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Weltweit sind die Populisten auf dem Vormarsch - Michael J. Sandel erklärt, warum
Gerade in Zeiten des Corona-Virus wird erschreckend deutlich, dass das Gemeinwohl in unseren Gesellschaften in den letzten Jahren an Bedeutsamkeit verloren hat. Die Demokratien stehen auf dem Prüfstand, wir sind Zeugen einer populistischen Revolte. Die Wahl Trumps, der Brexit, der Erfolg der AfD - das sind die wütenden Antworten auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft. Der Moralphilosoph Michael J. Sandel sieht die Ursache dafür in der Tyrannei der Leistungsgesellschaft.
Wer hat in unserer
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Produktbeschreibung
Weltweit sind die Populisten auf dem Vormarsch - Michael J. Sandel erklärt, warum

Gerade in Zeiten des Corona-Virus wird erschreckend deutlich, dass das Gemeinwohl in unseren Gesellschaften in den letzten Jahren an Bedeutsamkeit verloren hat. Die Demokratien stehen auf dem Prüfstand, wir sind Zeugen einer populistischen Revolte. Die Wahl Trumps, der Brexit, der Erfolg der AfD - das sind die wütenden Antworten auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft. Der Moralphilosoph Michael J. Sandel sieht die Ursache dafür in der Tyrannei der Leistungsgesellschaft.

Wer hat in unserer Gesellschaft Erfolg - und warum? Unter dem gesellschaftlich unumstrittenen Mantra »Wer hart arbeitet, kann alles erreichen« haben wir gelernt zu glauben, dass jeder genau das hat, was er verdient. Die Profiteure und Nutznießer dieses Systems, das Erfolg auf Leistung und Talent zurückführt, gehen darum davon aus, dass sie ihren Erfolg verdienen, dass er ihnen zusteht, eben weil sie sichangestrengt haben. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass diejenigen, die am System scheitern, selbst Schuld sind.

Die Hybris der Gewinner ebenso wie die Demütigung der Verlierer befeuern den populistischen Protest, dessen Zeugen wir aktuell weltweit sind. Im Kern zielt der Unmut gegenüber den Eliten auf eine Kritik an der Tyrannei der Leistungsgesellschaft, und diese Kritik ist berechtigt. Seit Jahrzehnten nimmt die Ungleichheit in den demokratischen Gesellschaften zu, Verlierer und Gewinner des Systems entfernen sich sowohl auf sozialer als auch auf finanzieller Ebene immer weiter voneinander.

Statt an einer trennenden Ethik des Erfolgs festzuhalten, müssen wir an einer Politik des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit arbeiten, die allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommt.

»Michael Sandel: Der Meister für die großen Fragen des Lebens« Andrew Anthony, »The Guardian«

»Wir sollten die Würde der Arbeit erneuern und sie in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Wir sollten uns daran erinnern, dass es bei der Arbeit nicht nur darum geht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern dass es auch darum geht, zum Gemeinwohl beizutragen und dafür Anerkennung zu bekommen.« Michael J. Sandel im TED-Talk zu »Vom Ende des Gemeinwohls«
Autorenporträt
Michael J. Sandel, geboren 1953, ist politischer Philosoph. Er studierte in Oxford und lehrt seit 1980 in Harvard. Seine Vorlesungsreihe über Gerechtigkeit begeisterte online Millionen von Zuschauern und machte ihn zum weltweit populärsten Moralphilosophen. 'Was man für Geld nicht kaufen kann' wurde zum internationalen Bestseller. Seine Bücher beschäftigen sich mit Ethik, Gerechtigkeit, Demokratie und Kapitalismus und wurden in 27 Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020

Unterschiede muss man aushalten

Auch ein Versuch, den politischen Erfolg des Populismus zu erklären: Michael Sandel übt harte Kritik an der Leistungsgesellschaft.

Von Günther Nonnenmacher

Donald Trumps Präsidentschaft ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Kommunitaristen unter gutem Regieren verstehen: Statt nach dem Gemeinwohl zu streben, kümmert sich Trump nur um seinen persönlichen Vorteil; das gemeinschaftliche Zusammenwirken, das große "Wir", das den Kommunitaristen als republikanisches Ideal vorschwebt, hat neben dem überdimensionierten Ego dieses Präsidenten keinen Raum.

