene unwiderstehliche Kraft, die zwei Menschen zueinander zieht und dadurch geordnete Verhältnisse zum Einsturz bringt.
Das war über Jahrhunderte ein literaturfähiges Thema, aber seit Goethes „Wahlverwandtschaften“ (auf die hier mit der Überkreuz-Konstellation natürlich auch angespielt wird) ist viel Wasser in die Nordsee geflossen. Bei Timm handelt es sich nur mehr um gepflegte Fremdgängerei in saturierten Kreisen, die mit Nietzsche- und Luhmann-Zitaten (dafür ist eigens ein intellektueller Freund zuständig) mühsam auf eine höhere Diskursebene gehievt wird. Falls nicht gerade von Eschenbachs Fixierung auf Pferdeschwanzfrisuren die Rede ist oder von Annas messingfarbenem Haar, „aus dem sich, trug sie es zusammengebunden, immer wieder eine Strähne löste, seitlich, und ihr über Stirn und Wangen fiel“. Mal wähnt man sich im Seminarraum, mal im Schöner-Wohnen-Magazin, und wenn der Held von den heimlichen Treffen mit der Geliebten berichtet, in „gut geführten Hotels“ oder auch – „die Kinder in der Schule, das Au-pair-Mädchen im Deutschkurs“ – bei Anna zu Hause, dann wirkt seine wiederholte Beteuerung „Sie waren von Sinnen“ so unglaubwürdig wie unfreiwillig komisch.
Einleuchtender ist, dass Eschenbachs Tochter aus längst beendeter Ehe, eine klischeehaft karrierefixierte, schmallippige Bankerin, ihren altlinken Großvater für „durchgeknallt“ hält, weil der gegen den neoliberalistischen Niedergang der Gesellschaft wettert. Vielleicht hätte der Autor die ganze Geschichte aus der Sicht dieses Opas erzählen sollen, eines ehemaligen Studienrats und Ostermarschierers, der in einer Rentnerkommune lebt – dann wäre womöglich ein echter Uwe Timm daraus geworden. So aber wird Annas naturschutzbehördlich genehmigter Kurzbesuch auf Scharhörn am Ende noch zu einer Art Werbetext für das einfache, naturnahe Leben, in dem man auf blaukarierten Kopfkissen schläft, Marmelade von der Bäuerin geliefert kriegt und auch mal einen Rotwein zur Scholle trinkt, wenn nichts anderes da ist.
Begehren, erkennt Eschenbach nun, „das ist doch alles und es ist nichts. Eine graue Katze in der Nacht.“ Und Katzen sind, so steht zu vermuten, auf Vogelinseln nicht zugelassen.
Irritierend tief sinkt der Roman
in den handwarmen Schlick eines
Berliner Lifestyle-Milieus ein
Wenn im Watt ein Vogelschwarm auffliegt, beginnt die Beobachtung: Der Held in Uwe Timms neuem Roman hat einen englischen Freund, der ihn in sein Hobby, das bird-watching, einweihte und sein Lehrer für den Vogelflug war.
FOTO: PICTURE ALLIANCE / WILDLIFE
Uwe Timm: Vogelweide. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013. 336 Seiten, 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Seit Goethes „Wahlverwandtschaften“ ist viel Wasser in die Nordsee geflossen –
Uwe Timm landet mit seinem Roman „Vogelweide“ in den Untiefen einer Überkreuz-Liebesgeschichte
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Das Leichte mit dem Tiefgründigen, das Private mit dem Politisch-Historischen klug zu verquicken, war über Jahrzehnte die Spezialität des Schriftstellers Uwe Timm. Sie hat ihm die stabile Sympathie einer Lesergemeinde eingetragen, an der seine Generationsgenossen, die Junggebliebenen der Kriegs- und Nachkriegsjahrgänge, den größten Anteil stellen. Seinen neuen Roman allerdings würden viele von ihnen, darauf sei gewettet, ohne den Verfassernamen gar nicht als Timm-Text erkennen. Man fragt sich verblüfft, ob man es hier mit der Nonchalance eines Alterswerks zu tun hat oder mit der demonstrativen Weigerung, ganz erwachsen zu werden. Beides möchte man dem Autor gern zugestehen. Aber es lässt sich nicht verhehlen, dass man dieses Buch nur ungern auf eine einsame Insel mitnehmen würde.
