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Die aktuelle Diskussion über Volksgeschichte als populäre Variante der Geschichtsschreibung nach 1918 hat sich bisher fast ausschließlich auf Deutschland konzentriert. Da man Volksgeschichte als Wegbereiterin nationalsozialistischer Denkfiguren ansah, blieb der Blick ganz auf die deutsche Binnensicht beschränkt. Aber inwiefern war Volksgeschichte tatsächlich ein spezifisch deutsches Phänomen der Zwischenkriegszeit? Gab es in europäischen Nachbarländern analoge Erscheinungen? Dieser Band untersucht elf nationale Historiografien in Europa auf volksgeschichtliche Denkfiguren und Schulen. Deutlich…mehr

Produktbeschreibung
Die aktuelle Diskussion über Volksgeschichte als populäre Variante der Geschichtsschreibung nach 1918 hat sich bisher fast ausschließlich auf Deutschland konzentriert. Da man Volksgeschichte als Wegbereiterin nationalsozialistischer Denkfiguren ansah, blieb der Blick ganz auf die deutsche Binnensicht beschränkt. Aber inwiefern war Volksgeschichte tatsächlich ein spezifisch deutsches Phänomen der Zwischenkriegszeit? Gab es in europäischen Nachbarländern analoge Erscheinungen?
Dieser Band untersucht elf nationale Historiografien in Europa auf volksgeschichtliche Denkfiguren und Schulen. Deutlich wird, dass Volksgeschichte auch in anderen europäischen Ländern verbreitet war. Erkennbar wird aber auch die besondere Konstellation der deutschen Entwicklung, die bis in die Anfänge einer sozialgeschichtlichen Schule in der frühen Bundesrepublik reicht.

Mit Beiträgen von: Reinhard Blänkner (Frankfurt/Oder), Jörg Fisch (Zürich), Christian Jansen (Bochum), Willi Oberkrome (Freiburg), Jan M.Piskorski (Posen), Lutz Raphael (Trier), Martin Schulze-Wessel (München), Willibald Steinmetz (Bochum), Bo Strath (Florenz), Holm Sundhaussen (Berlin), Veronika Wendland (Leipzig), Moshe Zimmermann (Jerusalem).
Autorenporträt
Dr. Manfred Hettling ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Halle-Wittenberg.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.07.2004

Was dem Volk frommt
Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft und Politik im Europa zwischen den Kriegen
Im Heidelberger Manifest von 1981 beobachteten deutsche Professoren mit großer Sorge „die Unterwanderung des deutschen Volkes durch Zuzug von vielen Millionen Ausländern und ihren Familien, die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums”. Wegen des drohenden Volkstodes der Deutschen beriefen sie sich auf ein „Naturrecht auf Erhaltung” ihrer „Identität und Eigenart”. Die Gefahr, in der „ethnischen Katastrophe” der Multikulturalität die Volkseigenschaften zu verlieren, bedrohe „lebensvolle und intakte deutsche Familien”. Mitunterzeichner dieses fragwürdigen Manifests waren ein ehemaliger Bundesminister, Theodor Oberländer, und ein Südosteuropahistoriker, Georg Stadtmüller.
Bekannt wurden sie durch - zumindest im Falle Oberländers nicht zu haltende - Vorwürfe, im „Dritten Reich” als Volkstumswissenschaftler an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt gewesen zu sein und sich für den Nationalsozialismus engagiert zu haben. Die für manche bittere Erkenntnis, dass auch andere führende Wegbereiter der deutschen Sozialgeschichte - Otto Brunner, Werner Conze und Theodor Schieder - eine Vergangenheit im Nationalsozialismus hatten, ist seit dem Frankfurter Historikertag 1998 in die Curricula der Historiker eingeschrieben.
