Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.11.2001Nur ein paar Turbulenzen
Henning Graf Reventlow übergeht die Revolutionen in den Epochen der Bibelauslegung
Eine berufsständische Akademikerzeitschrift fragt monatlich: Welche drei Bücher würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen? Selbst unter religionsfremden Intellektuellen wird ein Werk bemerkenswert häufig genannt, die Bibel. Doch ohne exegetische Hilfsmittel ist das Buch der Bücher kaum noch verständlich. Die fiktiven Insulaner müßten sich mit zusätzlichen Bücherstapeln bewaffnen. Ausnahmen bilden die großen Erzählungen des Alten Testaments, die Mosegeschichte, die Josephgeschichte, die Geschichte der Opferung Isaaks. Sie rücken dem Leser ohne gelehrten Kommentar ans Herz. Im Neuen Testament sind es die Bergpredigt, das Gleichnis von der Heimkehr des verlorenen Sohnes und die Erzählung von der Gefangennahme Jesu im Garten von Gethsemane mit den dramatischen Steigerungen des Verhörs, der Kreuzigung, die alle gelehrten Erläuterungen hinter sich lassen.
Die vier Bände der „Epochen der Bibelauslegung” liegen jetzt vor. Der erste erschien 1990, der letzte vor wenigen Wochen. Das Werk, 1265 Seiten, ist abgeschlossen, der Autor darf sich Momenten der Genugtuung hingeben, ehe er sein nächstes Projekt in Angriff nimmt. In seinem Fach, dem Alten Testament, hoch geschätzt, gilt er dennoch nicht als unbestritten. Henning Graf Reventlow ist ein Methodenkonservativer. Die historisch-philologischen und hermeneutischen Revolutionen, welche das Alte und Neue Testament in den letzten zwanzig, dreißig Jahren durchbebten, gingen an ihm zwar nicht spurlos, doch ohne größeren Eindruck vorüber.
Wer als langjähriger akademischer Lehrer für Auslegungsgeschichte und Geschichte der Biblischen Theologie über seinen eigenen Thesaurus an Einsichten verfügt, neigt zu dem Verdacht, die Revolutionen seien bloß Turbulenzen. Nur kurz setzt Reventlow die Leser auf den letzten Seiten seines Buches von den Revolutionen in Kenntnis: Unabgeschlossene Diskussionen, zu denen noch „der zeitliche und geistige Abstand” fehle. „Spätere Generationen müssen eine solche Darstellung neu schreiben.” Das klingt etwas resignativ und lädt zu Betrachtungen über die Verfallszeit von wissenschaftlichen Großprojekten ein. Man arbeitet, wie nicht nur Hans-Ulrich Wehler in Bielefeld weiß, um überholt zu werden. Graf Reventlow zog mit der Delegierung der Probleme an die Adresse der nächsten Generation eine Grenze, die den Informationsgehalt des Abschlussbandes leider ein wenig mindert.
„Epochen der Bibelauslegung” ist ein Buch über Bücher. Wie in den ersten drei Bänden stellt der Autor Theologen und Laien vor, die mit ihren Einleitungen, Kommentaren, kritischen Handbüchern zum Verständnis der Bibel beitrugen. Die Fülle forderte energische Auswahl und Beschränkung. Weil die Klassiker der neuzeitlich-modernen Bibelauslegung – Richard Simon, Spinoza, David Friedrich Strauß, Ferdinand Christian Baur, Julius Wellhausen, Albert Schweitzer und viele andere – nicht fehlen durften, herrscht das Gebot der Kürze an anderen Stellen um so rigider.
Auslegungen der Bibel jenseits der gelehrten Bücher, auf denen Reventlows Darstellung fußt, kommen in seinem Buch nicht vor. Die Kulturgeschichte der Bibel fehlt. Namen wie Bach oder Chagall wird man vergeblich suchen. Eine unbillige Kritik? Die Wissenschaftsgeschichte der Bibel besitzt andere Dimensionen als deren Kulturgeschichte oder ihre lebensgeschichtliche Auslegung. Zieht man die Trennungslinien zu scharf, verwandeln sich die methodischen Gewinne in Verluste. In manchen Strömungen der Bibelauslegung lassen sich Wissenschafts-, Kultur- und Lebensgeschichte gar nicht recht unterscheiden. Man denke an den Pietismus und die Erweckungsbewegung.
