Lois Hechenblaikner fotografiert seit zwanzig Jahren die Fans der volkstümlichen Musikszene Österreichs und Südtirols. Dafür hat er weit mehr als einhundert Volksmusik-Feste und Open-Air-Konzerte besucht und an Fanwanderungen teilgenommen. Nicht den Musikern gilt sein Hauptaugenmerk, sondern den Menschen, die sich oft auf weite Reisen begeben und keinen Aufwand scheuen, um ihren Idolen nahe zu sein. Im Publikum der volkstümlichen Musikszene spiegelt sich eine soziale Flora, die der Soziologe Gerhard Schulze als »Harmoniemilieu« beschreibt: Die Sehnsucht nach einer heilen Welt wird zur stärksten und einzigen Triebkraft. Es geht um Geborgenheit und darum, zumindest für ein paar Stunden all den Problemen und Niederlagen des Lebens zu entkommen.In dieser Werkserie lässt Lois Hechenblaikner mit den Möglichkeiten der Großformatfotografie eine Typologie des Publikums der volkstümlichen Musikszene entstehen. Er dokumentiert Gesichtsausdrücke, Gestik und Kleidung der verschiedenen Protagonisten, fängt reichlich skurrile Momente ein, jedoch stets, ohne die Fotografierten zu verunglimpfen. In ihrem Detailreichtum machen die Fotografien Mentalitäten sichtbar und erzählen ganze Lebensläufe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2019Was sind denn das für Typen?
Kritik der zynischen Vermarktung: Lois Hechenblaikner porträtiert Fans volkstümlicher Musik
In der Szenencollage "BÖsterreich" von Nicholas Ofczarek und Robert Palfrader kommt Tirol besonders schlecht weg. Ein Einheimischen-Casting muss veranstaltet werden, weil der Bürgermeister dem Schnalzerwirt erklärt, dass in beider Heimatort zwar jährlich mehr als 27 Millionen Gäste übernachteten und 4,5 Milliarden Umsatz erzeugten, dass aber nur noch elf Einheimische hier lebten, "Spaghettifresser mitgerechnet" - also Südtiroler. Eine Satire, die sich den Umstand zunutze macht, dass Tirol wie kein anderes österreichisches Bundesland auf Expansion setzt, wenn es um die Schaffung immer neuer touristischer Attraktionen geht.
Der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner hat sich in den Bänden "Off piste" (2009), "Winter Wonderland" (2012) und "Hinter den Bergen" (2015) mit den Auswüchsen dieses Umgangs mit der Natur auseinandergesetzt - schaurige Bilder der Verwüstung, die Menschenmassen hinterlassen, wenn die sie Bergwelt konsumieren. Nun überrascht er mit einem Band, der die Summe aus einem Vierteljahrhundert Beschäftigung mit dem Thema Volksmusik zieht. Aus einem Bestand von dreitausend Bildern hat Hechenblaikner hundert ausgewählt - und eine Themaverfehlung im Titel riskiert. Denn um echte Volksmusik geht es bei Hansi Hinterseer, den Zillertalern, den Kastelruther Spatzen keineswegs. Diese spielen volkstümliche Musik, die sich geschickt zeitgenössischer Strömungen bedient und deshalb als Quotenbringer auch von den Öffentlich-Rechtlichen geschätzt wird.
Der Band setzt ein mit Bildern von Massenaufläufen wie dem Hansi-Hinterseer Fan-Wochenende, dem Kastelruther Spatzenfest, dem Schürzenjäger Open Air oder dem Marc Pircher Fest. Mit Ausnahme von Hinterseer verzichtet der Fotograf auf eigene Bilder der Stars, er porträtiert stattdessen in klassischer August-Sander-Methode die Fans, meist paarweise. Sie kommen aus Österreich, der Schweiz, Norditalien, Bayern und Baden-Württemberg, aber auch aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Brandenburg und Sachsen. Schotten sind darunter, Holländer, Amerikaner und sogar eine Israelin.
Wie sie sich kleiden, das hat mit Tracht kaum etwas zu tun, ein wirres Crossover aus Lederhosen, Minidirndl, Ethnoklimbim, Jeans und Basecap. Bis hin zum Phantasiekostüm: drei Hessinnen tragen Spitzhüte und Flickenschürzen, sie sehen so unglücklich aus, als kämen sie von der Resterampe der Walpurgisnacht. Zu sehen sind Berufskraftfahrer, Metzger, Industriereiniger, Pflasterer, Schlosser, Rentner, Justiz-Fachangestellte, Friseurinnen.