Das Buch des in Harvard lehrenden Philosophen Michael Sandel, der einer der Begründer des Kommunitarismus ist und durch seine neosokratische Lehrmethode sowie seine audiovisuell verbreiteten Vorlesungen über Fachkreise hinaus bekannt wurde, ist ein Versuch, die politische Karriere des Populismus, damit auch den Wahlerfolg Trumps, zu erklären. Dabei kommt, das ist nicht neu, die Globalisierung in den Blick: Trumps Aufstieg, der Erfolg anderer Populisten und der Ausgang des Brexit-Referendums in Großbritannien seien "ein wütendes Urteil gegen Jahrzehnte wachsender Ungleichheit".

Da tauchen dann, wie in vielen anderen Büchern, die minderqualifizierten "Abgehängten" als Globalisierungsverlierer und die "kosmopolitischen Eliten" als Gewinner auf. Tatsächlich ist das Durchschnittsgehalt der amerikanischen Arbeiter seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht mehr gestiegen (in den europäischen Wohlfahrtsstaaten sieht es etwas anders aus, was Sandel vermerkt), während die Einkommen und Vermögen der Wohlhabenden, vor allem der ganz Reichen, geradezu explodiert sind.

Doch nicht nur oder vor allem die Ökonomie ist das Problem. Der beste Indikator für die Unterstützung von Trump ist, wie Sandel mit Zahlen belegt, nicht das Einkommen, sondern das Bildungsniveau. Das zeigt, und auch das ist keine neue Erkenntnis, dass Populismus auch von einem moralphilosophisch zu formulierenden Problem genährt wird: von schwindender Wertschätzung für die einfachen Leute. Den Grund dafür sieht Sandel im gesellschaftlich dominanten Leistungsprinzip, das bei den Globalisierungsgewinnern Überheblichkeit fördert, für die unteren Schichten aber demütigend ist. Der "Kern des populistischen Aufstands gegen die Eliten" sei die "Tyrannei der Leistung" - so lautet auch der englische Titel von Sandels Buch, der dessen Stoßrichtung besser beschreibt als der deutsche.

Bildung ist nicht das Allheilmittel gegen Ungleichheit.

Hier wandelt Sandel zunächst auf dem etwas ausgetretenen Pfad von Max Webers "Protestantismus-Kapitalismus"-These. Während Weber hauptsächlich auf die "innerweltliche Askese" des calvinistischen Protestantismus abhebt, verfolgt Sandel die Wege, auf denen sich diese Motivation zu einem "Vorsehungsglauben ohne Gott" verwandelt, damit zu einer positiven moralischen Aufladung materiellen Erfolgs geführt habe und Misserfolg als eine Art moralisches Versagen erscheinen lasse. Im Gegensatz zu älteren Gesellschaftsformationen, in denen es für Unterschichten die psychologische Entlastung gab, ihr Elend auf Repression durch adlige Oberschichten zurückzuführen oder dem Funktionsmechanismen der kapitalistischen Klassengesellschaft zuzuschreiben, habe nun "zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte das unterwertige Individuum keine Möglichkeit, für seine Verhältnisse jemand anders verantwortlich zu machen".

Für Amerika hat das eine besondere Pointe, weil dort die Antwort auf Ungleichheit das Versprechen der sozialen Mobilität war, der sprichwörtliche amerikanische Traum des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär. Dass dieser Aufstieg auch andere Voraussetzungen hatte als harte Arbeit und Gesetzestreue, hat vor hundert Jahren Frederick J. Turner in seinem berühmten Aufsatz über "Die Grenze (,the frontier') in der amerikanischen Geschichte" illustriert: Im vermeintlich "freien Land", das im Westen zur Verfügung stand, konnten die Pioniere die nahezu unbegrenzten natürlichen Ressourcen ausbeuten.

Auch ein anderer Weg zum sozialen Aufstieg hält nicht mehr die Versprechen, die sich mit ihm verbinden: Bildung. Das ist eines der Hauptthemen des Buches. Ausführlich zitiert Sandel Statistiken, die beweisen, wie selektiv das amerikanische Hochschulsystem ist. Es ist nicht (mehr) Motor des sozialen Aufstiegs, sondern eine Institution zur Selbstreproduktion der Eliten. "Die höhere Bildung Amerikas ähnelt dem Aufzug in einem Gebäude, das die meisten über das oberste Stockwerk betreten." Die Folge ist, dass die Leistung jener Bürger, die kein akademisches Diplom haben, entwertet wird, was "zersetzend auf das gesellschaftliche Leben" wirkt.