Ernst Wilhelm Hengstenberg, konservativer Publizist im Berlin des 19. Jahrhunderts und nahezu vierzig Jahre unumschränkter Herrscher auf dem Lehrstuhl für alt- und neutestamentliche Exegese, hätte sich Zweifel an seiner wissenschaftlichen Kompetenz dringend verbeten, obwohl dort gar nicht sein Ehrgeiz lag. Tatsächlich bewegte er sich nur in der Altorientalistik auf der Höhe des zeitgenössischen Wissens. Reventlow behandelt Hengstenberg, unerschütterbar von dessen exegetischen Fehlleistungen, als seriösen Bibelwissenschaftler.
Verrottetes Testament
Es wäre reizvoll gewesen, bei Hengstenberg die Osmosen zwischen Wissenschafts- und Lebensgeschichte zu zeigen. Der von Schicksalsschlägen Heimgesuchte – seine Ehefrau und alle seine fünf Kinder verstarben vorzeitig – wollte den lebensgeschichtlichen Umgang mit der Bibel fördern und durch fromme, anwendungspraktische Exegese das Fach voranbringen. Das Ineinander von Wissenschafts- und Lebensgeschichte vorgeführt zu sehen, hätte unser Wissen über Hengstenberg befördert. Auf einem anderen Blatt steht, was die Nicht-Hengstenbergianer über ihn dachten. Schleiermacher, der Fakultätsgenosse, fand das Alte Testament unter diesem ultraorthodoxen Glaubensmann verrottet.
Ein weiterer Musterfall der Bibelauslegung auf der Grenze von Wissenschaft und Leben ist Dietrich Bonhoeffer. 1937 erschien sein Büchlein „Nachfolge”, wissenschaftsgeschichtlich bestimmt kein Markstein in der Geschichte der Bibeldeutung. Trotzdem gehört diese schmale Prosa zu den wirkungsmächtigen Dokumenten der Begegnung mit der Bibel in unserer Zeit. „Nur der Glaubende ist gehorsam – nur der Gehorsame glaubt.” So der Schlüsselsatz. Gewonnen ist er durch Exegese der Nachfolgegeschichte des Zöllners Levi. Bonhoeffer bekräftigte ihn mit dem Preis seines Lebens.
Die Auslegungsgeschichten changieren. Es gibt dafür zahllose Beispiele, auch unter den „Laien”, die Graf Reventlow nicht übergangen wissen möchte. Dag Hammarskjöld, schwedischer Adelssohn mit dem Index geistiger Höchstbegabung und nachmals Generalsekretär der Vereinten Nationen, machte den Tod zum Hauptmotiv seiner Bibeldeutung. Auch der Fromme entrinnt ihm nicht. „Morgen treffen wir uns, der Tod und ich – Er wird seinen Degen stoßen in einen wachen Mann.”
Am Eingang des Buches steht ein Kroate, der dem Brauch der Zeit gemäß seinen Namen zu Matthias Flacius Illyricus latinisierte. Als kompromissloser Anhänger Luthers folgte er dem hermeneutischen Grundsatz, die Regeln zum Verstehen der Bibel lägen in ihr selber. Die Schlusspassagen sind Rudolf Bultmann und der existenzialen Interpretation des Neuen Testaments gewidmet. Zwischen Flacius und Bultmann stößt der Leser auf jene Theologen, Philosophen und Schriftsteller, die nach Reventlows Urteil die Charakteristika der jeweiligen Auslegungsepoche repräsentieren. Die Dimensionen sind zunächst europäisch, vom Ende des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sind sie deutsch. Während dieser Zeit, erklärt der Autor, habe die deutsche Theologie und Exegese die maßgebliche Rolle gespielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte die angelsächsische Forschung in die Führungsposition ein.
„Bibelauslegung” heißt für den Bochumer Alttestamentler, das wissenschaftliche Schrifttum zu durchleuchten. Was die Texte der Bibel in der Kirche, in den Künsten, in der Lebenswelt sonst noch bedeuten und bewirken – dafür gönnt er sich und seinen Lesern kaum einen Blick. In entwaffnender Trockenheit teilt er mit: „ein weites Feld, das hier unberücksichtigt bleiben muss”. Die Trockenheit versteht sich als Signal der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Typus von Meisterschaft.
