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Vom Erbe unserer Mütter und dem Wagnis eines freien Lebens
Berlin in den Zwanzigerjahren: Senta hat sich von der einfachen Schreibkraft zur Journalistin hochgearbeitet und ist mit einem jüdischen Kollegen verheiratet. Doch für ihr selbstbestimmtes Leben in Berlin musste sie Jahre zuvor eine folgenschwere Entscheidung treffen: ihr Kind zurücklassen. Und mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten gerät Sentas neue Familie in Gefahr. Fast ein Jahrhundert später bekommt Hannah Borowski einen Brief, der sie als mögliche Erbin eines geraubten und verschollenen Kunstvermögens ausweist. Wo sind die…mehr

Produktbeschreibung
Vom Erbe unserer Mütter und dem Wagnis eines freien Lebens

Berlin in den Zwanzigerjahren: Senta hat sich von der einfachen Schreibkraft zur Journalistin hochgearbeitet und ist mit einem jüdischen Kollegen verheiratet. Doch für ihr selbstbestimmtes Leben in Berlin musste sie Jahre zuvor eine folgenschwere Entscheidung treffen: ihr Kind zurücklassen. Und mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten gerät Sentas neue Familie in Gefahr. Fast ein Jahrhundert später bekommt Hannah Borowski einen Brief, der sie als mögliche Erbin eines geraubten und verschollenen Kunstvermögens ausweist. Wo sind die Bilder jetzt? Warum weiß Hannah nichts von den jüdischen Vorfahren? Und warum weigert sich ihre Großmutter Evelyn so beharrlich, über die Vergangenheit und besonders über ihre Mutter Senta zu sprechen?
Autorenporträt
Helga Schubert,geboren 1940 in Berlin, war Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte ¿Vom Aufstehen¿ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Der gleichnamige Erzählband erschien 2021 bei dtv und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
Rezensionen
Und das schönste Buch des letzten Jahres war der späte Triumph der wunderbaren und viele Jahre unbemerkten Helga Schubert: 'Vom Aufstehen'. Volker Weidermann Die Zeit 20220609

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2021

Zum Frühstück Kuchen mit Muckefuck
Als Helga Schubert den Bachmann-Preis gewann, kannten viele sie noch nicht oder hatten sie vergessen: Jetzt kann man sie besser kennenlernen

Als Helga Schubert im vergangenen Jahr für ihre Erzählung "Vom Aufstehen" den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war die Überraschung groß. Denn die 1940 geborene Autorin, die nach einer Flucht am Kriegsende in der DDR groß wurde und als Psychologin arbeitete, hat ein uneinheitliches Werk hervorgebracht, das aus Erzählungen, Kinderbüchern und Sachtexten besteht. Vielen war sie gar nicht bekannt, auch weil sie innerhalb der DDR-Literatur zu keiner Gruppierung gehörte. Weder verließ sie nach der Biermann-Ausbürgerung die DDR wie etwa ihre Weggefährtin Sarah Kirsch, noch war sie wie die befreundete Christa Wolf bereit, das System bei allen Mängeln zu idealisieren, weil es im Gegensatz zum Westen immerhin auf einer großen Idee beruhe. Mit dem Rücken zur Gesellschaft versuchte Helga Schubert ein ihr gemäßes Leben zu führen. "Ich habe die Regeln des Ostens begriffen und sie beachtet", so charakterisiert sie es, "aber zu Hause lebte ich im Westen, mit Ironie und Jazz und den Schlagern der Woche erholte ich mich vom Pathos draußen."

Jetzt kann man sie genauer kennenlernen, denn ein Band mit knapp dreißig neuen Erzählungen liegt vor. Manche davon sind sehr kurz und eher als Momentbeschreibungen oder Meditationen zu charakterisieren, andere umspannen den gesamten Lebenslauf. Am Eröffnungsstück "Mein idealer Ort" lässt sich Schuberts erzählerische Methode gut erfassen: "Mein idealer Ort ist eine Erinnerung: An das Aufwachen nach dem Mittagsschlaf in der Hängematte im Garten meiner Großmutter und ihres Freundes (mein alter Freund, sagte sie) in der Greifswalder Obstbausiedlung am ersten Tag der Sommerferien. Immer am ersten Tag der langen wunderbaren Sommerferien." Dann werden die Großmutter und ihr Freund beschrieben, einige Aktivitäten wie das Verkaufen von Äpfeln auf dem Markt geschildert, ein Rückblick auf den letzten Schultag eingeflochten, um wieder in der Hängematte zu enden, in der die Erzählerin einschläft. Beim Aufwachen gibt es Kuchen und Muckefuck. So ging es "bis zum Ende des Sommers. So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute." Das Erzählte beschwört eine Atmosphäre herauf, Bilder und Wiederholungen ziehen die Leser in die Situation hinein, die Wirkung ist eine psychische: Literatur bringt einen Wärmestrom hervor.