Sandel hält generell nichts von der These, Bildung sei das Allheilmittel gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit und stärke damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn diejenigen, die an der Zulassung zur Hochschule oder in der Universität scheitern, werden dies als Niederlage und Demütigung ansehen. Und diejenigen, die "auf dem Schlachtfeld der Leistungsgesellschaft" siegen, tragen dabei so viele psychische Verletzungen davon, dass auch sie in gewisser Weise als Opfer gelten können.

Bürger müssen sich an öffentlichen Orten treffen und austauschen.

Sandel ist der Meinung, dass aus moralphilosophischer Sicht die Ungleichheit, die sich im "meritokratischen Wettbewerb" ergibt, auch dann nicht zu rechtfertigen ist, wenn sie auf besonderen Gaben und Talenten beruht. Das entwickelt er in der Auseinandersetzung mit der Argumentation zweier Antipoden, nämlich der Freiheitstheorie des liberalen Ökonomen Friedrich August von Hayek und der Gerechtigkeitstheorie des Rechtsphilosophen John Rawls, die man nach europäischen Maßstäben als sozialdemokratisch bezeichnen könnte.

Das führt Sandel zu dem Schluss, dass die "Tyrannei der Leistungsgesellschaft" aufgehoben oder zumindest abgeschwächt werden müsse. Seine Rezepte dafür sind nicht sonderlich originell. Es gelte, die "Vernachlässigung technischer und beruflicher Ausbildung zu überwinden und die - Bezahlung wie Ausbildung betreffende - schroffe Unterscheidung zwischen Hochschulen und anderen Modellen der postsekundären Bildung" aufzubrechen. Ökonomisch gesehen, solle die Steuerlast von der Arbeit (Einkommen- und Lohnsteuer) auf Konsum und Spekulation verlagert werden. Das ist ein Plädoyer für eine höhere Besteuerung von Vermögen und Finanztransaktionen.

Zwar hält Sandel Chancengleichheit für ein moralisch notwendiges "Korrektiv gegen Ungerechtigkeit", doch er wendet sich auch gegen "eine sterile, bedrückende Gleichheit der Ergebnisse". Allerdings sind seine Vorschläge manchmal widersprüchlich: Für den Hochschulzugang schlägt er etwa ein relativ kompliziertes Losverfahren vor, dessen Voraussetzung gleichwohl wäre, dass diejenigen Bewerber, die für ein Studium nicht geeignet sind (ein Viertel bis die Hälfte), vorher ausgesiebt würden - damit entsteht aber wieder eine Demütigung für die Abgelehnten, was schwer mit Sandels Grundthese vereinbar ist.

Sandel überspringt viele Probleme, die bei einer Abschaffung des "meritokratischen Prinzips" entstünden; sein eigentliches Ziel liegt jenseits der Ökonomie. Es geht ihm um das Gemeinwohl, um eine "gute Gesellschaft", für die es, aristotelisch gesprochen, tugendhafte Bürger in einer wohlgeordneten Republik braucht. Das Gemeinwohl ist für Sandel nur zu erreichen, "wenn wir zusammen . . . über die Zwecke und Ziele nachdenken, die unserer politischen Gemeinschaft würdig sind . . . Dazu ist keine vollkommene Gleichheit notwendig. Erforderlich ist allerdings, dass Bürger aus unterschiedlichen Lebensbereichen in gemeinsamen Räumen und an öffentlichen Orten zusammentreffen. Denn so lernen wir zu verhandeln und unsere Differenzen auszuhalten."

Das klingt ein wenig nach Utopia, doch es entspricht Vorstellungen, die auch in Europa Konjunktur haben, etwa für Bürgerversammlungen oder mehr Transparenz und Kontrolle des Regierungshandelns. Zur Begründung der Grundrente wurden in Deutschland, ganz in Sandels Sinn, Begriffe wie "Anerkennung" oder "Respekt" herangezogen; auch die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen lässt sich in diesen Zusammenhang einordnen. Die krisenhaften Erscheinungen postmoderner Gesellschaften, vom Klimawandel bis zum autoritären Populismus, werden das Nachdenken über die an materiellen Werten orientierte Leistungsgesellschaft weiter befördern. Michael Sandel hat mit seiner gut lesbaren Abhandlung, deren Duktus im positiven Sinn die Herkunft aus Vorträgen und Vorlesungen verrät, dazu seinen Beitrag geleistet.

Michael J. Sandel: "Vom Ende des Gemeinwohls". Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt.