Das ist insofern schade, als die Geschichte, oder zumindest die Rahmenhandlung, auf einer Insel spielt. Der Held, ein beruflich und privat gescheiterter Mittfünfziger, hat sich für einen Sommer als Vogelwart auf dem ansonsten unbewohnten Nordsee-Eiland Scharhörn verdingt, weil er wegen Baulärm aus seiner Berliner Wohnung flüchten musste. Jetzt befolgt er, in mönchisch karger, aber ästhetisch inspirierender Umgebung, die Rituale des Naturschutzdienstes, beobachtet, protokolliert, säubert den Strand von angeschwemmtem Müll.
Und lässt zwischen Schwimmen, Teekochen und DeLillo-Lektüre sein Leben Revue passieren, vornehmlich seine Liebesaffäre mit der verheirateten Anna, die den Beziehungswirren durch Flucht in die USA entkommen ist und nun, nach Jahren der Trennung, ihren Besuch auf der Insel angekündigt hat.
Der Held heißt Eschenbach, der Roman „Vogelweide“, aber wer irgendeinen motivischen Bezug zu mittelalterlicher Dichtung oder wenigstens zum „Tannhäuser“ erwartet, wird enttäuscht. Der Roman ist mit literarischen und zeitgeschichtlichen Anspielungen so übersät wie der Buchumschlag mit Vogeltrittspuren, aber alles bleibt in flachen Gewässern, versandet im Namedropping. Und noch mehr irritiert, dass die Erzählung tief in den handwarmen Schlick eines Berliner Lifestyle-Milieus einsinkt, zu dem man Uwe Timm, vielleicht voreilig, eine ironische Distanz unterstellt hätte.
Christian Eschenbach, studierter Theologe, autodidaktisch zum Informatiker mutiert, hatte einst eine erfolgreiche Software-Firma und eine schöne Beziehung zu Selma, der „weichbrüstigen“ polnischen Silberschmiedin. Anna, die Kunst- und Lateinlehrerin, war verehelicht mit dem global tätigen Stararchitekten Ewald. Wohnen im Loft, in der Garage ein Saab-Oldtimer, an den Wänden Originale berühmter Expressionisten, Rinderherz mit Pflaumen nach einem Rezept aus dem Grass-Roman „Der Butt“, Tessiner Veltliner und zwanzig Jahre alter Whisky, Galeriebesuche und Fernreisen, Tischgespräche über demokratische Kontrollsysteme und Stadtplanung beziehungsweise Gott und die Welt, mit deutlich zur Schau getragenem Bildungshorizont und kulinarischem Anspruchsniveau: Der Autor verweilt mit so viel Hingabe bei dieser Fassadenmalerei, dass man ihm die Absicht, die bröckelnden Wände dahinter freizulegen, schon bald nicht mehr glaubt.
Und es bröckelt dann ja auch alles sehr glimpflich. Eschenbach ist zum Zeitpunkt der Rahmenerzählung bankrott und seiner Statussymbole ledig, hält sich aber als freier Autor über Wasser, redigiert Reiseführer und recherchiert zuweilen für ein Meinungsforschungsinstitut, dessen Chefin unverwechselbar und etwas albern als Elisabeth Noelle-Neumann kenntlich gemacht wird. Seinen neuen Lebensstil, der ihm nicht nur Zeit geschenkt hat, sondern auch das Wissen darum, „was ein Pfund Butter kostet“, empfindet er als Reichtum.
