Ein Jahrhundertleben
Helga Schubert erzählt in kurzen Episoden und klarer, berührender Sprache ein
Jahrhundert deutscher Geschichte - ihre Geschichte, sie ist Fiktion und Wahrheit
zugleich. Doch vor allem ist es die Geschichte einer Versöhnung: mit der Mutter,
einem Leben voller Widerstände und sich selbst. Nominiert für den Preis der
Leipziger Buchmesse 2021.
Helga Schubert erzählt in kurzen Episoden und klarer, berührender Sprache ein
Jahrhundert deutscher Geschichte - ihre Geschichte, sie ist Fiktion und Wahrheit
zugleich. Doch vor allem ist es die Geschichte einer Versöhnung: mit der Mutter,
einem Leben voller Widerstände und sich selbst. Nominiert für den Preis der
Leipziger Buchmesse 2021.
Und das schönste Buch des letzten Jahres war der späte Triumph der wunderbaren und viele Jahre unbemerkten Helga Schubert: 'Vom Aufstehen'. Volker Weidermann Die Zeit 20220609
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2021Zum Frühstück Kuchen mit Muckefuck
Als Helga Schubert den Bachmann-Preis gewann, kannten viele sie noch nicht oder hatten sie vergessen: Jetzt kann man sie besser kennenlernen
Als Helga Schubert im vergangenen Jahr für ihre Erzählung "Vom Aufstehen" den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war die Überraschung groß. Denn die 1940 geborene Autorin, die nach einer Flucht am Kriegsende in der DDR groß wurde und als Psychologin arbeitete, hat ein uneinheitliches Werk hervorgebracht, das aus Erzählungen, Kinderbüchern und Sachtexten besteht. Vielen war sie gar nicht bekannt, auch weil sie innerhalb der DDR-Literatur zu keiner Gruppierung gehörte. Weder verließ sie nach der Biermann-Ausbürgerung die DDR wie etwa ihre Weggefährtin Sarah Kirsch, noch war sie wie die befreundete Christa Wolf bereit, das System bei allen Mängeln zu idealisieren, weil es im Gegensatz zum Westen immerhin auf einer großen Idee beruhe. Mit dem Rücken zur Gesellschaft versuchte Helga Schubert ein ihr gemäßes Leben zu führen. "Ich habe die Regeln des Ostens begriffen und sie beachtet", so charakterisiert sie es, "aber zu Hause lebte ich im Westen, mit Ironie und Jazz und den Schlagern der Woche erholte ich mich vom Pathos draußen."
Jetzt kann man sie genauer kennenlernen, denn ein Band mit knapp dreißig neuen Erzählungen liegt vor. Manche davon sind sehr kurz und eher als Momentbeschreibungen oder Meditationen zu charakterisieren, andere umspannen den gesamten Lebenslauf. Am Eröffnungsstück "Mein idealer Ort" lässt sich Schuberts erzählerische Methode gut erfassen: "Mein idealer Ort ist eine Erinnerung: An das Aufwachen nach dem Mittagsschlaf in der Hängematte im Garten meiner Großmutter und ihres Freundes (mein alter Freund, sagte sie) in der Greifswalder Obstbausiedlung am ersten Tag der Sommerferien. Immer am ersten Tag der langen wunderbaren Sommerferien." Dann werden die Großmutter und ihr Freund beschrieben, einige Aktivitäten wie das Verkaufen von Äpfeln auf dem Markt geschildert, ein Rückblick auf den letzten Schultag eingeflochten, um wieder in der Hängematte zu enden, in der die Erzählerin einschläft. Beim Aufwachen gibt es Kuchen und Muckefuck. So ging es "bis zum Ende des Sommers. So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute." Das Erzählte beschwört eine Atmosphäre herauf, Bilder und Wiederholungen ziehen die Leser in die Situation hinein, die Wirkung ist eine psychische: Literatur bringt einen Wärmestrom hervor.
In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur steht Schubert mit einem solchen Konzept eher am Rand, aber das hat wenig zu sagen, denn die Vorstellung einer stabilisierenden oder reinigenden oder auch therapeutischen Wirkung von Literatur ist so alt wie die Literatur selbst. In den besten Momenten des Bandes beglaubigt Schubert sie eindrucksvoll: Siehe, es gelingt! Das gilt für die Titelerzählung "Vom Aufstehen", die auf einer einfachen und wirkungsvollen Konstruktion ruht. Die Erzählerin liegt am Morgen wach, hat noch etwas Zeit, bevor sie aufstehen muss, wird gleich zu ihrem Mann gehen, den sie pflegt, und das Frühstück zubereiten. Eingebettet in die innere Vorbereitung auf den Tag sind Schübe von Erinnerungen, die bis in die frühe Kindheit zurückreichen und immer wieder die Mutter erfassen. Zu ihr besteht ein Verhältnis, in dem Nähe, Ablehnung, Abhängigkeit und Verletzungen untrennbar gemischt sind. Der Vorgang des Erzählens dient in diesem Fall einer inneren Versöhnung mit der Mutter und einer Akzeptanz des eigenen holprigen und steinigen Lebenswegs.