KURTNOWAK
HENNING GRAF REVENTLOW: Epochen der Bibelauslegung. Band IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2001. 448 Seiten. 88 Mark.
Die Weite des Lands, die tiefen Farben, das unbestimmte Wetter würden ohne weitere Erklärung die breitformatigen Farbaufnahmen rechtfertigen. „Unschuldige Landschaften” nennt David Farrell seinen Fotoband (Edition Braus, Bönnigheim 2001, 144 Seiten, 78 Mark), aber die Bilder zeigen irische Schreck ensorte – die Stätten der Suche nach den „Verschwundenen”. Nachdem den Informanten Straffreiheit zugesichert wurde, gab die IRA letztes Jahr die Orte bekannt, wo die Leichen von neun abtrünnigen Katholiken vergraben seien. Von Kevin McKee und Seamus Wright, seit 1972 vermisst, fand man jedoch trotz intensiver Grabung in dem abgebildeten Waldstück bei Wilkinstown keine Spur.
ukü
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Henning Graf Reventlow übergeht die Revolutionen in den Epochen der Bibelauslegung
Eine berufsständische Akademikerzeitschrift fragt monatlich: Welche drei Bücher würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen? Selbst unter religionsfremden Intellektuellen wird ein Werk bemerkenswert häufig genannt, die Bibel. Doch ohne exegetische Hilfsmittel ist das Buch der Bücher kaum noch verständlich. Die fiktiven Insulaner müßten sich mit zusätzlichen Bücherstapeln bewaffnen. Ausnahmen bilden die großen Erzählungen des Alten Testaments, die Mosegeschichte, die Josephgeschichte, die Geschichte der Opferung Isaaks. Sie rücken dem Leser ohne gelehrten Kommentar ans Herz. Im Neuen Testament sind es die Bergpredigt, das Gleichnis von der Heimkehr des verlorenen Sohnes und die Erzählung von der Gefangennahme Jesu im Garten von Gethsemane mit den dramatischen Steigerungen des Verhörs, der Kreuzigung, die alle gelehrten Erläuterungen hinter sich lassen.
Die vier Bände der „Epochen der Bibelauslegung” liegen jetzt vor. Der erste erschien 1990, der letzte vor wenigen Wochen. Das Werk, 1265 Seiten, ist abgeschlossen, der Autor darf sich Momenten der Genugtuung hingeben, ehe er sein nächstes Projekt in Angriff nimmt. In seinem Fach, dem Alten Testament, hoch geschätzt, gilt er dennoch nicht als unbestritten. Henning Graf Reventlow ist ein Methodenkonservativer. Die historisch-philologischen und hermeneutischen Revolutionen, welche das Alte und Neue Testament in den letzten zwanzig, dreißig Jahren durchbebten, gingen an ihm zwar nicht spurlos, doch ohne größeren Eindruck vorüber.
Wer als langjähriger akademischer Lehrer für Auslegungsgeschichte und Geschichte der Biblischen Theologie über seinen eigenen Thesaurus an Einsichten verfügt, neigt zu dem Verdacht, die Revolutionen seien bloß Turbulenzen. Nur kurz setzt Reventlow die Leser auf den letzten Seiten seines Buches von den Revolutionen in Kenntnis: Unabgeschlossene Diskussionen, zu denen noch „der zeitliche und geistige Abstand” fehle. „Spätere Generationen müssen eine solche Darstellung neu schreiben.” Das klingt etwas resignativ und lädt zu Betrachtungen über die Verfallszeit von wissenschaftlichen Großprojekten ein. Man arbeitet, wie nicht nur Hans-Ulrich Wehler in Bielefeld weiß, um überholt zu werden. Graf Reventlow zog mit der Delegierung der Probleme an die Adresse der nächsten Generation eine Grenze, die den Informationsgehalt des Abschlussbandes leider ein wenig mindert.
