Das Ziel dieser Studie besteht darin, anhand der von den deutschen Gelehrten verfaßten Eingaben, Aufrufe und Schriften die Entstehung und Entwicklung der von ihnen entfalteten und debattierten politischen Ideen in der Zeit von August 1914 bis zum November 1918 nachzuzeichnen und dabei insbesondere die Wandlungen dieser Ideen unter dem Einfluß sich verändernder Kontextbedingungen zu analysieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2003Geistige Mobilmacher
Deutschland im Ersten Weltkrieg: Wie sich Gelehrte die Zukunft vorstellten
Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat? Die "Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Akademie Verlag, Berlin 2003, 403 Seiten, 49,80 [Euro].
Der Erste Weltkrieg war auch ein "Krieg der Geister". Schon in den Augusttagen 1914 erfolgte in allen am Krieg beteiligten Staaten eine geistige Mobilmachung; es ging um die Deutung des Konflikts als eines Kultur- und Prinzipienkampfes. Dabei standen im Deutschen Reich - wie in anderen Ländern - die Professoren in vorderster Linie. In Aufrufen mit unzähligen Unterschriften sowie in zahllosen Publikationen bemühten sich die Repräsentanten des gebildeten Deutschland um eine Sinngebung des Krieges und verfochten die Legitimität des deutschen Standpunkts. Fast ausnahmslos sahen sie Deutschland in einem dem Reich aufgezwungenen Verteidigungskrieg, als dessen Drahtzieher England galt, das deshalb als Deutschlands Hauptfeind eingestuft wurde.
Aus dem mit dem "Pathos der Identifikation" (Hermann Lübbe) gefeierten Augusterlebnis erwuchs das, was man bald die "Ideen von 1914" nannte. Diese Ideen blieben zwar reichlich diffus, im Kern beinhalteten sie nach innen das emotionale Bekenntnis zur Einheit von Staat und Volk, nach außen die Abwendung vom politischen Denken des Westens. Mit zunehmender Kriegsdauer bröckelte jedoch die zunächst geschlossene Front der im "Kriegsdienst mit der Feder" Engagierten. Seit 1916 standen sich zwei Lager mit unterschiedlichen Konzeptionen hinsichtlich der deutschen Kriegsziele und der inneren Neuordnung des Reiches gegenüber, und diese Frontstellung verschärfte sich bis zum Ende des Krieges und darüber hinaus zu schroffer Konfrontation und innenpolitischer Polarisierung.
Diese Entwicklung hat Klaus Schwabe in seiner 1969 erschienenen grundlegenden Studie "Wissenschaft und Kriegsmoral" pointiert dargestellt. Nun werden die Erzeugnisse der professoralen Kriegspublizistik von Steffen Bruendel einer erneuten Untersuchung unterzogen. Er liest die Schriften von rund 150 an der Debatte beteiligten Gelehrten mit frischem Blick und begrifflicher Zuspitzung. Aus den Äußerungen der Professoren destilliert er deren "Weltbild", ihr "Selbst- und Feindbild" sowie ihr "Zukunftsbild" heraus. Auch Bruendel legt die entscheidende Zäsur der ideenpolitischen Debatte in das Jahr 1916, doch er sieht - in Modifikation von Schwabes Interpretation - die Frontlinien bei der Lagerbildung nicht so sehr durch divergente Kriegszielvorstellungen bestimmt, sondern in erster Linie durch unterschiedliche innenpolitische Reformkonzeptionen. Die gegensätzlichen "Zukunftsbilder" einer inneren Neuordnung bringt er auf die Begriffe "Volksstaat" und "Volksgemeinschaft".
Die von einer Minderheit verfochtene Idee des Volksstaates zielte auf eine konstitutionelle Gesellschaftsordnung, in der dem Parlament eine maßgebliche Rolle zufiel; in der zweiten Kriegshälfte traten die Anhänger der Volksstaatsidee entschieden für die parlamentarische Monarchie ein, für parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung und eine Wahlrechtsänderung in Preußen.