In der Jurydiskussion in Klagenfurt hat Insa Wilke überzeugend auf die christlichen Wurzeln dieses autobiographischen Erzählens hingewiesen. Seit den "Confessiones" von Augustinus sind die Schilderung des Lebenswegs und die Suche nach einem höheren Sinn miteinander verbunden. Auch Helga Schubert schreibt Bekenntnisse, will ihre Handlungen und Entscheidungen rechtfertigen und sich als Teil eines großen Ganzen verstehen. Dazu passt auch die Bedeutung von Liedern, die genannt und zitiert werden. Auch wer nicht an das Gesungene glaubt, kann sich darin geborgen fühlen. Die Mutter konnte grausam sein, aber sie hat dem Kind auch vorgesungen.
Nicht viele Erzählungen erreichen dieses Niveau. Manche Texte stellen überlange und absatzreiche Protokolle dar ("Eine Wahlverwandtschaft"), andere sind thematisch weniger ergiebig (Fastenwochenenden mit Freundinnen), und ganz gelegentlich schlägt die Psychologie sprachlich ungut durch ("Denn das Märchen stärkt das Kind in mir"). Mitgenommen wird man als Leser immer dann, wenn Schubert erzählt, gestaltet, erfindet und eben nicht nur berichtet. Dann entsteht zum Beispiel eine gedankenreiche Miniatur mit dem Titel "Dämmerungen eines einzigen Tages", die auch lyrisch anspricht.
Wer autobiographisch und kunstvoll schreibt wie Schubert, setzt Schwerpunkte in der eigenen Lebensgeschichte, aber lässt manches aus. Eine dieser Auslassungen ist auffallend, denn Schubert schweigt ausgerechnet über die Künstlerkolonie Drispeth in ihrer mecklenburgischen Heimat, die sie in den siebziger Jahren mit Christa Wolf und anderen teilte (F.A.Z. vom 1. August 2020). Wolf hat darüber eine Erzählung mit dem Titel "Sommerstück" geschrieben. Auch in kulturgeschichtlicher Perspektive ist dieses Experiment des Rückzugs interessant. Später stellte sich heraus, dass die Künstlergruppe von der Stasi unterwandert war, was zur Beendigung mancher Freundschaft führte. Die Geschichte dieser Lebensphase Helga Schuberts möchte man unbedingt lesen, sei sie versöhnlich oder im Zorn geschrieben, in jedem Fall mit den ihr eigenen Mitteln einer ästhetisch suggestiven Autobiographie.
DIRK VON PETERSDORFF
Helga Schubert:
"Vom Aufstehen". Ein Leben in Geschichten.
Dtv, München 2021. 224 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Als Helga Schubert den Bachmann-Preis gewann, kannten viele sie noch nicht oder hatten sie vergessen: Jetzt kann man sie besser kennenlernen
Als Helga Schubert im vergangenen Jahr für ihre Erzählung "Vom Aufstehen" den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war die Überraschung groß. Denn die 1940 geborene Autorin, die nach einer Flucht am Kriegsende in der DDR groß wurde und als Psychologin arbeitete, hat ein uneinheitliches Werk hervorgebracht, das aus Erzählungen, Kinderbüchern und Sachtexten besteht. Vielen war sie gar nicht bekannt, auch weil sie innerhalb der DDR-Literatur zu keiner Gruppierung gehörte. Weder verließ sie nach der Biermann-Ausbürgerung die DDR wie etwa ihre Weggefährtin Sarah Kirsch, noch war sie wie die befreundete Christa Wolf bereit, das System bei allen Mängeln zu idealisieren, weil es im Gegensatz zum Westen immerhin auf einer großen Idee beruhe. Mit dem Rücken zur Gesellschaft versuchte Helga Schubert ein ihr gemäßes Leben zu führen. "Ich habe die Regeln des Ostens begriffen und sie beachtet", so charakterisiert sie es, "aber zu Hause lebte ich im Westen, mit Ironie und Jazz und den Schlagern der Woche erholte ich mich vom Pathos draußen."
Jetzt kann man sie genauer kennenlernen, denn ein Band mit knapp dreißig neuen Erzählungen liegt vor. Manche davon sind sehr kurz und eher als Momentbeschreibungen oder Meditationen zu charakterisieren, andere umspannen den gesamten Lebenslauf. Am Eröffnungsstück "Mein idealer Ort" lässt sich Schuberts erzählerische Methode gut erfassen: "Mein idealer Ort ist eine Erinnerung: An das Aufwachen nach dem Mittagsschlaf in der Hängematte im Garten meiner Großmutter und ihres Freundes (mein alter Freund, sagte sie) in der Greifswalder Obstbausiedlung am ersten Tag der Sommerferien. Immer am ersten Tag der langen wunderbaren Sommerferien." Dann werden die Großmutter und ihr Freund beschrieben, einige Aktivitäten wie das Verkaufen von Äpfeln auf dem Markt geschildert, ein Rückblick auf den letzten Schultag eingeflochten, um wieder in der Hängematte zu enden, in der die Erzählerin einschläft. Beim Aufwachen gibt es Kuchen und Muckefuck. So ging es "bis zum Ende des Sommers. So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute." Das Erzählte beschwört eine Atmosphäre herauf, Bilder und Wiederholungen ziehen die Leser in die Situation hinein, die Wirkung ist eine psychische: Literatur bringt einen Wärmestrom hervor.