Wie ist nun bevölkerungswissenschaftliches Wissen und speziell Volksgeschichte im faschistischen Exklusionsprojekt des „nation building” konstruiert und angewandt worden? Wie waren Wissenschaft und Politik miteinander verschränkt, und welche Wechselwirkungen lösten sie unter den nationalen „Volkshistorien” in Europa aus?
Wenn rassistisches Ordnungsdenken rigide Politikmodelle auf die Agenda in europäischen Staaten setzte, sind sozial-pathologische Fragmentierungen der Gesellschaft nicht allein als ein Problem der Sozial- und Medizinalpolitik zu definieren, sondern als Krisenphänomen der Gesellschaft. Begriffe wie „Volkskörper” und „Volksgemeinschaft” verbinden in Deutschland ein ausschließliches Ordnungsdenken, das die Gesellschaft nicht als solche von Individuen oder sozialen Verhältnissen ansieht, sondern im Hinblick auf den sozialtechnischen Zugriff des Staates auf seine Bevölkerung betrachtet. Carl Schmitt hatte diese bis zur Elimination reichende Vision in seiner 1932 erschienenen Schrift „Der Begriff des Politischen” zugespitzt: „Den extremen Konfliktfall können daher nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen, insbesondere kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktfall die Negation der eigenen Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft werden muss, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu retten.”
Wissenschaftliche Diskurse erlangen gesellschaftliche Praxis in dem Maße, wie sie zur Herrschaftstechnik werden. Hier sollten die beiden vorzustellenden Bücher ansetzen. Wolfgang Hardtwigs Sammelband basiert auf einem Kolloquium im Rahmen seines Forschungsvorhabens zur „Politischen Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit”. Er vermittelt diesen Zugang zu sozialen Konstruktionen (Raumplanung, Architektur, Sozial-/Technik) über den Begriff der Utopie in der ehemaligen Sowjetunion und im Nationalsozialismus mit jeweils fünf Beiträgen. Je ein Beitrag über den Zionismus (Michael Brenner) und italienischen Faschismus (Gustavo Corni) und über weitere Themen aus dem Bereich der völkischen Bewegungen bieten einen abgerundeten Überblick über die praktische Wirksamkeit von Sozialutopien unterschiedlichster Provenienz.
Deutsche Bedrohungsphobie
Manfred Hettlings Band setzt dort an, wo die „investigative Forschung” seines Erachtens versagt habe, aber er erweckt den Eindruck, als wolle er mittels einer vergleichenden Volksgeschichte in Europa als Wissenschaftsgeschichte die Entwicklung der deutschen Volksgeschichte kontextualisieren. Dies ist freilich schwierig, da nur wenige europäische Länder einen so regressiven Begriff des „Volkes” kennen wie Deutschland. Unter den etwas wahllos zusammengestellten Aufsätzen stechen einige Beiträge heraus, darunter der von Jörg Fisch über die Funktion des Völkerrechts als zwischenstaatliches Recht, das in dem Spannungsfeld von Staat, Individuum und Territorium die Bevölkerung eines Staates dem unscharfen Begriff des Volkes vorzieht. Ebenso solide wie erprobt ist der Beitrag über die deutsche Volksgeschichte von Willi Oberkrome.
Die deutsche Bedrohungsphobie wurzelte stark in einem bis in die Spätphase der Habsburger-Monarchie zurückreichenden Traditionszusammenhang insbesondere im bürgerlich-liberalen Lager. Wirkungsmächtig waren hier allgemein, zumal aber in den peripheren deutschen Siedlungsgebieten Süd- und Osteuropas, die Emanzipationsbestrebungen anderer Ethnien des Reiches sowie die Dynamik der italienischen Nationalbewegung. Gleichwohl fehlte diesen überwiegend die deutsche Konnotation des Volkes. In dem Beitrag von Holm Sundhausen über Serbiens Volksgeschichte, die als Einzige einen ähnlich ideologisch aufgeladenen Volksbegriff kennt, vermisst man gerade dort den Anknüpfungspunkt, wo es zu Wechselwirkungen mit deutscher Volkstumskunde und -politik gekommen ist.