Aus dem Englischen von Helmut Reuter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 448 S., geb., 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Rezensent Stefan Reinecke zufolge gelingt es Michael J. Sandel in diesem Buch, eine überzeugende Erklärung für den Erfolg Donald Trumps zu liefern: Das vor allem von den Clintons verbreitete Narrativ von den USA als einer chancengerechten Leistungsutopie habe dafür gesorgt, dass diejenigen, die sowieso schon unten seien, sich durch die alleinige Schuldzuweisung für ihren eigenen Misserfolg noch mehr gedemütigt fühlten. Um dem grassierenden Rechtspopulismus entgegenzutreten, schlägt Sandel deshalb laut Reinecke einen Deal zwischen "urbanen Eliten und den Verlierern in den flyover states" vor, zu dem die Einschränkung der Macht der Wallstreet durch effektive Besteurung ebenso zähle wie die bessere Entlohnung der Arbeit von Nichtakademikern. Der Kritiker ist überzeugt und hofft, dass Biden diese Chance erkennt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.10.2020

Wider die Marktmechanismen
Der politische Philosoph Michael Sandel schreibt gegen das Leistungsprinzip an.
Er verortet dessen Beginn bei Ronald Reagan und setzt auf das „Gefühl für die Zufälligkeit des Lebens“
VON ISABELL TROMMER
In einem holzvertäfelten Saal agiert ein Philosoph auf der Bühne, neben ihm stehen Pult und Overheadprojektor. Mit Hunderten Studierenden diskutiert er moralische Dilemmata und Gerechtigkeitsfragen. So wurde Michael Sandel weltweit bekannt. Seine in Harvard gehaltenen Vorlesungen „Justice. What’s the right thing to do?“ erschienen 2009 als Buch, wurden im Fernsehen gezeigt und sind im Internet zu finden. Man könnte ihn für einen Fernsehprediger halten – das Magazin Newsweek kürte ihn zum „rock-star moralist“.
Zum ersten Mal machte Michael Sandel 1982 mit einer Kritik an John Rawls‘ „Theorie der Gerechtigkeit“ von sich reden, einem der wichtigsten philosophischen Werke der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt von Rawls‘ Gerechtigkeitsvorstellungen steht das Individuum. Sandel warf damals ein, man müsse in solche Überlegungen immer auch die Zugehörigkeit zu Gemeinschaften einbeziehen, denn sie konstituierten die individuelle Identität – von einem „ungebundenen Selbst“ könne keine Rede sein. Der Kommunitarismus, die Orientierung an sozialen Tugenden und am Gemeinwohl, den Sandel neben anderen vertritt, wuchs zu einer prominenten Strömung heran, regte Diskussionen an und erregte Widerspruch.
Das neue Buch des politischen Philosophen knüpft an frühere Überlegungen an, nimmt seinen Ausgang jedoch in der Gegenwart. In „Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratie zerreißt“ untersucht Sandel (siehe das SZ-Interview mit ihm am 22. September) gesellschaftliche Fehlentwicklungen und die Ursachen der „populistischen Unzufriedenheit“. Dabei macht er zunächst ein Bündel von Problemen aus: technokratische Politik, marktgetriebene Globalisierung, Ungleichheit, die Einteilung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer. Die herrschenden Eliten hätten Bedingungen geschaffen, welche „die Würde der Arbeit zersetzt“ und viele Menschen mit dem Gefühl zurückgelassen hätten, „nicht geachtet zu werden und machtlos zu sein“. Die Globalisierung habe außerdem zur Folge, dass „nationale Identitäten und Loyalitäten“ entwertet würden. (Hier wird deutlich, warum dem Kommunitarismus der Vorwurf anhängt, Nationalismus Vorschub zu leisten.) In den Mittelpunkt stellt Sandel den meritokratischen Liberalismus, der zu einer Tyrannei der Leistung geronnen sei. In den einzelnen Kapiteln untersucht er Aspekte und Erscheinungsformen wie die Ethik des Erfolgs, den „Ausleseapparat“ oder den Kredentialismus, also die wachsende Bedeutung von Abschlüssen am Arbeitsmarkt.
Wie tief verwurzelt der Gedanke ist, das Schicksal spiegele unsere Leistungen wider, verdeutlicht Sandel mit einem Blick in die Bibel. Im Zuge dessen kommt er auf die Prädestinationslehre zu sprechen und auf die Spannung zwischen Verdienst und Gnade: „In diesen Tagen sehen wir Erfolg in einer Weise, wie die Puritaner Erlösung betrachteten – nicht als etwas, das von Glück oder Gnade abhängig ist, sondern als etwas, das wir uns durch eigene Anstrengung und Mühe verdienen.“
