»Volksgemeinschaft« existiert nicht, sie wird hergestellt.
Die »Volksgemeinschaft« hatte seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland in nahezu allen Parteien politische Konjunktur. Aber während der Begriff bei den Sozialdemokraten beispielsweise ein Synonym für die inkludierende Einheit aller Schaffenden darstellte, war die »Volksgemeinschaft« bei der Rechten, insbesondere bei den Nationalsozialisten, vor allem durch Exklusion bestimmt.
Sie beschäftigte nicht, wer zur »Volksgemeinschaft« gehörte, sondern, wer nicht zu ihr gehören durfte, allen voran die Juden. Deshalb besaß der Antisemitismus für die praktische Volksgemeinschaftspolitik des NS-Regimes einen zentralen Stellenwert.
Die bürgerliche Zivilgesellschaft konnte nicht per »Führererlass« oder Gesetz in eine rassistische Volksgemeinschaft verwandelt werden. Michael Wildt beschreibt diese Transformation als einen politischen Prozess und untersucht die Ereignisse nicht nur innerhalb der großen Städte, sondern gerade in der Provinz, in den Dörfern und kleinen Gemeinden.
Die »Volksgemeinschaft« hatte seit dem Ersten Weltkrieg in Deutschland in nahezu allen Parteien politische Konjunktur. Aber während der Begriff bei den Sozialdemokraten beispielsweise ein Synonym für die inkludierende Einheit aller Schaffenden darstellte, war die »Volksgemeinschaft« bei der Rechten, insbesondere bei den Nationalsozialisten, vor allem durch Exklusion bestimmt.
Sie beschäftigte nicht, wer zur »Volksgemeinschaft« gehörte, sondern, wer nicht zu ihr gehören durfte, allen voran die Juden. Deshalb besaß der Antisemitismus für die praktische Volksgemeinschaftspolitik des NS-Regimes einen zentralen Stellenwert.
Die bürgerliche Zivilgesellschaft konnte nicht per »Führererlass« oder Gesetz in eine rassistische Volksgemeinschaft verwandelt werden. Michael Wildt beschreibt diese Transformation als einen politischen Prozess und untersucht die Ereignisse nicht nur innerhalb der großen Städte, sondern gerade in der Provinz, in den Dörfern und kleinen Gemeinden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2007Ausnahmezustand von unten
Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939
Die nationalsozialistische Judenpolitik gehört zu den zentralen Untersuchungsgegenständen der Geschichtswissenschaft. Geraume Zeit stand das exekutive Handeln des "Dritten Reiches" dabei im Vordergrund des Interesses. Inzwischen geht die Historiographie weit darüber hinaus auch den spezifischen Bedingungen nach, welche die Untaten des Regimes, was die Haltung der Bevölkerung angeht, ermöglichten, erleichterten, ja sogar beförderten. In dieser Perspektive untersucht Michael Wildt in einer scharfsinnig argumentierenden Darstellung das Phänomen der "Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz" zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Das Datum der "Machtergreifung" charakterisiert er als "unhintergehbare" Zäsur: Bis dahin trafen antisemitische Ausschreitungen auf den Widerstand des Rechtsstaates; danach wurde aus strafwürdigem Unrecht das nationalsozialistische Recht jener "Volksgemeinschaft", die für sich ebenso verblendet wie zutreffend den Anspruch erhob: "Wir sind die neue Zeit."
Der aus den Jahren des Ersten Weltkriegs populäre Begriff der "Volksgemeinschaft" aber, verheißungsvoll und diffus in einem, diente den braunen Jakobinern als Mittel der "Inklusion und Exklusion": Sogenannte rassisch Andersartige wurden aus der Gemeinschaft des Volkes ausgeschlossen, um alle anderen darin um so fester einschließen zu können. Anhand der "lokalen und regionalen Berichte der entsprechenden Ortsgruppen und Landesverbände des Centralvereins Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" auf der einen Seite und der "umfassenden Sammlung von Stimmungs- und Lageberichten von staatlichen Stellen wie Bürgermeistern, Landräten, Regierungspräsidenten sowie Gliederungen der NSDAP und Berichten der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS (SD)" auf der anderen Seite - aus Sicht der Verfolgten und der Verfolger also - rekonstruiert der Verfasser die Entwicklung der rassistischen "Volksgemeinschaft", deren Entstehung und Existenz sich in der Provinz viel deutlicher beobachten lässt als in den Großstädten. Überall freilich, im protestantischen Ostpreußen ebenso wie im katholischen Rheinland, im peripher gelegenen Ostfriesland und im zentralen Hessen, in dem von der Arbeiterbewegung geprägten Ruhrgebiet oder in dem eher von der Kirche bestimmten Bayern, diente das gewaltsam hergestellte "Volksgemeinschaftsprojekt" dazu, die überlieferte Ordnung des Rechtsstaates zu beseitigen.