In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur steht Schubert mit einem solchen Konzept eher am Rand, aber das hat wenig zu sagen, denn die Vorstellung einer stabilisierenden oder reinigenden oder auch therapeutischen Wirkung von Literatur ist so alt wie die Literatur selbst. In den besten Momenten des Bandes beglaubigt Schubert sie eindrucksvoll: Siehe, es gelingt! Das gilt für die Titelerzählung "Vom Aufstehen", die auf einer einfachen und wirkungsvollen Konstruktion ruht. Die Erzählerin liegt am Morgen wach, hat noch etwas Zeit, bevor sie aufstehen muss, wird gleich zu ihrem Mann gehen, den sie pflegt, und das Frühstück zubereiten. Eingebettet in die innere Vorbereitung auf den Tag sind Schübe von Erinnerungen, die bis in die frühe Kindheit zurückreichen und immer wieder die Mutter erfassen. Zu ihr besteht ein Verhältnis, in dem Nähe, Ablehnung, Abhängigkeit und Verletzungen untrennbar gemischt sind. Der Vorgang des Erzählens dient in diesem Fall einer inneren Versöhnung mit der Mutter und einer Akzeptanz des eigenen holprigen und steinigen Lebenswegs.
In der Jurydiskussion in Klagenfurt hat Insa Wilke überzeugend auf die christlichen Wurzeln dieses autobiographischen Erzählens hingewiesen. Seit den "Confessiones" von Augustinus sind die Schilderung des Lebenswegs und die Suche nach einem höheren Sinn miteinander verbunden. Auch Helga Schubert schreibt Bekenntnisse, will ihre Handlungen und Entscheidungen rechtfertigen und sich als Teil eines großen Ganzen verstehen. Dazu passt auch die Bedeutung von Liedern, die genannt und zitiert werden. Auch wer nicht an das Gesungene glaubt, kann sich darin geborgen fühlen. Die Mutter konnte grausam sein, aber sie hat dem Kind auch vorgesungen.
Nicht viele Erzählungen erreichen dieses Niveau. Manche Texte stellen überlange und absatzreiche Protokolle dar ("Eine Wahlverwandtschaft"), andere sind thematisch weniger ergiebig (Fastenwochenenden mit Freundinnen), und ganz gelegentlich schlägt die Psychologie sprachlich ungut durch ("Denn das Märchen stärkt das Kind in mir"). Mitgenommen wird man als Leser immer dann, wenn Schubert erzählt, gestaltet, erfindet und eben nicht nur berichtet. Dann entsteht zum Beispiel eine gedankenreiche Miniatur mit dem Titel "Dämmerungen eines einzigen Tages", die auch lyrisch anspricht.
Wer autobiographisch und kunstvoll schreibt wie Schubert, setzt Schwerpunkte in der eigenen Lebensgeschichte, aber lässt manches aus. Eine dieser Auslassungen ist auffallend, denn Schubert schweigt ausgerechnet über die Künstlerkolonie Drispeth in ihrer mecklenburgischen Heimat, die sie in den siebziger Jahren mit Christa Wolf und anderen teilte (F.A.Z. vom 1. August 2020). Wolf hat darüber eine Erzählung mit dem Titel "Sommerstück" geschrieben. Auch in kulturgeschichtlicher Perspektive ist dieses Experiment des Rückzugs interessant. Später stellte sich heraus, dass die Künstlergruppe von der Stasi unterwandert war, was zur Beendigung mancher Freundschaft führte. Die Geschichte dieser Lebensphase Helga Schuberts möchte man unbedingt lesen, sei sie versöhnlich oder im Zorn geschrieben, in jedem Fall mit den ihr eigenen Mitteln einer ästhetisch suggestiven Autobiographie.
DIRK VON PETERSDORFF
Helga Schubert:
"Vom Aufstehen". Ein Leben in Geschichten.
Dtv, München 2021. 224 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Peter Henning liest Helga Schuberts Lebensroman in Erzählungen mit Spannung und Rührung. 2. Weltkrieg, Flucht und Vertreibung, deutsche Teilung, DDR-Alltag - all das fliegt an Henning vorüber, wenn Schubert sich an ihre Kindheit und Jugend erinnert, an ihre Arbeit als Schriftstellerin und Psychotherapeutin, an eigene Empfindungen und Erlebnisse. Und mittendrin das Porträt der Mutter. Wie die Autorin die schwierige Beziehung zur Mutter thematisiert und daraus eine "Chronik der Vergebung" macht, findet Henning bemerkenswert. Was fiktiv, was erlebt ist in diesem Buch, scheint ihm am Ende gar nicht so wichtig.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.03.2021Im Zwergenland
Voriges Jahr hat Helga Schubert den Bachmannpreis
bekommen. Jetzt ist ihr Buch da, ein Leben in 29 Geschichten.
Ein Besuch in ihrem Haus in Neu Meteln
VON RENATE MEINHOF
Es ist der Tag, an dem das schnelle Internet nach Neu Meteln kommt, in den Wiesenweg, das Haus links, neben dem alten, staksigen Heuwender. Noch ein Durchbruch also, im Schlafzimmer, und allerhand Dreck. Das schnelle Internet kommt in Gestalt zweier Männer ins Dorf, ein Bulgare, der Chef, ein Litauer dazu, und Helga Schubert jongliert die beiden fast zärtlich durch Garten und Haus und hätte ihnen natürlich Kaffee gebrüht, guten Bohnenkaffee, wie man es früher machte, im Osten, was auch damit zu tun hatte, dass Handwerker angefüttert werden wollten wie scheue, seltene Tiere, warmhalten musste man sie sich, damit sie nicht schludern, damit sie ja wiederkommen, den Hammer nicht einfach fallen lassen, so war es doch.