Den Beginn dieser Entwicklungen verortet Sandel in den Achtzigerjahren. Im Januar 1987 verkündete der amerikanische Präsident Ronald Reagan, man werde diejenigen nie im Stich lassen, die unverschuldet in eine Notlage geraten seien. „Aber lasst uns herausfinden“, hieß es in der Regierungserklärung weiter, „wie viele aus der Abhängigkeit von Sozialleistungen befreit und zur Eigenständigkeit gebracht werden können.“ Reagan stand damit nicht alleine, und im Anschluss, so Sandel, hätten auch Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder auf Marktmechanismen gesetzt und den Finanzmarktkapitalismus befeuert.
Insbesondere die Rede von Chancengleichheit, Mobilität und Eigenverantwortung, die diese Politiker und ihre Nachfolger stets im Munde führten, ist Sandel ein Dorn im Auge. Er zählt, wie oft sie solche Phrasen von sich gegeben haben. Barack Obama etwa habe während seiner Präsidentschaft die Formulierung „You can make it, if you try“ mehr als 140 Mal gebraucht. Der Glaube an soziale Mobilität gehe jedoch an der Realität vorbei, das System sei in den vergangenen Jahrzehnten nicht durchlässiger geworden, vielmehr hätten sich Privilegien konsolidiert und verhärtet. In diesem Kontext kommt Sandel auf die Eliteuniversitäten zu sprechen, er kehrt also auch vor der eigenen Haustür. Zwei Drittel der Studierenden in Harvard und Stanford stammen aus dem oberen Fünftel der Einkommenshierarchie.
Doch selbst wenn alle tatsächlich die gleichen Chancen hätten, sei eine Meritokratie aus moralischen Gründen gar nicht anzustreben, führe sie doch zu Hochmut bei den Gewinnern und Unmut bei den Verlierern, schließlich fühlten letztere sich jetzt selbst für ihr Scheitern verantwortlich. Und er fragt: Warum sollte der Talentierte eine überdimensionierte Belohnung verdienen? Ist es tatsächlich unser eigenes Werk, wenn wir bestimmte Talente haben?
Als Kontrastprogramm schlägt Sandel beispielsweise vor, dass Eliteuniversitäten unter den grundsätzlich infrage kommenden Bewerbern eine Lotterie um die Studienplätze veranstalten. Ein „Gefühl für die Zufälligkeit des Lebens“ könne demütig machen. Zudem belohne der Markt ohnehin nicht zwingend das, was für das Gemeinwohl am besten sei.
Sandel schwebt eine demokratische und kapitalistische Gesellschaft vor, die sich mehr ums Gemeinwohl kümmert und sich weniger am Leistungsprinzip orientiert. Manche Autorinnen und Autoren, die sich mit Populismus oder der Krise der Demokratie befassen, tendieren dazu, den Schlüssel zum Verständnis im eigenen Forschungsfeld zu finden. Psychologen argumentieren mit Einstellungen der Wähler, Ökonomen verweisen auf die wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung; Sandel sieht zwar ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren am Werk, auch er landet im Kern aber bei seinen alten Themen Individualismus versus Gemeinwohl. Dabei kann er nur teilweise plausibel machen, weshalb ausgerechnet die Imperative der Leistungsgesellschaft der ausschlaggebende Faktor sein sollten.
Dennoch kann man bei Sandel viel lernen, wenn man denn mit seinem etwas lehrhaften Stil zurechtkommt. Er bereitet philosophische Überlegungen und Argumente zugänglich auf – ob man ihm nun überall folgen will oder nicht.
Isabell Trommer ist Politikwissenschaftlerin.
An US-Eliteuniversitäten sollte
das Los entscheiden, nicht
der Geldbeutel der Eltern
Schauspieler, Präsident – und Teilzeit-Sänger: Ronald Reagan (links) im April 1987 mit dem Entertainer Bob Hope.
Foto: JEROME DELAY/AFP
Michael J. Sandel:
Vom Ende des
Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft
unsere Demokratie zerreißt. Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter.
S. Fischer-Verlage,
Frankfurt 2020.
448 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Sandel hat eine brauchbare politische Kartografie entworfen, die die Bedingungen nachzeichnet, die Trump möglich machten. Stefan Reinecke taz 20210116