Die abnehmende Macht des alten Staates wurde von einem nicht endenden "Ausnahmezustand von unten" überlagert, zerstört und ersetzt durch die zunehmende Gewalt des neuen Regimes. Entehrung und Entrechtung, Erniedrigung und Boykott der Juden standen im Zentrum dieser "Umwandlung einer bürgerlichen Gesellschaft in eine Volksgemeinschaft", die "insbesondere durch die antisemitische, alltägliche Gewalt gegen Juden" konstituiert wurde. Eben in diesen Gewaltaktionen aber "realisierte sich das nationalsozialistische Volk als politischer Souverän ...: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung". Konkreter: "Für die NSDAP-Ortsgruppen boten die Verfolgung jüdischer politischer Gegner, der Boykott jüdischer Geschäfte und das Anprangern sogenannter ,Rasseschandfälle' erfolgversprechende Politikfelder, um eine nationalsozialistische ,Volksgemeinschaftspolitik' vor Ort praktisch werden zu lassen."
Das führte freilich, zeit- und teilweise jedenfalls, zu einem kaum zu verkennenden Dilemma des Regimes. Um die öffentliche Ordnung vor einem Verfall in die allgemeine Anarchie zu bewahren, standen vor allem die örtlichen Polizeikräfte mehr und mehr vor einem kaum mehr beherrschbaren Problem. Sie mussten die nicht zuletzt von der lokalen Presse systematisch aufgewiegelte Bevölkerung, die ihre jüdischen Mitbürger drangsalierte und verfolgte, in Schach halten, ohne gegen die Missetäter im herkömmlichen Sinne regelrecht vorgehen zu können. Und sie mussten die Opfer der Pogrome, um der überhandnehmenden Unordnung Herr werden zu können, notgedrungen schützen, indem die bedrohten Juden vorläufig in Haft, in "Schutzhaft", genommen wurden.
Dieser sich verschärfende Widerspruch drang geradezu auf eine gesetzliche Legitimierung des längst praktizierten Unrechts und verweist, ohne damit einen monokausalen Zusammenhang zu unterstellen, auf weit darüber hinausgehende "Lösungen der jüdischen Frage": Diese endeten schließlich, während des Zweiten Weltkriegs, in jenem schrecklichen Extrem einer Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Europa, die der Diktator des "Dritten Reiches", Adolf Hitler, von vornherein beabsichtigt hatte.
KLAUS HILDEBRAND.
Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburger Edition, Hamburg 2007. 412 S., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939
Die nationalsozialistische Judenpolitik gehört zu den zentralen Untersuchungsgegenständen der Geschichtswissenschaft. Geraume Zeit stand das exekutive Handeln des "Dritten Reiches" dabei im Vordergrund des Interesses. Inzwischen geht die Historiographie weit darüber hinaus auch den spezifischen Bedingungen nach, welche die Untaten des Regimes, was die Haltung der Bevölkerung angeht, ermöglichten, erleichterten, ja sogar beförderten. In dieser Perspektive untersucht Michael Wildt in einer scharfsinnig argumentierenden Darstellung das Phänomen der "Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz" zwischen dem Ende des Ersten und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Das Datum der "Machtergreifung" charakterisiert er als "unhintergehbare" Zäsur: Bis dahin trafen antisemitische Ausschreitungen auf den Widerstand des Rechtsstaates; danach wurde aus strafwürdigem Unrecht das nationalsozialistische Recht jener "Volksgemeinschaft", die für sich ebenso verblendet wie zutreffend den Anspruch erhob: "Wir sind die neue Zeit."