Anna wiederum hat die Leitung einer Galerie in Los Angeles übernommen, und Ewald, nach wie vor gut im Geschäft, hat sich mit Selma zusammengetan. Es ist also nichts wirklich Schlimmes passiert. Deshalb kann Eschenbach sich den Luxus leisten, auf seiner Vogelweide die im Sande verlaufene Liebesgeschichte mit Anna zu rekapitulieren und über das Phänomen „Begehren“ nachzusinnen, jene unwiderstehliche Kraft, die zwei Menschen zueinander zieht und dadurch geordnete Verhältnisse zum Einsturz bringt.
Das war über Jahrhunderte ein literaturfähiges Thema, aber seit Goethes „Wahlverwandtschaften“ (auf die hier mit der Überkreuz-Konstellation natürlich auch angespielt wird) ist viel Wasser in die Nordsee geflossen. Bei Timm handelt es sich nur mehr um gepflegte Fremdgängerei in saturierten Kreisen, die mit Nietzsche- und Luhmann-Zitaten (dafür ist eigens ein intellektueller Freund zuständig) mühsam auf eine höhere Diskursebene gehievt wird. Falls nicht gerade von Eschenbachs Fixierung auf Pferdeschwanzfrisuren die Rede ist oder von Annas messingfarbenem Haar, „aus dem sich, trug sie es zusammengebunden, immer wieder eine Strähne löste, seitlich, und ihr über Stirn und Wangen fiel“. Mal wähnt man sich im Seminarraum, mal im Schöner-Wohnen-Magazin, und wenn der Held von den heimlichen Treffen mit der Geliebten berichtet, in „gut geführten Hotels“ oder auch – „die Kinder in der Schule, das Au-pair-Mädchen im Deutschkurs“ – bei Anna zu Hause, dann wirkt seine wiederholte Beteuerung „Sie waren von Sinnen“ so unglaubwürdig wie unfreiwillig komisch.
Einleuchtender ist, dass Eschenbachs Tochter aus längst beendeter Ehe, eine klischeehaft karrierefixierte, schmallippige Bankerin, ihren altlinken Großvater für „durchgeknallt“ hält, weil der gegen den neoliberalistischen Niedergang der Gesellschaft wettert. Vielleicht hätte der Autor die ganze Geschichte aus der Sicht dieses Opas erzählen sollen, eines ehemaligen Studienrats und Ostermarschierers, der in einer Rentnerkommune lebt – dann wäre womöglich ein echter Uwe Timm daraus geworden. So aber wird Annas naturschutzbehördlich genehmigter Kurzbesuch auf Scharhörn am Ende noch zu einer Art Werbetext für das einfache, naturnahe Leben, in dem man auf blaukarierten Kopfkissen schläft, Marmelade von der Bäuerin geliefert kriegt und auch mal einen Rotwein zur Scholle trinkt, wenn nichts anderes da ist.
Begehren, erkennt Eschenbach nun, „das ist doch alles und es ist nichts. Eine graue Katze in der Nacht.“ Und Katzen sind, so steht zu vermuten, auf Vogelinseln nicht zugelassen.
Irritierend tief sinkt der Roman
in den handwarmen Schlick eines
Berliner Lifestyle-Milieus ein
Wenn im Watt ein Vogelschwarm auffliegt, beginnt die Beobachtung: Der Held in Uwe Timms neuem Roman hat einen englischen Freund, der ihn in sein Hobby, das bird-watching, einweihte und sein Lehrer für den Vogelflug war.
FOTO: PICTURE ALLIANCE / WILDLIFE
Uwe Timm: Vogelweide. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013. 336 Seiten, 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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»Uwe Timm hat einen elektrisierend modernen Roman [...] geschrieben: Johann Wolfgang von Goethes Wahlverwandtschaften für das 21.Jahrhundert.« Denis Scheck ARD druckfrisch 20130901