„Epochen der Bibelauslegung” ist ein Buch über Bücher. Wie in den ersten drei Bänden stellt der Autor Theologen und Laien vor, die mit ihren Einleitungen, Kommentaren, kritischen Handbüchern zum Verständnis der Bibel beitrugen. Die Fülle forderte energische Auswahl und Beschränkung. Weil die Klassiker der neuzeitlich-modernen Bibelauslegung – Richard Simon, Spinoza, David Friedrich Strauß, Ferdinand Christian Baur, Julius Wellhausen, Albert Schweitzer und viele andere – nicht fehlen durften, herrscht das Gebot der Kürze an anderen Stellen um so rigider.
Auslegungen der Bibel jenseits der gelehrten Bücher, auf denen Reventlows Darstellung fußt, kommen in seinem Buch nicht vor. Die Kulturgeschichte der Bibel fehlt. Namen wie Bach oder Chagall wird man vergeblich suchen. Eine unbillige Kritik? Die Wissenschaftsgeschichte der Bibel besitzt andere Dimensionen als deren Kulturgeschichte oder ihre lebensgeschichtliche Auslegung. Zieht man die Trennungslinien zu scharf, verwandeln sich die methodischen Gewinne in Verluste. In manchen Strömungen der Bibelauslegung lassen sich Wissenschafts-, Kultur- und Lebensgeschichte gar nicht recht unterscheiden. Man denke an den Pietismus und die Erweckungsbewegung.
Ernst Wilhelm Hengstenberg, konservativer Publizist im Berlin des 19. Jahrhunderts und nahezu vierzig Jahre unumschränkter Herrscher auf dem Lehrstuhl für alt- und neutestamentliche Exegese, hätte sich Zweifel an seiner wissenschaftlichen Kompetenz dringend verbeten, obwohl dort gar nicht sein Ehrgeiz lag. Tatsächlich bewegte er sich nur in der Altorientalistik auf der Höhe des zeitgenössischen Wissens. Reventlow behandelt Hengstenberg, unerschütterbar von dessen exegetischen Fehlleistungen, als seriösen Bibelwissenschaftler.
Verrottetes Testament
Es wäre reizvoll gewesen, bei Hengstenberg die Osmosen zwischen Wissenschafts- und Lebensgeschichte zu zeigen. Der von Schicksalsschlägen Heimgesuchte – seine Ehefrau und alle seine fünf Kinder verstarben vorzeitig – wollte den lebensgeschichtlichen Umgang mit der Bibel fördern und durch fromme, anwendungspraktische Exegese das Fach voranbringen. Das Ineinander von Wissenschafts- und Lebensgeschichte vorgeführt zu sehen, hätte unser Wissen über Hengstenberg befördert. Auf einem anderen Blatt steht, was die Nicht-Hengstenbergianer über ihn dachten. Schleiermacher, der Fakultätsgenosse, fand das Alte Testament unter diesem ultraorthodoxen Glaubensmann verrottet.
Ein weiterer Musterfall der Bibelauslegung auf der Grenze von Wissenschaft und Leben ist Dietrich Bonhoeffer. 1937 erschien sein Büchlein „Nachfolge”, wissenschaftsgeschichtlich bestimmt kein Markstein in der Geschichte der Bibeldeutung. Trotzdem gehört diese schmale Prosa zu den wirkungsmächtigen Dokumenten der Begegnung mit der Bibel in unserer Zeit. „Nur der Glaubende ist gehorsam – nur der Gehorsame glaubt.” So der Schlüsselsatz. Gewonnen ist er durch Exegese der Nachfolgegeschichte des Zöllners Levi. Bonhoeffer bekräftigte ihn mit dem Preis seines Lebens.
Die Auslegungsgeschichten changieren. Es gibt dafür zahllose Beispiele, auch unter den „Laien”, die Graf Reventlow nicht übergangen wissen möchte. Dag Hammarskjöld, schwedischer Adelssohn mit dem Index geistiger Höchstbegabung und nachmals Generalsekretär der Vereinten Nationen, machte den Tod zum Hauptmotiv seiner Bibeldeutung. Auch der Fromme entrinnt ihm nicht. „Morgen treffen wir uns, der Tod und ich – Er wird seinen Degen stoßen in einen wachen Mann.”