In einem begleitenden Aufsatz macht sich Wolfgang Ullrich Gedanken, ob diese Heile-Welt-Inszenierung womöglich eine sozialpolitische Bedeutung habe - indem sie für die temporäre Heilung jener Schicht sorgt, die im täglichen Leben vielleicht nicht viel Anlass zur Freude hat. Handelt es sich also um einen Fall von Seelsorge, wo Kirchen nicht hinkommen, der Staat zu kurz springt? Oder doch eher um zynische Geschäftemacherei einer Musik- und Fanartikel-Industrie, die Schrott unters Volksmusikvolk bringt? Hechenblaikners Bilder haben sich entschieden, die Antwort dem Betrachter zu überlassen. Er denunziert seine Gegenstände nicht. Die Porträts entstanden jeweils nach kurzen Gesprächen, unter Angabe von Vorname, abgekürztem Nachnamen, Herkunft und Beruf. So stehen die Fans da und fordern vom Betrachter nur eines - ernstgenommen zu werden.
HANNES HINTERMEIER
Lois Hechenblaikner: "Volksmusik".
Steidl Verlag,
Göttingen 2019. 152 S.,
120 Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kritik der zynischen Vermarktung: Lois Hechenblaikner porträtiert Fans volkstümlicher Musik
In der Szenencollage "BÖsterreich" von Nicholas Ofczarek und Robert Palfrader kommt Tirol besonders schlecht weg. Ein Einheimischen-Casting muss veranstaltet werden, weil der Bürgermeister dem Schnalzerwirt erklärt, dass in beider Heimatort zwar jährlich mehr als 27 Millionen Gäste übernachteten und 4,5 Milliarden Umsatz erzeugten, dass aber nur noch elf Einheimische hier lebten, "Spaghettifresser mitgerechnet" - also Südtiroler. Eine Satire, die sich den Umstand zunutze macht, dass Tirol wie kein anderes österreichisches Bundesland auf Expansion setzt, wenn es um die Schaffung immer neuer touristischer Attraktionen geht.
Der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner hat sich in den Bänden "Off piste" (2009), "Winter Wonderland" (2012) und "Hinter den Bergen" (2015) mit den Auswüchsen dieses Umgangs mit der Natur auseinandergesetzt - schaurige Bilder der Verwüstung, die Menschenmassen hinterlassen, wenn die sie Bergwelt konsumieren. Nun überrascht er mit einem Band, der die Summe aus einem Vierteljahrhundert Beschäftigung mit dem Thema Volksmusik zieht. Aus einem Bestand von dreitausend Bildern hat Hechenblaikner hundert ausgewählt - und eine Themaverfehlung im Titel riskiert. Denn um echte Volksmusik geht es bei Hansi Hinterseer, den Zillertalern, den Kastelruther Spatzen keineswegs. Diese spielen volkstümliche Musik, die sich geschickt zeitgenössischer Strömungen bedient und deshalb als Quotenbringer auch von den Öffentlich-Rechtlichen geschätzt wird.
Der Band setzt ein mit Bildern von Massenaufläufen wie dem Hansi-Hinterseer Fan-Wochenende, dem Kastelruther Spatzenfest, dem Schürzenjäger Open Air oder dem Marc Pircher Fest. Mit Ausnahme von Hinterseer verzichtet der Fotograf auf eigene Bilder der Stars, er porträtiert stattdessen in klassischer August-Sander-Methode die Fans, meist paarweise. Sie kommen aus Österreich, der Schweiz, Norditalien, Bayern und Baden-Württemberg, aber auch aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Brandenburg und Sachsen. Schotten sind darunter, Holländer, Amerikaner und sogar eine Israelin.
Wie sie sich kleiden, das hat mit Tracht kaum etwas zu tun, ein wirres Crossover aus Lederhosen, Minidirndl, Ethnoklimbim, Jeans und Basecap. Bis hin zum Phantasiekostüm: drei Hessinnen tragen Spitzhüte und Flickenschürzen, sie sehen so unglücklich aus, als kämen sie von der Resterampe der Walpurgisnacht. Zu sehen sind Berufskraftfahrer, Metzger, Industriereiniger, Pflasterer, Schlosser, Rentner, Justiz-Fachangestellte, Friseurinnen.
In einem begleitenden Aufsatz macht sich Wolfgang Ullrich Gedanken, ob diese Heile-Welt-Inszenierung womöglich eine sozialpolitische Bedeutung habe - indem sie für die temporäre Heilung jener Schicht sorgt, die im täglichen Leben vielleicht nicht viel Anlass zur Freude hat. Handelt es sich also um einen Fall von Seelsorge, wo Kirchen nicht hinkommen, der Staat zu kurz springt? Oder doch eher um zynische Geschäftemacherei einer Musik- und Fanartikel-Industrie, die Schrott unters Volksmusikvolk bringt? Hechenblaikners Bilder haben sich entschieden, die Antwort dem Betrachter zu überlassen. Er denunziert seine Gegenstände nicht. Die Porträts entstanden jeweils nach kurzen Gesprächen, unter Angabe von Vorname, abgekürztem Nachnamen, Herkunft und Beruf. So stehen die Fans da und fordern vom Betrachter nur eines - ernstgenommen zu werden.
HANNES HINTERMEIER
Lois Hechenblaikner: "Volksmusik".
Steidl Verlag,
Göttingen 2019. 152 S.,
120 Abb., geb., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main