Demgegenüber setzte sich die Mehrheit der an der Debatte Beteiligten für die - stärker an den "Ideen von 1914" orientierte - Ordnungsidee der "Volksgemeinschaft" ein. Erstrebt wurde eine auf gesamtgesellschaftliche Integration ausgerichtete korporative Gesellschaftsordnung, die sich vom westlich-demokratischen wie vom östlich-absolutistischen Staatssystem unterschied und dem "deutschen Wesen" entspräche; dem Parlament sollten nur beschränkte Mitwirkungsrechte zustehen. Das Modell der Volksgemeinschaft war - so Bruendel - "politisch grundsätzlich deutungsoffen". In der zweiten Kriegshälfte jedoch wurde die Volksgemeinschaftsidee zunehmend exklusiv verstanden, radikal nationalistisch instrumentalisiert und schließlich von der politischen Rechten vereinnahmt. Im Laufe des Krieges kam es - das betont Bruendel mit großem Nachdruck - zu einer "strukturellen Delegitimierung der bisherigen politischen Ordnung", denn beide Ordnungsideen, Volksstaat und Volksgemeinschaft, nahmen die Überwindung des bestehenden politischen Systems ins Visier, und beide Lager strebten, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen, eine Veränderung des innenpolitischen Status quo an. Insofern, dies die Conclusio Bruendels, bilde das Jahr 1916 in ideengeschichtlicher Hinsicht eine einschneidendere Zäsur als das Jahr 1914.
Bruendels dicht belegte und mit Verve argumentierende Studie ist ein wichtiger Beitrag zur politischen Ideengeschichte. Festzustellen bleibt indessen, daß die öffentlichen Äußerungen von 150 Gelehrten lediglich einen Ausschnitt aus der breiten innenpolitischen Debatte während der Kriegsjahre darstellen. Es wäre reizvoll, auch die Debattenbeiträge der Politiker einzubeziehen, die sich publizistisch und in den parlamentarischen Gremien geäußert haben. Auf diese Weise könnte das Bild noch klarer konturiert werden. Ferner ist zu konstatieren, daß die politische Rechte das Volksgemeinschaftsparadigma zwar in der Form der radikal nationalistisch überlagerten exklusiven Volksgemeinschaftsidee für sich vereinnahmte, daß es aber bis 1918 und darüber hinaus nicht zu ihrem ideologischen Alleinbesitz wurde, wie Bruendel annimmt.
Es gab nicht nur im Krieg, sondern auch in der Weimarer Republik eine sozialdemokratische und eine liberale Variante des Volksgemeinschaftstopos. So rühmte etwa Reichspräsident Friedrich Ebert am 1920 verstorbenen Gewerkschaftsführer Carl Legien die "unerschütterliche Pflichttreue und Schaffensfreude im Dienst der Volksgemeinschaft", und Gustav Stresemann gebrauchte unzählige Male den Ausdruck "Volksgemeinschaft" als Schlüsselbegriff zur Kennzeichnung eines Zusammenwirkens von Unternehmern und Gewerkschaften, ja als Synonym für die große Koalition; den "Gedanken der Volksgemeinschaft" hielt er "für den allein möglichen". Erst durch den inflationären Gebrauch durch die Nationalsozialisten und im NS-Staat ist "Volksgemeinschaft" zu einem kontaminierten Begriff geworden, den man heute kaum mehr in den Mund zu nehmen wagt.
EBERHARD KOLB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Deutschland im Ersten Weltkrieg: Wie sich Gelehrte die Zukunft vorstellten
Steffen Bruendel: Volksgemeinschaft oder Volksstaat? Die "Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Akademie Verlag, Berlin 2003, 403 Seiten, 49,80 [Euro].
Der Erste Weltkrieg war auch ein "Krieg der Geister". Schon in den Augusttagen 1914 erfolgte in allen am Krieg beteiligten Staaten eine geistige Mobilmachung; es ging um die Deutung des Konflikts als eines Kultur- und Prinzipienkampfes. Dabei standen im Deutschen Reich - wie in anderen Ländern - die Professoren in vorderster Linie. In Aufrufen mit unzähligen Unterschriften sowie in zahllosen Publikationen bemühten sich die Repräsentanten des gebildeten Deutschland um eine Sinngebung des Krieges und verfochten die Legitimität des deutschen Standpunkts. Fast ausnahmslos sahen sie Deutschland in einem dem Reich aufgezwungenen Verteidigungskrieg, als dessen Drahtzieher England galt, das deshalb als Deutschlands Hauptfeind eingestuft wurde.
