Weltweit sind die Populisten auf dem Vormarsch - Michael J. Sandel erklärt, warum
Gerade in Zeiten des Corona-Virus wird erschreckend deutlich, dass das Gemeinwohl in unseren Gesellschaften in den letzten Jahren an Bedeutsamkeit verloren hat. Die Demokratien stehen auf dem Prüfstand, wir sind Zeugen einer populistischen Revolte. Die Wahl Trumps, der Brexit, der Erfolg der AfD - das sind die wütenden Antworten auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft. Der Moralphilosoph Michael J. Sandel sieht die Ursache dafür in der Tyrannei der Leistungsgesellschaft.
Wer hat in unserer Gesellschaft Erfolg - und warum? Unter dem gesellschaftlich unumstrittenen Mantra »Wer hart arbeitet, kann alles erreichen« haben wir gelernt zu glauben, dass jeder genau das hat, was er verdient. Die Profiteure und Nutznießer dieses Systems, das Erfolg auf Leistung und Talent zurückführt, gehen darum davon aus, dass sie ihren Erfolg verdienen, dass er ihnen zusteht, eben weil sie sichangestrengt haben. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass diejenigen, die am System scheitern, selbst Schuld sind.
Die Hybris der Gewinner ebenso wie die Demütigung der Verlierer befeuern den populistischen Protest, dessen Zeugen wir aktuell weltweit sind. Im Kern zielt der Unmut gegenüber den Eliten auf eine Kritik an der Tyrannei der Leistungsgesellschaft, und diese Kritik ist berechtigt. Seit Jahrzehnten nimmt die Ungleichheit in den demokratischen Gesellschaften zu, Verlierer und Gewinner des Systems entfernen sich sowohl auf sozialer als auch auf finanzieller Ebene immer weiter voneinander.
Statt an einer trennenden Ethik des Erfolgs festzuhalten, müssen wir an einer Politik des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit arbeiten, die allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommt.
»Michael Sandel: Der Meister für die großen Fragen des Lebens« Andrew Anthony, »The Guardian«
»Wir sollten die Würde der Arbeit erneuern und sie in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Wir sollten uns daran erinnern, dass es bei der Arbeit nicht nur darum geht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern dass es auch darum geht, zum Gemeinwohl beizutragen und dafür Anerkennung zu bekommen.« Michael J. Sandel im TED-Talk zu »Vom Ende des Gemeinwohls«
Gerade in Zeiten des Corona-Virus wird erschreckend deutlich, dass das Gemeinwohl in unseren Gesellschaften in den letzten Jahren an Bedeutsamkeit verloren hat. Die Demokratien stehen auf dem Prüfstand, wir sind Zeugen einer populistischen Revolte. Die Wahl Trumps, der Brexit, der Erfolg der AfD - das sind die wütenden Antworten auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft. Der Moralphilosoph Michael J. Sandel sieht die Ursache dafür in der Tyrannei der Leistungsgesellschaft.
Wer hat in unserer Gesellschaft Erfolg - und warum? Unter dem gesellschaftlich unumstrittenen Mantra »Wer hart arbeitet, kann alles erreichen« haben wir gelernt zu glauben, dass jeder genau das hat, was er verdient. Die Profiteure und Nutznießer dieses Systems, das Erfolg auf Leistung und Talent zurückführt, gehen darum davon aus, dass sie ihren Erfolg verdienen, dass er ihnen zusteht, eben weil sie sichangestrengt haben. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass diejenigen, die am System scheitern, selbst Schuld sind.
Die Hybris der Gewinner ebenso wie die Demütigung der Verlierer befeuern den populistischen Protest, dessen Zeugen wir aktuell weltweit sind. Im Kern zielt der Unmut gegenüber den Eliten auf eine Kritik an der Tyrannei der Leistungsgesellschaft, und diese Kritik ist berechtigt. Seit Jahrzehnten nimmt die Ungleichheit in den demokratischen Gesellschaften zu, Verlierer und Gewinner des Systems entfernen sich sowohl auf sozialer als auch auf finanzieller Ebene immer weiter voneinander.
Statt an einer trennenden Ethik des Erfolgs festzuhalten, müssen wir an einer Politik des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit arbeiten, die allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommt.