In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur steht Schubert mit einem solchen Konzept eher am Rand, aber das hat wenig zu sagen, denn die Vorstellung einer stabilisierenden oder reinigenden oder auch therapeutischen Wirkung von Literatur ist so alt wie die Literatur selbst. In den besten Momenten des Bandes beglaubigt Schubert sie eindrucksvoll: Siehe, es gelingt! Das gilt für die Titelerzählung "Vom Aufstehen", die auf einer einfachen und wirkungsvollen Konstruktion ruht. Die Erzählerin liegt am Morgen wach, hat noch etwas Zeit, bevor sie aufstehen muss, wird gleich zu ihrem Mann gehen, den sie pflegt, und das Frühstück zubereiten. Eingebettet in die innere Vorbereitung auf den Tag sind Schübe von Erinnerungen, die bis in die frühe Kindheit zurückreichen und immer wieder die Mutter erfassen. Zu ihr besteht ein Verhältnis, in dem Nähe, Ablehnung, Abhängigkeit und Verletzungen untrennbar gemischt sind. Der Vorgang des Erzählens dient in diesem Fall einer inneren Versöhnung mit der Mutter und einer Akzeptanz des eigenen holprigen und steinigen Lebenswegs.

In der Jurydiskussion in Klagenfurt hat Insa Wilke überzeugend auf die christlichen Wurzeln dieses autobiographischen Erzählens hingewiesen. Seit den "Confessiones" von Augustinus sind die Schilderung des Lebenswegs und die Suche nach einem höheren Sinn miteinander verbunden. Auch Helga Schubert schreibt Bekenntnisse, will ihre Handlungen und Entscheidungen rechtfertigen und sich als Teil eines großen Ganzen verstehen. Dazu passt auch die Bedeutung von Liedern, die genannt und zitiert werden. Auch wer nicht an das Gesungene glaubt, kann sich darin geborgen fühlen. Die Mutter konnte grausam sein, aber sie hat dem Kind auch vorgesungen.

Nicht viele Erzählungen erreichen dieses Niveau. Manche Texte stellen überlange und absatzreiche Protokolle dar ("Eine Wahlverwandtschaft"), andere sind thematisch weniger ergiebig (Fastenwochenenden mit Freundinnen), und ganz gelegentlich schlägt die Psychologie sprachlich ungut durch ("Denn das Märchen stärkt das Kind in mir"). Mitgenommen wird man als Leser immer dann, wenn Schubert erzählt, gestaltet, erfindet und eben nicht nur berichtet. Dann entsteht zum Beispiel eine gedankenreiche Miniatur mit dem Titel "Dämmerungen eines einzigen Tages", die auch lyrisch anspricht.

Wer autobiographisch und kunstvoll schreibt wie Schubert, setzt Schwerpunkte in der eigenen Lebensgeschichte, aber lässt manches aus. Eine dieser Auslassungen ist auffallend, denn Schubert schweigt ausgerechnet über die Künstlerkolonie Drispeth in ihrer mecklenburgischen Heimat, die sie in den siebziger Jahren mit Christa Wolf und anderen teilte (F.A.Z. vom 1. August 2020). Wolf hat darüber eine Erzählung mit dem Titel "Sommerstück" geschrieben. Auch in kulturgeschichtlicher Perspektive ist dieses Experiment des Rückzugs interessant. Später stellte sich heraus, dass die Künstlergruppe von der Stasi unterwandert war, was zur Beendigung mancher Freundschaft führte. Die Geschichte dieser Lebensphase Helga Schuberts möchte man unbedingt lesen, sei sie versöhnlich oder im Zorn geschrieben, in jedem Fall mit den ihr eigenen Mitteln einer ästhetisch suggestiven Autobiographie.

DIRK VON PETERSDORFF

Helga Schubert:

"Vom Aufstehen". Ein Leben in Geschichten.

Dtv, München 2021. 224 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension

Rezensent Peter Henning liest Helga Schuberts Lebensroman in Erzählungen mit Spannung und Rührung. 2. Weltkrieg, Flucht und Vertreibung, deutsche Teilung, DDR-Alltag - all das fliegt an Henning vorüber, wenn Schubert sich an ihre Kindheit und Jugend erinnert, an ihre Arbeit als Schriftstellerin und Psychotherapeutin, an eigene Empfindungen und Erlebnisse. Und mittendrin das Porträt der Mutter. Wie die Autorin die schwierige Beziehung zur Mutter thematisiert und daraus eine "Chronik der Vergebung" macht, findet Henning bemerkenswert. Was fiktiv, was erlebt ist in diesem Buch, scheint ihm am Ende gar nicht so wichtig.

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