Aus dem mit dem "Pathos der Identifikation" (Hermann Lübbe) gefeierten Augusterlebnis erwuchs das, was man bald die "Ideen von 1914" nannte. Diese Ideen blieben zwar reichlich diffus, im Kern beinhalteten sie nach innen das emotionale Bekenntnis zur Einheit von Staat und Volk, nach außen die Abwendung vom politischen Denken des Westens. Mit zunehmender Kriegsdauer bröckelte jedoch die zunächst geschlossene Front der im "Kriegsdienst mit der Feder" Engagierten. Seit 1916 standen sich zwei Lager mit unterschiedlichen Konzeptionen hinsichtlich der deutschen Kriegsziele und der inneren Neuordnung des Reiches gegenüber, und diese Frontstellung verschärfte sich bis zum Ende des Krieges und darüber hinaus zu schroffer Konfrontation und innenpolitischer Polarisierung.
Diese Entwicklung hat Klaus Schwabe in seiner 1969 erschienenen grundlegenden Studie "Wissenschaft und Kriegsmoral" pointiert dargestellt. Nun werden die Erzeugnisse der professoralen Kriegspublizistik von Steffen Bruendel einer erneuten Untersuchung unterzogen. Er liest die Schriften von rund 150 an der Debatte beteiligten Gelehrten mit frischem Blick und begrifflicher Zuspitzung. Aus den Äußerungen der Professoren destilliert er deren "Weltbild", ihr "Selbst- und Feindbild" sowie ihr "Zukunftsbild" heraus. Auch Bruendel legt die entscheidende Zäsur der ideenpolitischen Debatte in das Jahr 1916, doch er sieht - in Modifikation von Schwabes Interpretation - die Frontlinien bei der Lagerbildung nicht so sehr durch divergente Kriegszielvorstellungen bestimmt, sondern in erster Linie durch unterschiedliche innenpolitische Reformkonzeptionen. Die gegensätzlichen "Zukunftsbilder" einer inneren Neuordnung bringt er auf die Begriffe "Volksstaat" und "Volksgemeinschaft".
Die von einer Minderheit verfochtene Idee des Volksstaates zielte auf eine konstitutionelle Gesellschaftsordnung, in der dem Parlament eine maßgebliche Rolle zufiel; in der zweiten Kriegshälfte traten die Anhänger der Volksstaatsidee entschieden für die parlamentarische Monarchie ein, für parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung und eine Wahlrechtsänderung in Preußen.
Demgegenüber setzte sich die Mehrheit der an der Debatte Beteiligten für die - stärker an den "Ideen von 1914" orientierte - Ordnungsidee der "Volksgemeinschaft" ein. Erstrebt wurde eine auf gesamtgesellschaftliche Integration ausgerichtete korporative Gesellschaftsordnung, die sich vom westlich-demokratischen wie vom östlich-absolutistischen Staatssystem unterschied und dem "deutschen Wesen" entspräche; dem Parlament sollten nur beschränkte Mitwirkungsrechte zustehen. Das Modell der Volksgemeinschaft war - so Bruendel - "politisch grundsätzlich deutungsoffen". In der zweiten Kriegshälfte jedoch wurde die Volksgemeinschaftsidee zunehmend exklusiv verstanden, radikal nationalistisch instrumentalisiert und schließlich von der politischen Rechten vereinnahmt. Im Laufe des Krieges kam es - das betont Bruendel mit großem Nachdruck - zu einer "strukturellen Delegitimierung der bisherigen politischen Ordnung", denn beide Ordnungsideen, Volksstaat und Volksgemeinschaft, nahmen die Überwindung des bestehenden politischen Systems ins Visier, und beide Lager strebten, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen, eine Veränderung des innenpolitischen Status quo an. Insofern, dies die Conclusio Bruendels, bilde das Jahr 1916 in ideengeschichtlicher Hinsicht eine einschneidendere Zäsur als das Jahr 1914.