Aber nun ist das kleine Haus eben schon voller Menschen, ein stechend klarer Himmel steht über dem Dorf, den geschorenen Weiden rechts, Richtung Moor, auf dem Herd dampft Kürbissuppe, und die Tochter des Mannes ist aus Berlin gekommen, und die Hilfe ist da, wischt Mörtel weg, wo das schnelle Internet durch die Hauswand galoppiert ist, und an der Tür die Apothekerin mit der Medikamententüte, die Nerven blank wegen dieser versaubeutelten Coronaschnelltestpolitik eines Herrn Spahn.
Mittendrin Helga Schubert. Sie gleitet durchs Haus, durch den Vorgarten, lenkt und leitet, setzt hier eine Unterschrift, bezahlt da die Rechnung, gießt Kokosmilch in die Mittagssuppe, püriert sie, damit man nicht sieht, dass die Mohrrüben nicht geschabt sind, ein guter Tipp, nicht wahr? Sie lacht, beobachtet still, und redet, jeden Reiz sofort aufnehmend, webt Wort an Wort so atemlos dicht, dass es klug ist, alle Pläne fahren zu lassen, das Heft aus der Hand zu geben und ihr zu folgen, in ihre Struktur hinein, in ihr Webmuster.
Johannes Helm, Flakhelferjahrgang 1927, der Maler, ihr Mann, den sie pflegt, sitzt in Lederjacke im Rollstuhl am Tisch und lächelt, als seine Frau ihm sagt, all der Wirbel habe damit zu tun, dass heute das schnelle Internet kommt. „Ahaaa, ach sooo“, sagt er liebevoll und in fünfundvierzigjähriger Kenntnis der Wildfanghaftigkeit seiner Frau, und „hui“ sagt er dann, als könne er sich nicht vorstellen, dass noch mehr Beschleunigung verträglich wäre.
Die Schriftstellerin Helga Schubert lebt seit Monaten wie im Rausch, auch wenn das nicht ihr Wort ist. Radiosendungen, Interviews, Zeitungsbesuche. Ärger wegen ihrer kritischen Sätze zu Christa Wolf, zwei böse Briefe. Ehrlos sei sie, infam. Wolf habe Romane geschrieben, sie nur Erzählungen. De mortuis nihil nisi bene. Hochgebuddelte Vergangenheit, von der sie sich doch längst verabschiedet hatte.
Dann ein Unfall mit Glasscherben im Bein. Und seit dieser Woche ist ihr Buch im Verkauf, darin als letzte auch die Erzählung „Vom Aufstehen“, mit der sie im vergangenen Sommer den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat, mit 80 Jahren, ein Durchbruch im Galopp. Jetzt ist sie 81. Sie konnte teilnehmen am Wettbewerb, weil wegen der Seuche alles digital lief, weil sie im Garten saß, von dort lesen konnte, denn ihren Mann will sie nicht allein lassen. Also nicht Klagenfurt, das in ihrer frühen Karriere als Schriftstellerin in der DDR eine der vielen Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht provoziert hatte. Es ist der Garten, auf den wir schauen, im Hinterland der Ostsee, zwischen Schwerin und Wismar gelegen, ein Dorf, aus dem Acker gewachsen, inmitten der Landschaft der Seenaugen.
Christa Wolf und ihr Mann waren die Ersten in Neu Meteln, ganz nahe der moorigen Langen Kuhle lag ihr Hof. Wolf zog Sarah Kirsch hierher aufs Land, zu Besuch, und Helga Schubert mit ihrem Mann, die bald das alte Bauernhaus kauften, schräg gegenüber den Wolfs, mit Stroh gedeckt, ihr Rückzugsort. Wer den Sommer nacherleben will, den die Schriftstellerinnen hier 1976 zusammen verbrachten, muss Wolfs „Sommerstück“ (1989) und Kirschs „Allerlei-Rauh“ (1988) noch einmal lesen.
Helga Schubert spricht ohne Scheu über das Verhältnis zu Christa Wolf, dessen Beginn, der für sie „unglaublich ermutigend“ gewesen sei. „Helga, du bist so begabt“, habe Wolf damals zu ihr gesagt, „du hast das Zeug, in der deutschen Literatur das Erbe von Kleist und Büchner anzutreten.“ Wie sie sich gefreut habe, sagt Helga Schubert, „das hat mich geadelt.“ Zu einer Jüngerin habe Wolf sie machen wollen.
Aber sie sei zu kritisch geworden, habe nachgehakt, beim Korrekturlesen der Fahnen von „Kindheitsmuster“ zum Beispiel, die Christa Wolf ihr gegeben habe. Nein, Helga Schubert will das nicht alles in der Zeitung lesen, sie will nicht länger „über Christa Wolf definiert werden“. Spätestens seit 1983 hatten die beiden Frauen praktisch nichts mehr miteinander zu tun.
