Ein historischer Reiseroman in die Südsee
Die Autorin ließ sich in ihrem Erstlingsroman inspirieren vom Leben der französischen Botanikerin Jeanne Baret. Im Anhang befindet sich ein kurzes Portrait über diese, bei uns unbekannte Wissenschafterin. Sie ist 1768 als Mann verkleidet in See gestochen,
um als Botanikerin an einer Expedition in die Südsee teilzunehmen.
Liv Wintergerg lässt ihre…mehrEin historischer Reiseroman in die Südsee
Die Autorin ließ sich in ihrem Erstlingsroman inspirieren vom Leben der französischen Botanikerin Jeanne Baret. Im Anhang befindet sich ein kurzes Portrait über diese, bei uns unbekannte Wissenschafterin. Sie ist 1768 als Mann verkleidet in See gestochen, um als Botanikerin an einer Expedition in die Südsee teilzunehmen.
Liv Wintergerg lässt ihre Protagonistin Mary Linley von Plymouth aus als Marc Middleton auf einem Expeditionsschiff im Team des angesehenen Botanikers Sir Carl Belham als wissenschaftliche Zeichnerin anheuern.
Der größte Teil der Handlung des Romans beschreibt das Leben auf dem Schiff. Einerseits wird veranschaulicht, wie die Besatzung untergebracht und vom Smutje Henry mit möglichst gesundem und nahrhaftem Essen versorgt wird. Man erfährt ebenfalls eine ganze Menge über die medizinische Behandlung von Krankheiten und Verletzungen.
Soweit ich das beurteilen kann, ist das alles realistisch beschrieben und gut recherchiert.
Die Reise an Bord der Sailing Queen führt über verschiedene Stationen und endet für Mary und Sir Carl Belham auf der Insel Tahiti. Die Beschreibung der eingeborenen Bevölkerung mag aus heutiger Sicht etwas klischeehaft erscheinen. Ich finde aber, dass die Autorin die Sichtweise der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gut getroffen hat. Sie bringt dem Leser die „Edlen Wilden“ so näher wie Rousseau diese als Ideal beschrieben hat, die aber bereits konfrontiert worden sind mit diversen Mitbringseln aus der europäischen Welt und dadurch schon etwas von ihrer Unschuld verloren haben. Die Autorin lässt genügend Lücken, die man sich in der eigenen Fantasie ausfüllen kann, ohne dass sie den Menschen auf Tahiti Eigenschaften und Verhaltensweisen andichtet, die diese so womöglich nicht gehabt haben.
Die Schiffspassagen, aber auch die Beschreibungen der Landexkursionen sind sehr anschaulich und stimmungsvoll gelungen. Man hört und riecht den Dschungel und spürt auch die Stille des Betrachters der Natur.
Der gelungene Einsatz der Sprache hat mich ganz besonders beeindruckt. Die Ausdrucksweise hebt sich positiv von vielen Romanen neueren Datums ab. Die Autorin schreibt sehr sicher, souverän und schafft es, die Atmosphäre still und leise einzufangen ohne einen Überschwang an langatmigen Beschreibungen oder aufdringlichen Gefühlswallungen. Die erzählte Geschichte ist schlüssig, geradlinig und nicht überladen an Motiven und Themen.
Im Anhang befindet sich ein Glossar, mit vielen Fachausdrücken aus der Schifffahrt, der Medizin und der Botanik. Das hat das Verständnis sehr erleichtert und ich konnte meinen eigenen Wortschatz sogar etwas ausbauen.
Zuerst habe ich mich gefragt habe, warum die Autorin nicht gleich die Geschichte der Jeanne Baret erzählt, wenn sie sie schon als Inspiration bemüht. Inzwischen finde ich aber die Lösung, den Roman anhand einer fiktiven Figur zu erzählen sehr gut. Auf diese Weise kann die Autorin ihre schriftstellerische Freiheit wahren, ohne Gefahr zu laufen, zuviel in eine historische Persönlichkeit zu interpretieren, über die man noch nicht sehr viel weiß.
Fazit:
Dieses Erstlingswerk von Liv Winterberg hat mich sehr positiv überzeugt. Ich hatte erst meine Bedenken, dass es für meinen Geschmack zu klischeehaft und zu sehr Liebesroman sein könnte. Es lässt sich natürlich nicht von der Hand weisen, dass es sich um einen „Frau-in-Hose“-Roman handelt. Aber ich denke in diesem Fall ist das mehr als verziehen. Da sich die Autorin von einer historisch verbürgten Person inspirieren ließ, war das die einzige Möglichkeit.
Für mich hat dieses Buch das gewisse Etwas, was ein sehr gutes Buch von einem guten Buch unterscheidet. Es hat einen gewissen Zauber, den ich nicht wirklich benennen kann, und ich hoffe sehr, dass die Autorin noch mehr so gute Romane schreiben wird.