»Michael Sandel: Der Meister für die großen Fragen des Lebens« Andrew Anthony, »The Guardian«
»Wir sollten die Würde der Arbeit erneuern und sie in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. Wir sollten uns daran erinnern, dass es bei der Arbeit nicht nur darum geht, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern dass es auch darum geht, zum Gemeinwohl beizutragen und dafür Anerkennung zu bekommen.« Michael J. Sandel im TED-Talk zu »Vom Ende des Gemeinwohls«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Unterschiede muss man aushalten
Auch ein Versuch, den politischen Erfolg des Populismus zu erklären: Michael Sandel übt harte Kritik an der Leistungsgesellschaft.
Von Günther Nonnenmacher
Donald Trumps Präsidentschaft ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Kommunitaristen unter gutem Regieren verstehen: Statt nach dem Gemeinwohl zu streben, kümmert sich Trump nur um seinen persönlichen Vorteil; das gemeinschaftliche Zusammenwirken, das große "Wir", das den Kommunitaristen als republikanisches Ideal vorschwebt, hat neben dem überdimensionierten Ego dieses Präsidenten keinen Raum.
Das Buch des in Harvard lehrenden Philosophen Michael Sandel, der einer der Begründer des Kommunitarismus ist und durch seine neosokratische Lehrmethode sowie seine audiovisuell verbreiteten Vorlesungen über Fachkreise hinaus bekannt wurde, ist ein Versuch, die politische Karriere des Populismus, damit auch den Wahlerfolg Trumps, zu erklären. Dabei kommt, das ist nicht neu, die Globalisierung in den Blick: Trumps Aufstieg, der Erfolg anderer Populisten und der Ausgang des Brexit-Referendums in Großbritannien seien "ein wütendes Urteil gegen Jahrzehnte wachsender Ungleichheit".
Da tauchen dann, wie in vielen anderen Büchern, die minderqualifizierten "Abgehängten" als Globalisierungsverlierer und die "kosmopolitischen Eliten" als Gewinner auf. Tatsächlich ist das Durchschnittsgehalt der amerikanischen Arbeiter seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht mehr gestiegen (in den europäischen Wohlfahrtsstaaten sieht es etwas anders aus, was Sandel vermerkt), während die Einkommen und Vermögen der Wohlhabenden, vor allem der ganz Reichen, geradezu explodiert sind.
Doch nicht nur oder vor allem die Ökonomie ist das Problem. Der beste Indikator für die Unterstützung von Trump ist, wie Sandel mit Zahlen belegt, nicht das Einkommen, sondern das Bildungsniveau. Das zeigt, und auch das ist keine neue Erkenntnis, dass Populismus auch von einem moralphilosophisch zu formulierenden Problem genährt wird: von schwindender Wertschätzung für die einfachen Leute. Den Grund dafür sieht Sandel im gesellschaftlich dominanten Leistungsprinzip, das bei den Globalisierungsgewinnern Überheblichkeit fördert, für die unteren Schichten aber demütigend ist. Der "Kern des populistischen Aufstands gegen die Eliten" sei die "Tyrannei der Leistung" - so lautet auch der englische Titel von Sandels Buch, der dessen Stoßrichtung besser beschreibt als der deutsche.
Bildung ist nicht das Allheilmittel gegen Ungleichheit.
Hier wandelt Sandel zunächst auf dem etwas ausgetretenen Pfad von Max Webers "Protestantismus-Kapitalismus"-These. Während Weber hauptsächlich auf die "innerweltliche Askese" des calvinistischen Protestantismus abhebt, verfolgt Sandel die Wege, auf denen sich diese Motivation zu einem "Vorsehungsglauben ohne Gott" verwandelt, damit zu einer positiven moralischen Aufladung materiellen Erfolgs geführt habe und Misserfolg als eine Art moralisches Versagen erscheinen lasse. Im Gegensatz zu älteren Gesellschaftsformationen, in denen es für Unterschichten die psychologische Entlastung gab, ihr Elend auf Repression durch adlige Oberschichten zurückzuführen oder dem Funktionsmechanismen der kapitalistischen Klassengesellschaft zuzuschreiben, habe nun "zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte das unterwertige Individuum keine Möglichkeit, für seine Verhältnisse jemand anders verantwortlich zu machen".