Am Eingang des Buches steht ein Kroate, der dem Brauch der Zeit gemäß seinen Namen zu Matthias Flacius Illyricus latinisierte. Als kompromissloser Anhänger Luthers folgte er dem hermeneutischen Grundsatz, die Regeln zum Verstehen der Bibel lägen in ihr selber. Die Schlusspassagen sind Rudolf Bultmann und der existenzialen Interpretation des Neuen Testaments gewidmet. Zwischen Flacius und Bultmann stößt der Leser auf jene Theologen, Philosophen und Schriftsteller, die nach Reventlows Urteil die Charakteristika der jeweiligen Auslegungsepoche repräsentieren. Die Dimensionen sind zunächst europäisch, vom Ende des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts sind sie deutsch. Während dieser Zeit, erklärt der Autor, habe die deutsche Theologie und Exegese die maßgebliche Rolle gespielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg rückte die angelsächsische Forschung in die Führungsposition ein.
„Bibelauslegung” heißt für den Bochumer Alttestamentler, das wissenschaftliche Schrifttum zu durchleuchten. Was die Texte der Bibel in der Kirche, in den Künsten, in der Lebenswelt sonst noch bedeuten und bewirken – dafür gönnt er sich und seinen Lesern kaum einen Blick. In entwaffnender Trockenheit teilt er mit: „ein weites Feld, das hier unberücksichtigt bleiben muss”. Die Trockenheit versteht sich als Signal der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Typus von Meisterschaft.
KURTNOWAK
HENNING GRAF REVENTLOW: Epochen der Bibelauslegung. Band IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 2001. 448 Seiten. 88 Mark.
Die Weite des Lands, die tiefen Farben, das unbestimmte Wetter würden ohne weitere Erklärung die breitformatigen Farbaufnahmen rechtfertigen. „Unschuldige Landschaften” nennt David Farrell seinen Fotoband (Edition Braus, Bönnigheim 2001, 144 Seiten, 78 Mark), aber die Bilder zeigen irische Schreck ensorte – die Stätten der Suche nach den „Verschwundenen”. Nachdem den Informanten Straffreiheit zugesichert wurde, gab die IRA letztes Jahr die Orte bekannt, wo die Leichen von neun abtrünnigen Katholiken vergraben seien. Von Kevin McKee und Seamus Wright, seit 1972 vermisst, fand man jedoch trotz intensiver Grabung in dem abgebildeten Waldstück bei Wilkinstown keine Spur.
ukü
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.03.1998Das Fasten war ihnen nicht Wurst
Henning Reventlow erläutert die Bibelauslegung der Reformatoren
"Als ich jung war, da war ich gelehrt und insbesondere, ehe ich zur Theologie kam, da ging ich mit Allegorien, Tropologien, Analogien um und machte lauter Kunst. Ich weiß, daß es lauter Dreck ist, den ich nun hab' fahren lassen. Der Literalsinn, der tut's, da ist Leben, Trost, Kraft, Lehre und Kunst drin. Das andere ist Narrenwerk, auch wenn es hoch glänzt." Die bekannten autobiographischen Worte Martin Luthers in seinen "Tischreden" (1540) sind eine selbstbewußte reformatorische Stellungnahme gegen die traditionelle mittelalterliche Exegese und deren theologische Voraussetzungen. Sie sind aber auch das Manifest einer Generation von Intellektuellen, welche die vom Humanismus geforderte und begründete Revision der Bibelauslegung endlich zu einer entscheidenden kirchenpolitischen Wende nutzte. Henning Reventlow widmet der ausführlichen Darstellung dieser Bewegung den dritten Band seines Hauptwerks über die "Epochen der Bibelauslegung". Er verfolgt die Stationen des Weges, der binnen eines Jahrhunderts einen ganz neuen Zugang zum "Buch der Bücher" eröffnete.
Der erste Teil des Bandes handelt von der "Bibel in Renaissance und Humanismus". Reventlow schreitet von Autor zu Autor fort, wobei er immer eine biographisch-historische Charakterisierung des jeweiligen Autors vorausschickt, um dann dessen spezifischen Beitrag zur Bibelauslegung folgen zu lassen. So dokumentieren die Fälle Giannozzo Manettis und Johannes Reuchlins das wachsende Interesse an der hebräischen Sprache, was die Lektüre des Originaltextes und der jüdischen Exegese ermöglichte und bei Lorenzo Valla und Erasmus zu immer größerer Sensibilität in Fragen der biblischen Textphilologie führte. Marsilio Ficino versuchte eine platonische Lektüre der Heiligen Schrift, John Colet beleuchtete den historischen Hintergrund der Paulusbriefe, der französische Humanist Jacques (bei Reventlow: Johannes) Lefèvre d'Etaples krönte seine jahrzehntelange Arbeit an der Bibel durch eine vollständige Übersetzung ins Französische.