Bruendels dicht belegte und mit Verve argumentierende Studie ist ein wichtiger Beitrag zur politischen Ideengeschichte. Festzustellen bleibt indessen, daß die öffentlichen Äußerungen von 150 Gelehrten lediglich einen Ausschnitt aus der breiten innenpolitischen Debatte während der Kriegsjahre darstellen. Es wäre reizvoll, auch die Debattenbeiträge der Politiker einzubeziehen, die sich publizistisch und in den parlamentarischen Gremien geäußert haben. Auf diese Weise könnte das Bild noch klarer konturiert werden. Ferner ist zu konstatieren, daß die politische Rechte das Volksgemeinschaftsparadigma zwar in der Form der radikal nationalistisch überlagerten exklusiven Volksgemeinschaftsidee für sich vereinnahmte, daß es aber bis 1918 und darüber hinaus nicht zu ihrem ideologischen Alleinbesitz wurde, wie Bruendel annimmt.
Es gab nicht nur im Krieg, sondern auch in der Weimarer Republik eine sozialdemokratische und eine liberale Variante des Volksgemeinschaftstopos. So rühmte etwa Reichspräsident Friedrich Ebert am 1920 verstorbenen Gewerkschaftsführer Carl Legien die "unerschütterliche Pflichttreue und Schaffensfreude im Dienst der Volksgemeinschaft", und Gustav Stresemann gebrauchte unzählige Male den Ausdruck "Volksgemeinschaft" als Schlüsselbegriff zur Kennzeichnung eines Zusammenwirkens von Unternehmern und Gewerkschaften, ja als Synonym für die große Koalition; den "Gedanken der Volksgemeinschaft" hielt er "für den allein möglichen". Erst durch den inflationären Gebrauch durch die Nationalsozialisten und im NS-Staat ist "Volksgemeinschaft" zu einem kontaminierten Begriff geworden, den man heute kaum mehr in den Mund zu nehmen wagt.
EBERHARD KOLB
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"In einer klassischen, 1969 erschienenen Studie war Klaus Schwabe bereits den von Steffen Bruendel nun mit frischem Blick untersuchten "Ideen von 1914" nachgegangen - der Frage also nach den Hoffnungen und ideologischen Konzepten, die Intellektuelle mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs verbanden. Bruendel konzentriert sich in seiner Untersuchung auf rund 150 Gelehrte und die von ihnen verfassten Texte, und zwar unter den Aspekten ihres "Weltbilds", ihres "Selbst- und Feindbilds" und ihres "Zukunftsbilds". An zentraler Stelle scheiden sich die Zukunftskonzeptionen in der vom Titel des Buches benannten Differenz. Während die Minderheit der Vertreter einer Idee des "Volksstaates" in starkem Maße konstitutionell argumentierten, ist den Entwürfen zur Volksgemeinschaft der Zug ins Nationalistische spätestens seit 1916 deutlich abzulesen. Rezensent Eberhard Kolb lobt die Studie als "dicht belegt" und "mit Verve argumentiert", bedauert aber die Begrenzung des Rahmens auf die 150 Gelehrten und betont - gegen Bruendel-, dass die Idee der Volksgemeinschaft zunächst keineswegs ein Monopol der Rechten gewesen sei.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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"Gottlob ist das Buch handwerklich perfekt gearbeitet: reich belegt, Quellen und Literatur vorbildlich nachgewiesen, klar gegliedert, durchsichtige Aufbereitung des Problems, überzeugende Methode und nicht zuletzt so gut erzählt, daß beim Lesen Spannung aufkommt." (Der Staat, 1/2004)
"Für die politische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts seit vier Jahren ein Standardwerk, an dem der historisch interessierte Leser nicht herumkommt." (webcritics.de, 9. Juli 2008)
"Für die politische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts seit vier Jahren ein Standardwerk, an dem der historisch interessierte Leser nicht herumkommt." (webcritics.de, 9. Juli 2008)