Für Amerika hat das eine besondere Pointe, weil dort die Antwort auf Ungleichheit das Versprechen der sozialen Mobilität war, der sprichwörtliche amerikanische Traum des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär. Dass dieser Aufstieg auch andere Voraussetzungen hatte als harte Arbeit und Gesetzestreue, hat vor hundert Jahren Frederick J. Turner in seinem berühmten Aufsatz über "Die Grenze (,the frontier') in der amerikanischen Geschichte" illustriert: Im vermeintlich "freien Land", das im Westen zur Verfügung stand, konnten die Pioniere die nahezu unbegrenzten natürlichen Ressourcen ausbeuten.
Auch ein anderer Weg zum sozialen Aufstieg hält nicht mehr die Versprechen, die sich mit ihm verbinden: Bildung. Das ist eines der Hauptthemen des Buches. Ausführlich zitiert Sandel Statistiken, die beweisen, wie selektiv das amerikanische Hochschulsystem ist. Es ist nicht (mehr) Motor des sozialen Aufstiegs, sondern eine Institution zur Selbstreproduktion der Eliten. "Die höhere Bildung Amerikas ähnelt dem Aufzug in einem Gebäude, das die meisten über das oberste Stockwerk betreten." Die Folge ist, dass die Leistung jener Bürger, die kein akademisches Diplom haben, entwertet wird, was "zersetzend auf das gesellschaftliche Leben" wirkt.
Sandel hält generell nichts von der These, Bildung sei das Allheilmittel gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit und stärke damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn diejenigen, die an der Zulassung zur Hochschule oder in der Universität scheitern, werden dies als Niederlage und Demütigung ansehen. Und diejenigen, die "auf dem Schlachtfeld der Leistungsgesellschaft" siegen, tragen dabei so viele psychische Verletzungen davon, dass auch sie in gewisser Weise als Opfer gelten können.
Bürger müssen sich an öffentlichen Orten treffen und austauschen.
Sandel ist der Meinung, dass aus moralphilosophischer Sicht die Ungleichheit, die sich im "meritokratischen Wettbewerb" ergibt, auch dann nicht zu rechtfertigen ist, wenn sie auf besonderen Gaben und Talenten beruht. Das entwickelt er in der Auseinandersetzung mit der Argumentation zweier Antipoden, nämlich der Freiheitstheorie des liberalen Ökonomen Friedrich August von Hayek und der Gerechtigkeitstheorie des Rechtsphilosophen John Rawls, die man nach europäischen Maßstäben als sozialdemokratisch bezeichnen könnte.
Das führt Sandel zu dem Schluss, dass die "Tyrannei der Leistungsgesellschaft" aufgehoben oder zumindest abgeschwächt werden müsse. Seine Rezepte dafür sind nicht sonderlich originell. Es gelte, die "Vernachlässigung technischer und beruflicher Ausbildung zu überwinden und die - Bezahlung wie Ausbildung betreffende - schroffe Unterscheidung zwischen Hochschulen und anderen Modellen der postsekundären Bildung" aufzubrechen. Ökonomisch gesehen, solle die Steuerlast von der Arbeit (Einkommen- und Lohnsteuer) auf Konsum und Spekulation verlagert werden. Das ist ein Plädoyer für eine höhere Besteuerung von Vermögen und Finanztransaktionen.
Zwar hält Sandel Chancengleichheit für ein moralisch notwendiges "Korrektiv gegen Ungerechtigkeit", doch er wendet sich auch gegen "eine sterile, bedrückende Gleichheit der Ergebnisse". Allerdings sind seine Vorschläge manchmal widersprüchlich: Für den Hochschulzugang schlägt er etwa ein relativ kompliziertes Losverfahren vor, dessen Voraussetzung gleichwohl wäre, dass diejenigen Bewerber, die für ein Studium nicht geeignet sind (ein Viertel bis die Hälfte), vorher ausgesiebt würden - damit entsteht aber wieder eine Demütigung für die Abgelehnten, was schwer mit Sandels Grundthese vereinbar ist.