Sie schieden sich auch an der Haltung zur deutschen Einheit, zum kommunistischen Staat, der Diktatur, in der sie lebten und arbeiteten. Helga Schubert als Psychotherapeutin, die nicht aus Geldgründen veröffentlichen musste, und die früh im Visier der Staatssicherheit war, seit 1976 wurde sie als „feindlich negativ“ eingeschätzt, abgestempelt, wie man es nennen will.
Es war das Jahr der Ausbürgerung Wolf Biermanns, ein Brandmarkenjahr für viele Intellektuelle in der DDR. Bist du für oder gegen Biermann? Willst du gehen, ins kapitalistische System? Oder im Sozialismus bleiben, ihn besser machen?
Helga Schubert wollte unbedingt gehen, einen Ausreiseantrag stellen, denn für sie gab es nichts zu verbessern an diesem Staat, gar nichts. Sie sei dankbar für die deutsche Einheit, noch immer, ein Geschenk. Ihr Mann aber wollte nicht weg. „Er wollte nie“, sagt sie, „vernünftige Leute müssen hierbleiben“, das sei seine Überzeugung gewesen, und dass diese DDR keinen Bestand haben würde in der Geschichte. „Das hier endet mal“, habe er immer gesagt, „und ich hab’ gesagt: Das endet nie.“
Sie blieben. Helga Schuberts Buch ist auch das fast tröstliche Zeugnis einer Dagebliebenen, eine Genugtuung und Ermutigung für diejenigen, die in der DDR, dem „Zwergenland“, wie sie es nennt, ausgeharrt und versucht haben, aufrecht zu bleiben, sich nicht korrumpieren, sich nicht an- oder abwerben zu lassen. Die Nachteile dafür in Kauf nahmen, dass sie Haltung bewahrten, die harte Wege gehen mussten, ohne ein Ziel auch nur in Aussicht zu haben. Als Christin, die sie ist, bewegte sie sich sozusagen evangeliumsgemäß, nämlich klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben. Sie erzählt, wie die Stasi schnell von einem abließ, wenn man klar ankündigte, nicht zu konspirieren. Und sie ließ sich die „Sehnsucht nicht nehmen“, die „Schöpfung nicht nur in diesem engen Umkreis zu bewundern“, wie sie es in der Erzählung „So fallen die Schatten hinter dich“ beschreibt.
Dabei „durfte“ sie als Schriftstellerin immer wieder ins „nichtsozialistische Ausland“ reisen, was ein Privileg war, natürlich. Nicht jedoch, als sie 1980 zum ersten Mal nach Klagenfurt eingeladen wurde. Sie solle ihren Antrag, am Wettbewerb teilnehmen zu „dürfen“, zurückziehen, forderte man sie auf. Helga Schubert aber bestand darauf, dass ihr die Teilnahme offiziell verboten werde. Und dann hat sie an die Klagenfurter Veranstalter geschrieben, dass die Reise ihr verboten wurde, und warum. Herrlich und fesselnd, wenn Helga Schubert in ihrem Garten davon erzählt, und doch spürt man und erinnert sich, wie unendlich viele Geisteskräfte die Schlangenklugheit und Taubenarglosigkeit gekostet haben, das Bleiben im Zwergenland.
Jahrelang pendelte das Ehepaar zwischen Berlin und Neu Meteln. Aber vor dreizehn Jahren, nachdem Johannes Helm schwer krank geworden war, haben sie die Berliner Wohnung aufgegeben, pflegt sie hier ihren Mann, dessen Studentin sie einmal war. Er, der Professor, ein führender Psychotherapieforscher zu DDR-Zeiten. Er, um den es geht in ihrer preisgekrönten Erzählung, noch mehr aber um das dornige Verhältnis zu ihrer Mutter, um die Flucht 1945 aus dem Dorf Groß Tychow in Hinterpommern nach Greifswald, Vorpommern, wo die Mutter sich und ihr Sonntagskind Helga nicht vergiftete, nicht erschoss, wie der Großvater es gewollt hatte, kurz bevor die Rotarmisten in die Stadt kamen.
Einen weiten historischen Bogen schlägt Schuberts Buch – ihr Leben in 29 Geschichten, bis heute. Und wenn sie auch das Wort Rausch nicht benutzt, so spricht sie doch vom „Absturz“, den sie fürchte, wenn man sie fragt, wie es ihr geht, wie sie sich fühlt, jetzt, wo jeder ihr Buch kaufen kann, die Erzählungen, die sie selbst kaum wert geachtet hatte all die Jahre, weshalb sie erst alles zusammensuchen musste für den Verlag, gar nicht wusste, wo sie was abgelegt, wem sie was geschenkt hatte.
Und dann dieser Erfolg, der Preis.