Im zweiten Teil ("Bibel in der Reformationszeit") sind Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin die zentralen Gestalten. Das Sprengpotential, das die Bibelauslegung damals entwickeln konnte, wird besonders in der Betrachtung der radikalen Flügel des Protestantismus ersichtlich - bei Thomas Müntzer, den Anabaptisten von Zürich und Münster, Pilgram Marpek, Sebastian Franck. Die Entwicklung der Exegese in "Gegenreformation, Späthumanismus und (protestantischer) Orthodoxie" wird schließlich dargestellt an drei Beispielen: dem großen katholischen Bibelwissenschaftler Johannes Maldonatus, dem holländischen Humanisten Hugo Grotius und an dem monumentalen bibelhermeneutischen und apologetischen Werk des Generalsuperintendenten Abraham Calov, dessen wichtige Schrift "Socinianismus profligatus" ("Der niedergeschlagene Sozinianismus") hier seltsamerweise als "Der ruchlose Sozinianismus" zitiert wird.
Indem der Leser die Renaissance von Reventlows Blickwinkel aus betrachtet, kann er sich die heute vielleicht seltsam anmutende Zentralität vergegenwärtigen, welche die Bibel in jener Epoche in der Erfahrung und im Leben der Gelehrten sowie der einfachen Leute innehatte. Es war eine Epoche, in der eine abweichende Meinung über die Trinität einen Menschen das Leben kosten konnte, und zwar nicht nur bei den Katholiken, sondern auch bei den Reformierten, wie die von Calvin befürwortete Exekution von Michael Servet zeigt. Es war eine Epoche, in der ein Wurstessen zur Fastenzeit, so wie es 1522 in Zürich organisiert wurde, auch für einen Huldrych Zwingli eine allzu revolutionäre Aktion war.
Daß man auch damals in der Heiligen Schrift einen "literalen" Grund fand, um die Frauen noch besser zu unterjochen, ist nicht verwunderlich. Als die frommen westfälischen Münsteraner 1534 die Gründung des Reiches Gottes erklärten, "wurde - nach gründlichem Studium der Schrift, daß die Mehrehe in ihr nicht verboten sei - den Männern erlaubt, mehrere Frauen zu heiraten, und wurden alle Frauen zur Ehe verpflichtet". Reventlows kühler Kommentar ist in diesem Fall vielleicht ein wenig zu "theologisch": "Das Gebot aus 1. Mose 1,26 als Zweck der Ehe stand im Vordergrund, aber auch 1. Mose 3,16, wonach der Mann der Herr über die Frau sein soll. Deshalb mußten sich auch alte Frauen der Herrschaft eines Mannes unterstellen. Später wurden die Vorschriften etwas gelockert . . ." LORIS STURLESE
Henning Graf Reventlow: "Epochen der Bibelauslegung". Band III. Renaissance, Reformation, Humanismus. Verlag C. H. Beck, München 1997. 271 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Henning Reventlow erläutert die Bibelauslegung der Reformatoren
"Als ich jung war, da war ich gelehrt und insbesondere, ehe ich zur Theologie kam, da ging ich mit Allegorien, Tropologien, Analogien um und machte lauter Kunst. Ich weiß, daß es lauter Dreck ist, den ich nun hab' fahren lassen. Der Literalsinn, der tut's, da ist Leben, Trost, Kraft, Lehre und Kunst drin. Das andere ist Narrenwerk, auch wenn es hoch glänzt." Die bekannten autobiographischen Worte Martin Luthers in seinen "Tischreden" (1540) sind eine selbstbewußte reformatorische Stellungnahme gegen die traditionelle mittelalterliche Exegese und deren theologische Voraussetzungen. Sie sind aber auch das Manifest einer Generation von Intellektuellen, welche die vom Humanismus geforderte und begründete Revision der Bibelauslegung endlich zu einer entscheidenden kirchenpolitischen Wende nutzte. Henning Reventlow widmet der ausführlichen Darstellung dieser Bewegung den dritten Band seines Hauptwerks über die "Epochen der Bibelauslegung". Er verfolgt die Stationen des Weges, der binnen eines Jahrhunderts einen ganz neuen Zugang zum "Buch der Bücher" eröffnete.