Sandel überspringt viele Probleme, die bei einer Abschaffung des "meritokratischen Prinzips" entstünden; sein eigentliches Ziel liegt jenseits der Ökonomie. Es geht ihm um das Gemeinwohl, um eine "gute Gesellschaft", für die es, aristotelisch gesprochen, tugendhafte Bürger in einer wohlgeordneten Republik braucht. Das Gemeinwohl ist für Sandel nur zu erreichen, "wenn wir zusammen . . . über die Zwecke und Ziele nachdenken, die unserer politischen Gemeinschaft würdig sind . . . Dazu ist keine vollkommene Gleichheit notwendig. Erforderlich ist allerdings, dass Bürger aus unterschiedlichen Lebensbereichen in gemeinsamen Räumen und an öffentlichen Orten zusammentreffen. Denn so lernen wir zu verhandeln und unsere Differenzen auszuhalten."
Das klingt ein wenig nach Utopia, doch es entspricht Vorstellungen, die auch in Europa Konjunktur haben, etwa für Bürgerversammlungen oder mehr Transparenz und Kontrolle des Regierungshandelns. Zur Begründung der Grundrente wurden in Deutschland, ganz in Sandels Sinn, Begriffe wie "Anerkennung" oder "Respekt" herangezogen; auch die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen lässt sich in diesen Zusammenhang einordnen. Die krisenhaften Erscheinungen postmoderner Gesellschaften, vom Klimawandel bis zum autoritären Populismus, werden das Nachdenken über die an materiellen Werten orientierte Leistungsgesellschaft weiter befördern. Michael Sandel hat mit seiner gut lesbaren Abhandlung, deren Duktus im positiven Sinn die Herkunft aus Vorträgen und Vorlesungen verrät, dazu seinen Beitrag geleistet.
Michael J. Sandel: "Vom Ende des Gemeinwohls". Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt.
Aus dem Englischen von Helmut Reuter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 448 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch ein Versuch, den politischen Erfolg des Populismus zu erklären: Michael Sandel übt harte Kritik an der Leistungsgesellschaft.
Von Günther Nonnenmacher
Donald Trumps Präsidentschaft ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, was Kommunitaristen unter gutem Regieren verstehen: Statt nach dem Gemeinwohl zu streben, kümmert sich Trump nur um seinen persönlichen Vorteil; das gemeinschaftliche Zusammenwirken, das große "Wir", das den Kommunitaristen als republikanisches Ideal vorschwebt, hat neben dem überdimensionierten Ego dieses Präsidenten keinen Raum.
Das Buch des in Harvard lehrenden Philosophen Michael Sandel, der einer der Begründer des Kommunitarismus ist und durch seine neosokratische Lehrmethode sowie seine audiovisuell verbreiteten Vorlesungen über Fachkreise hinaus bekannt wurde, ist ein Versuch, die politische Karriere des Populismus, damit auch den Wahlerfolg Trumps, zu erklären. Dabei kommt, das ist nicht neu, die Globalisierung in den Blick: Trumps Aufstieg, der Erfolg anderer Populisten und der Ausgang des Brexit-Referendums in Großbritannien seien "ein wütendes Urteil gegen Jahrzehnte wachsender Ungleichheit".
Da tauchen dann, wie in vielen anderen Büchern, die minderqualifizierten "Abgehängten" als Globalisierungsverlierer und die "kosmopolitischen Eliten" als Gewinner auf. Tatsächlich ist das Durchschnittsgehalt der amerikanischen Arbeiter seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht mehr gestiegen (in den europäischen Wohlfahrtsstaaten sieht es etwas anders aus, was Sandel vermerkt), während die Einkommen und Vermögen der Wohlhabenden, vor allem der ganz Reichen, geradezu explodiert sind.
Doch nicht nur oder vor allem die Ökonomie ist das Problem. Der beste Indikator für die Unterstützung von Trump ist, wie Sandel mit Zahlen belegt, nicht das Einkommen, sondern das Bildungsniveau. Das zeigt, und auch das ist keine neue Erkenntnis, dass Populismus auch von einem moralphilosophisch zu formulierenden Problem genährt wird: von schwindender Wertschätzung für die einfachen Leute. Den Grund dafür sieht Sandel im gesellschaftlich dominanten Leistungsprinzip, das bei den Globalisierungsgewinnern Überheblichkeit fördert, für die unteren Schichten aber demütigend ist. Der "Kern des populistischen Aufstands gegen die Eliten" sei die "Tyrannei der Leistung" - so lautet auch der englische Titel von Sandels Buch, der dessen Stoßrichtung besser beschreibt als der deutsche.