„Mir ist das unheimlich“, sagt sie, „und das hängt auch mit meinem Glauben zusammen, dass ich mir sage: Bäume dürfen nicht in den Himmel wachsen. Ich denke dann, wann kommt mein Absturz, also dass die Leute sagen, nun ist es aber mal gut mit der Vergangenheit, aber ich kann nichts mehr machen, das Buch ist jetzt da, und die Leute sagen: Ach, das ist ja wie bei mir. Oder: Um Gottes willen, wie alt sind Sie? Werden Sie bloß nicht dement! Schreiben Sie weiter! “
Sie hat ja all die Jahre geschrieben, auch wenn öffentlich kaum etwas von Helga Schubert zu hören oder zu lesen war. Immer, wenn in der Gartengalerie am Haus Johannes Helms Bilder gewechselt wurden, hätten sie eingeladen. Fünfzig, sechzig Menschen kamen. Der Professor immer der Mittelpunkt, aber es war auch ihr Publikum. Die neuen oder älteren Arbeiten des Malers waren dann zu sehen, ausgewählte Lyrik zu hören, Musik dazu – und jedes Mal eine Erzählung, die Helga Schubert passend zum Thema des Abends geschrieben hatte. Meistens in der Nacht davor, sagt sie, neben den Programmen, der Pressemitteilung. Und, ja, wie wohl ihr das Echo der Gäste getan habe. Jetzt aber freue sie sich vor allem über die Reaktionen der Fachleute, die täten ihr gut, und wie. Dass die Mühe, die sie in Form und Struktur lege, seit Jahren doch, erkannt werde.
„Ach, Sie haben jetzt hier so einen Kuddelmuddel erlebt, so ein Patchwork“, sagt Helga Schubert beim Abschied. Das schnelle Internet. Die Apothekerin. Der Staubsauger. „Und ich hab’ Sie erfolgreich abgelenkt von allen ihren Fragen.“ Sie lächelt. „Ich weiß, dass ich anstrengend bin, ich weiß, dass ich begabt bin, dass ich fast keine Filter habe“, sagt sie. „Ich weiß, dass mich nur jemand aushält, der mich liebt.“
Schlussauftritt des Ehemannes. Er rollt langsam auf uns zu. „Und?“, fragt er, „haben Sie schon irgendwas ermittelt hier?“
Einen Bruchteil, ja.
Ihre kritischen Sätze über
Christa Wolf haben ihr
zwei böse Briefe eingebracht
Der Erfolg ist ihr unheimlich,
Bäume dürften nicht
in den Himmel wachsen
Wie hältst du es mit der DDR? Helga Schubert in den Siebzigerjahren: in Neu Meteln (oben), in der Berliner Wohnung mit ihrem Mann (unten links),
mit Carola Nicolaou, Sarah Kirsch und Christa Wolf (unten rechts, v. l. n. r.). Fotos: Helga Paris
Helga Schubert: Vom Aufstehen. Erzählungen. Dtv Verlag,
München 2021.
224 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Voriges Jahr hat Helga Schubert den Bachmannpreis
bekommen. Jetzt ist ihr Buch da, ein Leben in 29 Geschichten.
Ein Besuch in ihrem Haus in Neu Meteln
VON RENATE MEINHOF
Es ist der Tag, an dem das schnelle Internet nach Neu Meteln kommt, in den Wiesenweg, das Haus links, neben dem alten, staksigen Heuwender. Noch ein Durchbruch also, im Schlafzimmer, und allerhand Dreck. Das schnelle Internet kommt in Gestalt zweier Männer ins Dorf, ein Bulgare, der Chef, ein Litauer dazu, und Helga Schubert jongliert die beiden fast zärtlich durch Garten und Haus und hätte ihnen natürlich Kaffee gebrüht, guten Bohnenkaffee, wie man es früher machte, im Osten, was auch damit zu tun hatte, dass Handwerker angefüttert werden wollten wie scheue, seltene Tiere, warmhalten musste man sie sich, damit sie nicht schludern, damit sie ja wiederkommen, den Hammer nicht einfach fallen lassen, so war es doch.
Aber nun ist das kleine Haus eben schon voller Menschen, ein stechend klarer Himmel steht über dem Dorf, den geschorenen Weiden rechts, Richtung Moor, auf dem Herd dampft Kürbissuppe, und die Tochter des Mannes ist aus Berlin gekommen, und die Hilfe ist da, wischt Mörtel weg, wo das schnelle Internet durch die Hauswand galoppiert ist, und an der Tür die Apothekerin mit der Medikamententüte, die Nerven blank wegen dieser versaubeutelten Coronaschnelltestpolitik eines Herrn Spahn.
Mittendrin Helga Schubert. Sie gleitet durchs Haus, durch den Vorgarten, lenkt und leitet, setzt hier eine Unterschrift, bezahlt da die Rechnung, gießt Kokosmilch in die Mittagssuppe, püriert sie, damit man nicht sieht, dass die Mohrrüben nicht geschabt sind, ein guter Tipp, nicht wahr? Sie lacht, beobachtet still, und redet, jeden Reiz sofort aufnehmend, webt Wort an Wort so atemlos dicht, dass es klug ist, alle Pläne fahren zu lassen, das Heft aus der Hand zu geben und ihr zu folgen, in ihre Struktur hinein, in ihr Webmuster.
Johannes Helm, Flakhelferjahrgang 1927, der Maler, ihr Mann, den sie pflegt, sitzt in Lederjacke im Rollstuhl am Tisch und lächelt, als seine Frau ihm sagt, all der Wirbel habe damit zu tun, dass heute das schnelle Internet kommt. „Ahaaa, ach sooo“, sagt er liebevoll und in fünfundvierzigjähriger Kenntnis der Wildfanghaftigkeit seiner Frau, und „hui“ sagt er dann, als könne er sich nicht vorstellen, dass noch mehr Beschleunigung verträglich wäre.