Allein in dem Beitrag Moshe Zimmermanns über den zionistischen Volksbegriff, der sich aus der deutschen Volksgeschichte ableitet und in der ethnozentrischen Zuspitzung der Jerusalemer Schule in den dreißiger Jahren niederschlug, lässt sich noch eine Radikalisierung und damit einhergehend eine Entfremdung von der ursprünglichen sozialpolitischen Utopie Theodor Herzls erkennen. Die Beiträge über die „Volksgeschichten” in Polen (Jan M. Piskorski), Frankreich (Lutz Raphael), Tschechien (Peter Haslinger), Schweden (Bo Stråth) und das Baltikum (Anna V. Wendland) verweisen auf die andere Gewichtung und eine teilweise komplett andere Konnotation des Begriffs „Volk”, welcher nur im Deutschen die „neue Konzeption des Volks als einer Rassengemeinschaft” (Georg G. Iggers) so ausufernd definiert.
Auffälligerweise sind einige deutsche Autoren, insbesondere der Herausgeber, vom Glauben an eine unbefleckte Empfängnis der deutschen Sozialgeschichte beseelt, indem gerade dem rassistischen Diskurs in der Volksgeschichte eher eine untergeordnete Bedeutung zugewiesen wird. Dabei wird offenbar Werner Conzes „Leistung” vergessen, während des Dritten Reiches die „Entjudung” der Städte und „stark verjudeten Marktflecken” im Baltikum - also den Genozid - befürwortet zu haben. Kritische Selbstreflexion ist jedenfalls keine Stärke des Bandes, bei dem heterogene Phänomene nicht analytisch, sondern allein durch Buchbinderleim zusammengehalten werden. Dagegen kommt die exzellente „Sozialgeschichte der Kunst und Literatur” von Arnold Hauser gänzlich ohne den Bezug auf völkische Kunstwissenschaftler aus. Möge sich die deutsche Sozialgeschichte ein Vorbild daran nehmen und sich von ihren Übervätern endlich verabschieden.
MICHAEL FAHLBUSCH
WOLFGANG HARDTWIG (Hrsg.): Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit. Oldenbourg, München 2003. 356 Seiten, 59.80 Euro.
MANFRED HETTLING (Hrsg.): Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003. 372 S., 28.90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Michael Fahlbusch bespricht zwei Bände zur Bevölkerungswissenschaft und zur Volksgeschichte zwischen den Weltkriegen. Ziemlich eingehend widmet er sich dem Band "Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit", den Manfred Hettling herausgegeben hat. Dem Rezensenten erscheinen die einzelnen Beiträge zur europäischen Volksgeschichte "etwas wahllos zusammengestellt" und er bemängelt insbesondere, dass die Autoren nicht deutlich machen, dass der "regressive Begriff" des Volkes speziell in Deutschland zutrifft und sich nicht ohne weiteres auf andere europäische Länder anwenden lässt. Als gelungene Darstellungen hebt der Rezensent den Beitrag von Jörg Fisch über die "Funktion des Völkerrechts" und den Text von Willi Oberkrome über die deutsche Volksgeschichte, den er als "ebenso solide wie erprobt" lobt, hervor. Vor allem aber stört den Rezensenten, dass, wie er schreibt, einige Autoren des Bandes, zu denen er auch den Herausgeber zählt, einen "Glauben an die unbefleckte Empfängnis der deutschen Sozialgeschichte" hochhalten, die die nationalsozialistischen Sozialwissenschaftler wie beispielsweise Werner Conze gern unter den Teppich kehren. Fahlbusch würde sich hier erheblich mehr "kritische Selbstreflexion" wünschen. Insgesamt bemängelt er an diesem Sammelband, dass die verschiedenen Aspekte der einzelnen Beiträge nicht mittels analytischer Methoden, sondern "allein durch Buchbinderleim" miteinander verbunden sind.

© Perlentaucher Medien GmbH
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