Bildung ist nicht das Allheilmittel gegen Ungleichheit.
Hier wandelt Sandel zunächst auf dem etwas ausgetretenen Pfad von Max Webers "Protestantismus-Kapitalismus"-These. Während Weber hauptsächlich auf die "innerweltliche Askese" des calvinistischen Protestantismus abhebt, verfolgt Sandel die Wege, auf denen sich diese Motivation zu einem "Vorsehungsglauben ohne Gott" verwandelt, damit zu einer positiven moralischen Aufladung materiellen Erfolgs geführt habe und Misserfolg als eine Art moralisches Versagen erscheinen lasse. Im Gegensatz zu älteren Gesellschaftsformationen, in denen es für Unterschichten die psychologische Entlastung gab, ihr Elend auf Repression durch adlige Oberschichten zurückzuführen oder dem Funktionsmechanismen der kapitalistischen Klassengesellschaft zuzuschreiben, habe nun "zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte das unterwertige Individuum keine Möglichkeit, für seine Verhältnisse jemand anders verantwortlich zu machen".
Für Amerika hat das eine besondere Pointe, weil dort die Antwort auf Ungleichheit das Versprechen der sozialen Mobilität war, der sprichwörtliche amerikanische Traum des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär. Dass dieser Aufstieg auch andere Voraussetzungen hatte als harte Arbeit und Gesetzestreue, hat vor hundert Jahren Frederick J. Turner in seinem berühmten Aufsatz über "Die Grenze (,the frontier') in der amerikanischen Geschichte" illustriert: Im vermeintlich "freien Land", das im Westen zur Verfügung stand, konnten die Pioniere die nahezu unbegrenzten natürlichen Ressourcen ausbeuten.
Auch ein anderer Weg zum sozialen Aufstieg hält nicht mehr die Versprechen, die sich mit ihm verbinden: Bildung. Das ist eines der Hauptthemen des Buches. Ausführlich zitiert Sandel Statistiken, die beweisen, wie selektiv das amerikanische Hochschulsystem ist. Es ist nicht (mehr) Motor des sozialen Aufstiegs, sondern eine Institution zur Selbstreproduktion der Eliten. "Die höhere Bildung Amerikas ähnelt dem Aufzug in einem Gebäude, das die meisten über das oberste Stockwerk betreten." Die Folge ist, dass die Leistung jener Bürger, die kein akademisches Diplom haben, entwertet wird, was "zersetzend auf das gesellschaftliche Leben" wirkt.
Sandel hält generell nichts von der These, Bildung sei das Allheilmittel gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit und stärke damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn diejenigen, die an der Zulassung zur Hochschule oder in der Universität scheitern, werden dies als Niederlage und Demütigung ansehen. Und diejenigen, die "auf dem Schlachtfeld der Leistungsgesellschaft" siegen, tragen dabei so viele psychische Verletzungen davon, dass auch sie in gewisser Weise als Opfer gelten können.
Bürger müssen sich an öffentlichen Orten treffen und austauschen.
Sandel ist der Meinung, dass aus moralphilosophischer Sicht die Ungleichheit, die sich im "meritokratischen Wettbewerb" ergibt, auch dann nicht zu rechtfertigen ist, wenn sie auf besonderen Gaben und Talenten beruht. Das entwickelt er in der Auseinandersetzung mit der Argumentation zweier Antipoden, nämlich der Freiheitstheorie des liberalen Ökonomen Friedrich August von Hayek und der Gerechtigkeitstheorie des Rechtsphilosophen John Rawls, die man nach europäischen Maßstäben als sozialdemokratisch bezeichnen könnte.