Der erste Teil des Bandes handelt von der "Bibel in Renaissance und Humanismus". Reventlow schreitet von Autor zu Autor fort, wobei er immer eine biographisch-historische Charakterisierung des jeweiligen Autors vorausschickt, um dann dessen spezifischen Beitrag zur Bibelauslegung folgen zu lassen. So dokumentieren die Fälle Giannozzo Manettis und Johannes Reuchlins das wachsende Interesse an der hebräischen Sprache, was die Lektüre des Originaltextes und der jüdischen Exegese ermöglichte und bei Lorenzo Valla und Erasmus zu immer größerer Sensibilität in Fragen der biblischen Textphilologie führte. Marsilio Ficino versuchte eine platonische Lektüre der Heiligen Schrift, John Colet beleuchtete den historischen Hintergrund der Paulusbriefe, der französische Humanist Jacques (bei Reventlow: Johannes) Lefèvre d'Etaples krönte seine jahrzehntelange Arbeit an der Bibel durch eine vollständige Übersetzung ins Französische.
Im zweiten Teil ("Bibel in der Reformationszeit") sind Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin die zentralen Gestalten. Das Sprengpotential, das die Bibelauslegung damals entwickeln konnte, wird besonders in der Betrachtung der radikalen Flügel des Protestantismus ersichtlich - bei Thomas Müntzer, den Anabaptisten von Zürich und Münster, Pilgram Marpek, Sebastian Franck. Die Entwicklung der Exegese in "Gegenreformation, Späthumanismus und (protestantischer) Orthodoxie" wird schließlich dargestellt an drei Beispielen: dem großen katholischen Bibelwissenschaftler Johannes Maldonatus, dem holländischen Humanisten Hugo Grotius und an dem monumentalen bibelhermeneutischen und apologetischen Werk des Generalsuperintendenten Abraham Calov, dessen wichtige Schrift "Socinianismus profligatus" ("Der niedergeschlagene Sozinianismus") hier seltsamerweise als "Der ruchlose Sozinianismus" zitiert wird.
Indem der Leser die Renaissance von Reventlows Blickwinkel aus betrachtet, kann er sich die heute vielleicht seltsam anmutende Zentralität vergegenwärtigen, welche die Bibel in jener Epoche in der Erfahrung und im Leben der Gelehrten sowie der einfachen Leute innehatte. Es war eine Epoche, in der eine abweichende Meinung über die Trinität einen Menschen das Leben kosten konnte, und zwar nicht nur bei den Katholiken, sondern auch bei den Reformierten, wie die von Calvin befürwortete Exekution von Michael Servet zeigt. Es war eine Epoche, in der ein Wurstessen zur Fastenzeit, so wie es 1522 in Zürich organisiert wurde, auch für einen Huldrych Zwingli eine allzu revolutionäre Aktion war.
Daß man auch damals in der Heiligen Schrift einen "literalen" Grund fand, um die Frauen noch besser zu unterjochen, ist nicht verwunderlich. Als die frommen westfälischen Münsteraner 1534 die Gründung des Reiches Gottes erklärten, "wurde - nach gründlichem Studium der Schrift, daß die Mehrehe in ihr nicht verboten sei - den Männern erlaubt, mehrere Frauen zu heiraten, und wurden alle Frauen zur Ehe verpflichtet". Reventlows kühler Kommentar ist in diesem Fall vielleicht ein wenig zu "theologisch": "Das Gebot aus 1. Mose 1,26 als Zweck der Ehe stand im Vordergrund, aber auch 1. Mose 3,16, wonach der Mann der Herr über die Frau sein soll. Deshalb mußten sich auch alte Frauen der Herrschaft eines Mannes unterstellen. Später wurden die Vorschriften etwas gelockert . . ." LORIS STURLESE
Henning Graf Reventlow: "Epochen der Bibelauslegung". Band III. Renaissance, Reformation, Humanismus. Verlag C. H. Beck, München 1997. 271 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main