Die Schriftstellerin Helga Schubert lebt seit Monaten wie im Rausch, auch wenn das nicht ihr Wort ist. Radiosendungen, Interviews, Zeitungsbesuche. Ärger wegen ihrer kritischen Sätze zu Christa Wolf, zwei böse Briefe. Ehrlos sei sie, infam. Wolf habe Romane geschrieben, sie nur Erzählungen. De mortuis nihil nisi bene. Hochgebuddelte Vergangenheit, von der sie sich doch längst verabschiedet hatte.
Dann ein Unfall mit Glasscherben im Bein. Und seit dieser Woche ist ihr Buch im Verkauf, darin als letzte auch die Erzählung „Vom Aufstehen“, mit der sie im vergangenen Sommer den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat, mit 80 Jahren, ein Durchbruch im Galopp. Jetzt ist sie 81. Sie konnte teilnehmen am Wettbewerb, weil wegen der Seuche alles digital lief, weil sie im Garten saß, von dort lesen konnte, denn ihren Mann will sie nicht allein lassen. Also nicht Klagenfurt, das in ihrer frühen Karriere als Schriftstellerin in der DDR eine der vielen Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht provoziert hatte. Es ist der Garten, auf den wir schauen, im Hinterland der Ostsee, zwischen Schwerin und Wismar gelegen, ein Dorf, aus dem Acker gewachsen, inmitten der Landschaft der Seenaugen.
Christa Wolf und ihr Mann waren die Ersten in Neu Meteln, ganz nahe der moorigen Langen Kuhle lag ihr Hof. Wolf zog Sarah Kirsch hierher aufs Land, zu Besuch, und Helga Schubert mit ihrem Mann, die bald das alte Bauernhaus kauften, schräg gegenüber den Wolfs, mit Stroh gedeckt, ihr Rückzugsort. Wer den Sommer nacherleben will, den die Schriftstellerinnen hier 1976 zusammen verbrachten, muss Wolfs „Sommerstück“ (1989) und Kirschs „Allerlei-Rauh“ (1988) noch einmal lesen.
Helga Schubert spricht ohne Scheu über das Verhältnis zu Christa Wolf, dessen Beginn, der für sie „unglaublich ermutigend“ gewesen sei. „Helga, du bist so begabt“, habe Wolf damals zu ihr gesagt, „du hast das Zeug, in der deutschen Literatur das Erbe von Kleist und Büchner anzutreten.“ Wie sie sich gefreut habe, sagt Helga Schubert, „das hat mich geadelt.“ Zu einer Jüngerin habe Wolf sie machen wollen.
Aber sie sei zu kritisch geworden, habe nachgehakt, beim Korrekturlesen der Fahnen von „Kindheitsmuster“ zum Beispiel, die Christa Wolf ihr gegeben habe. Nein, Helga Schubert will das nicht alles in der Zeitung lesen, sie will nicht länger „über Christa Wolf definiert werden“. Spätestens seit 1983 hatten die beiden Frauen praktisch nichts mehr miteinander zu tun.
Sie schieden sich auch an der Haltung zur deutschen Einheit, zum kommunistischen Staat, der Diktatur, in der sie lebten und arbeiteten. Helga Schubert als Psychotherapeutin, die nicht aus Geldgründen veröffentlichen musste, und die früh im Visier der Staatssicherheit war, seit 1976 wurde sie als „feindlich negativ“ eingeschätzt, abgestempelt, wie man es nennen will.
Es war das Jahr der Ausbürgerung Wolf Biermanns, ein Brandmarkenjahr für viele Intellektuelle in der DDR. Bist du für oder gegen Biermann? Willst du gehen, ins kapitalistische System? Oder im Sozialismus bleiben, ihn besser machen?
Helga Schubert wollte unbedingt gehen, einen Ausreiseantrag stellen, denn für sie gab es nichts zu verbessern an diesem Staat, gar nichts. Sie sei dankbar für die deutsche Einheit, noch immer, ein Geschenk. Ihr Mann aber wollte nicht weg. „Er wollte nie“, sagt sie, „vernünftige Leute müssen hierbleiben“, das sei seine Überzeugung gewesen, und dass diese DDR keinen Bestand haben würde in der Geschichte. „Das hier endet mal“, habe er immer gesagt, „und ich hab’ gesagt: Das endet nie.“
Sie blieben. Helga Schuberts Buch ist auch das fast tröstliche Zeugnis einer Dagebliebenen, eine Genugtuung und Ermutigung für diejenigen, die in der DDR, dem „Zwergenland“, wie sie es nennt, ausgeharrt und versucht haben, aufrecht zu bleiben, sich nicht korrumpieren, sich nicht an- oder abwerben zu lassen. Die Nachteile dafür in Kauf nahmen, dass sie Haltung bewahrten, die harte Wege gehen mussten, ohne ein Ziel auch nur in Aussicht zu haben. Als Christin, die sie ist, bewegte sie sich sozusagen evangeliumsgemäß, nämlich klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben. Sie erzählt, wie die Stasi schnell von einem abließ, wenn man klar ankündigte, nicht zu konspirieren. Und sie ließ sich die „Sehnsucht nicht nehmen“, die „Schöpfung nicht nur in diesem engen Umkreis zu bewundern“, wie sie es in der Erzählung „So fallen die Schatten hinter dich“ beschreibt.