Das führt Sandel zu dem Schluss, dass die "Tyrannei der Leistungsgesellschaft" aufgehoben oder zumindest abgeschwächt werden müsse. Seine Rezepte dafür sind nicht sonderlich originell. Es gelte, die "Vernachlässigung technischer und beruflicher Ausbildung zu überwinden und die - Bezahlung wie Ausbildung betreffende - schroffe Unterscheidung zwischen Hochschulen und anderen Modellen der postsekundären Bildung" aufzubrechen. Ökonomisch gesehen, solle die Steuerlast von der Arbeit (Einkommen- und Lohnsteuer) auf Konsum und Spekulation verlagert werden. Das ist ein Plädoyer für eine höhere Besteuerung von Vermögen und Finanztransaktionen.
Zwar hält Sandel Chancengleichheit für ein moralisch notwendiges "Korrektiv gegen Ungerechtigkeit", doch er wendet sich auch gegen "eine sterile, bedrückende Gleichheit der Ergebnisse". Allerdings sind seine Vorschläge manchmal widersprüchlich: Für den Hochschulzugang schlägt er etwa ein relativ kompliziertes Losverfahren vor, dessen Voraussetzung gleichwohl wäre, dass diejenigen Bewerber, die für ein Studium nicht geeignet sind (ein Viertel bis die Hälfte), vorher ausgesiebt würden - damit entsteht aber wieder eine Demütigung für die Abgelehnten, was schwer mit Sandels Grundthese vereinbar ist.
Sandel überspringt viele Probleme, die bei einer Abschaffung des "meritokratischen Prinzips" entstünden; sein eigentliches Ziel liegt jenseits der Ökonomie. Es geht ihm um das Gemeinwohl, um eine "gute Gesellschaft", für die es, aristotelisch gesprochen, tugendhafte Bürger in einer wohlgeordneten Republik braucht. Das Gemeinwohl ist für Sandel nur zu erreichen, "wenn wir zusammen . . . über die Zwecke und Ziele nachdenken, die unserer politischen Gemeinschaft würdig sind . . . Dazu ist keine vollkommene Gleichheit notwendig. Erforderlich ist allerdings, dass Bürger aus unterschiedlichen Lebensbereichen in gemeinsamen Räumen und an öffentlichen Orten zusammentreffen. Denn so lernen wir zu verhandeln und unsere Differenzen auszuhalten."
Das klingt ein wenig nach Utopia, doch es entspricht Vorstellungen, die auch in Europa Konjunktur haben, etwa für Bürgerversammlungen oder mehr Transparenz und Kontrolle des Regierungshandelns. Zur Begründung der Grundrente wurden in Deutschland, ganz in Sandels Sinn, Begriffe wie "Anerkennung" oder "Respekt" herangezogen; auch die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen lässt sich in diesen Zusammenhang einordnen. Die krisenhaften Erscheinungen postmoderner Gesellschaften, vom Klimawandel bis zum autoritären Populismus, werden das Nachdenken über die an materiellen Werten orientierte Leistungsgesellschaft weiter befördern. Michael Sandel hat mit seiner gut lesbaren Abhandlung, deren Duktus im positiven Sinn die Herkunft aus Vorträgen und Vorlesungen verrät, dazu seinen Beitrag geleistet.
Michael J. Sandel: "Vom Ende des Gemeinwohls". Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt.
Aus dem Englischen von Helmut Reuter. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 448 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Stefan Reinecke zufolge gelingt es Michael J. Sandel in diesem Buch, eine überzeugende Erklärung für den Erfolg Donald Trumps zu liefern: Das vor allem von den Clintons verbreitete Narrativ von den USA als einer chancengerechten Leistungsutopie habe dafür gesorgt, dass diejenigen, die sowieso schon unten seien, sich durch die alleinige Schuldzuweisung für ihren eigenen Misserfolg noch mehr gedemütigt fühlten. Um dem grassierenden Rechtspopulismus entgegenzutreten, schlägt Sandel deshalb laut Reinecke einen Deal zwischen "urbanen Eliten und den Verlierern in den flyover states" vor, zu dem die Einschränkung der Macht der Wallstreet durch effektive Besteurung ebenso zähle wie die bessere Entlohnung der Arbeit von Nichtakademikern. Der Kritiker ist überzeugt und hofft, dass Biden diese Chance erkennt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Sandel hat eine brauchbare politische Kartografie entworfen, die die Bedingungen nachzeichnet, die Trump möglich machten. Stefan Reinecke taz 20210116