Der aus den Jahren des Ersten Weltkriegs populäre Begriff der "Volksgemeinschaft" aber, verheißungsvoll und diffus in einem, diente den braunen Jakobinern als Mittel der "Inklusion und Exklusion": Sogenannte rassisch Andersartige wurden aus der Gemeinschaft des Volkes ausgeschlossen, um alle anderen darin um so fester einschließen zu können. Anhand der "lokalen und regionalen Berichte der entsprechenden Ortsgruppen und Landesverbände des Centralvereins Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" auf der einen Seite und der "umfassenden Sammlung von Stimmungs- und Lageberichten von staatlichen Stellen wie Bürgermeistern, Landräten, Regierungspräsidenten sowie Gliederungen der NSDAP und Berichten der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS (SD)" auf der anderen Seite - aus Sicht der Verfolgten und der Verfolger also - rekonstruiert der Verfasser die Entwicklung der rassistischen "Volksgemeinschaft", deren Entstehung und Existenz sich in der Provinz viel deutlicher beobachten lässt als in den Großstädten. Überall freilich, im protestantischen Ostpreußen ebenso wie im katholischen Rheinland, im peripher gelegenen Ostfriesland und im zentralen Hessen, in dem von der Arbeiterbewegung geprägten Ruhrgebiet oder in dem eher von der Kirche bestimmten Bayern, diente das gewaltsam hergestellte "Volksgemeinschaftsprojekt" dazu, die überlieferte Ordnung des Rechtsstaates zu beseitigen.
Die abnehmende Macht des alten Staates wurde von einem nicht endenden "Ausnahmezustand von unten" überlagert, zerstört und ersetzt durch die zunehmende Gewalt des neuen Regimes. Entehrung und Entrechtung, Erniedrigung und Boykott der Juden standen im Zentrum dieser "Umwandlung einer bürgerlichen Gesellschaft in eine Volksgemeinschaft", die "insbesondere durch die antisemitische, alltägliche Gewalt gegen Juden" konstituiert wurde. Eben in diesen Gewaltaktionen aber "realisierte sich das nationalsozialistische Volk als politischer Souverän ...: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung". Konkreter: "Für die NSDAP-Ortsgruppen boten die Verfolgung jüdischer politischer Gegner, der Boykott jüdischer Geschäfte und das Anprangern sogenannter ,Rasseschandfälle' erfolgversprechende Politikfelder, um eine nationalsozialistische ,Volksgemeinschaftspolitik' vor Ort praktisch werden zu lassen."
Das führte freilich, zeit- und teilweise jedenfalls, zu einem kaum zu verkennenden Dilemma des Regimes. Um die öffentliche Ordnung vor einem Verfall in die allgemeine Anarchie zu bewahren, standen vor allem die örtlichen Polizeikräfte mehr und mehr vor einem kaum mehr beherrschbaren Problem. Sie mussten die nicht zuletzt von der lokalen Presse systematisch aufgewiegelte Bevölkerung, die ihre jüdischen Mitbürger drangsalierte und verfolgte, in Schach halten, ohne gegen die Missetäter im herkömmlichen Sinne regelrecht vorgehen zu können. Und sie mussten die Opfer der Pogrome, um der überhandnehmenden Unordnung Herr werden zu können, notgedrungen schützen, indem die bedrohten Juden vorläufig in Haft, in "Schutzhaft", genommen wurden.
Dieser sich verschärfende Widerspruch drang geradezu auf eine gesetzliche Legitimierung des längst praktizierten Unrechts und verweist, ohne damit einen monokausalen Zusammenhang zu unterstellen, auf weit darüber hinausgehende "Lösungen der jüdischen Frage": Diese endeten schließlich, während des Zweiten Weltkriegs, in jenem schrecklichen Extrem einer Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Europa, die der Diktator des "Dritten Reiches", Adolf Hitler, von vornherein beabsichtigt hatte.
KLAUS HILDEBRAND.
Michael Wildt: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939. Hamburger Edition, Hamburg 2007. 412 S., 28,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Michael Wildt könne als erster eine Übersicht antijüdischer Aktionen "von unten" in Deutschland vorlegen, wobei er Quellen von beiden Seiten heranziehe, von den Tätern und den Verfolgten selbst. Ganz zufrieden ist er mit der Studie aber nicht. Als "unschön" wirft Rezensent Ahlrich Meyer allerdings dem Autor vor, aus Regionalstudien ganze Abschnitte ohne Kenntlichmachung zu übernehmen. Der zeitliche Rahmen der Untersuchung sei "plausibel", so der Rezensent, bleibe aber ohne Begründung. Von den verschiedenen Erklärungsversuchen für das "erschreckende Panorama" an selbstständigem Antisemitismus sei der Rückgriff auf Hanna Arendts Konzept der Komplizenschaft letztlich am überzeugendsten. Bei der Charakterisierung der politischen Ordnung des Nationalsozialismus hat der Rezensent jedoch seine Schwierigkeiten, wenn dies anhand eines normativen Begriffs des Rechtsstaats geschehe. Insgesamt könne Michael Wildt so manche "milde Legende" entkräften, vor allem die vom gleichgültigen Wegsehen der Mehrheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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