Dabei „durfte“ sie als Schriftstellerin immer wieder ins „nichtsozialistische Ausland“ reisen, was ein Privileg war, natürlich. Nicht jedoch, als sie 1980 zum ersten Mal nach Klagenfurt eingeladen wurde. Sie solle ihren Antrag, am Wettbewerb teilnehmen zu „dürfen“, zurückziehen, forderte man sie auf. Helga Schubert aber bestand darauf, dass ihr die Teilnahme offiziell verboten werde. Und dann hat sie an die Klagenfurter Veranstalter geschrieben, dass die Reise ihr verboten wurde, und warum. Herrlich und fesselnd, wenn Helga Schubert in ihrem Garten davon erzählt, und doch spürt man und erinnert sich, wie unendlich viele Geisteskräfte die Schlangenklugheit und Taubenarglosigkeit gekostet haben, das Bleiben im Zwergenland.
Jahrelang pendelte das Ehepaar zwischen Berlin und Neu Meteln. Aber vor dreizehn Jahren, nachdem Johannes Helm schwer krank geworden war, haben sie die Berliner Wohnung aufgegeben, pflegt sie hier ihren Mann, dessen Studentin sie einmal war. Er, der Professor, ein führender Psychotherapieforscher zu DDR-Zeiten. Er, um den es geht in ihrer preisgekrönten Erzählung, noch mehr aber um das dornige Verhältnis zu ihrer Mutter, um die Flucht 1945 aus dem Dorf Groß Tychow in Hinterpommern nach Greifswald, Vorpommern, wo die Mutter sich und ihr Sonntagskind Helga nicht vergiftete, nicht erschoss, wie der Großvater es gewollt hatte, kurz bevor die Rotarmisten in die Stadt kamen.
Einen weiten historischen Bogen schlägt Schuberts Buch – ihr Leben in 29 Geschichten, bis heute. Und wenn sie auch das Wort Rausch nicht benutzt, so spricht sie doch vom „Absturz“, den sie fürchte, wenn man sie fragt, wie es ihr geht, wie sie sich fühlt, jetzt, wo jeder ihr Buch kaufen kann, die Erzählungen, die sie selbst kaum wert geachtet hatte all die Jahre, weshalb sie erst alles zusammensuchen musste für den Verlag, gar nicht wusste, wo sie was abgelegt, wem sie was geschenkt hatte.
Und dann dieser Erfolg, der Preis.
„Mir ist das unheimlich“, sagt sie, „und das hängt auch mit meinem Glauben zusammen, dass ich mir sage: Bäume dürfen nicht in den Himmel wachsen. Ich denke dann, wann kommt mein Absturz, also dass die Leute sagen, nun ist es aber mal gut mit der Vergangenheit, aber ich kann nichts mehr machen, das Buch ist jetzt da, und die Leute sagen: Ach, das ist ja wie bei mir. Oder: Um Gottes willen, wie alt sind Sie? Werden Sie bloß nicht dement! Schreiben Sie weiter! “
Sie hat ja all die Jahre geschrieben, auch wenn öffentlich kaum etwas von Helga Schubert zu hören oder zu lesen war. Immer, wenn in der Gartengalerie am Haus Johannes Helms Bilder gewechselt wurden, hätten sie eingeladen. Fünfzig, sechzig Menschen kamen. Der Professor immer der Mittelpunkt, aber es war auch ihr Publikum. Die neuen oder älteren Arbeiten des Malers waren dann zu sehen, ausgewählte Lyrik zu hören, Musik dazu – und jedes Mal eine Erzählung, die Helga Schubert passend zum Thema des Abends geschrieben hatte. Meistens in der Nacht davor, sagt sie, neben den Programmen, der Pressemitteilung. Und, ja, wie wohl ihr das Echo der Gäste getan habe. Jetzt aber freue sie sich vor allem über die Reaktionen der Fachleute, die täten ihr gut, und wie. Dass die Mühe, die sie in Form und Struktur lege, seit Jahren doch, erkannt werde.
„Ach, Sie haben jetzt hier so einen Kuddelmuddel erlebt, so ein Patchwork“, sagt Helga Schubert beim Abschied. Das schnelle Internet. Die Apothekerin. Der Staubsauger. „Und ich hab’ Sie erfolgreich abgelenkt von allen ihren Fragen.“ Sie lächelt. „Ich weiß, dass ich anstrengend bin, ich weiß, dass ich begabt bin, dass ich fast keine Filter habe“, sagt sie. „Ich weiß, dass mich nur jemand aushält, der mich liebt.“
Schlussauftritt des Ehemannes. Er rollt langsam auf uns zu. „Und?“, fragt er, „haben Sie schon irgendwas ermittelt hier?“
Einen Bruchteil, ja.
Ihre kritischen Sätze über
Christa Wolf haben ihr
zwei böse Briefe eingebracht
Der Erfolg ist ihr unheimlich,
Bäume dürften nicht
in den Himmel wachsen
Wie hältst du es mit der DDR? Helga Schubert in den Siebzigerjahren: in Neu Meteln (oben), in der Berliner Wohnung mit ihrem Mann (unten links),
mit Carola Nicolaou, Sarah Kirsch und Christa Wolf (unten rechts, v. l. n. r.). Fotos: Helga Paris
Helga Schubert: Vom Aufstehen. Erzählungen. Dtv Verlag,
München 2021.
224 Seiten, 22 Euro.
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