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Kein historischer Bericht, keine Chronik zeigen die Weimarer Republik und die Zwischenkriegszeit klarer, hellsichtiger und vielschichtiger als die Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit. Diese Arbeiten, die Tergit ab 1924 u.a. für das Berliner Tageblatt und die Weltbühne in der ihr eigenen literarischen Sprache verfasste, bilden das Herzstück ihrer journalistischen Arbeit. Sie verstand den Gerichtssaal als Bühne, auf der sich bei jeder Verhandlung ein neues Stück abspielte. Dabei interessierte sie vorrangig der sonderbare Einzelfall, der interessante, merkwürdige, tragische Charakter des…mehr

Produktbeschreibung
Kein historischer Bericht, keine Chronik zeigen die Weimarer Republik und die Zwischenkriegszeit klarer, hellsichtiger und vielschichtiger als die Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit. Diese Arbeiten, die Tergit ab 1924 u.a. für das Berliner Tageblatt und die Weltbühne in der ihr eigenen literarischen Sprache verfasste, bilden das Herzstück ihrer journalistischen Arbeit. Sie verstand den Gerichtssaal als Bühne, auf der sich bei jeder Verhandlung ein neues Stück abspielte. Dabei interessierte sie vorrangig der sonderbare Einzelfall, der interessante, merkwürdige, tragische Charakter des Tatbestands und der Angeklagten. Und doch beobachtete sie in jedem Fall, der bei Gericht verhandelt wurde, stets das Ringen der gesellschaftlichen Kräfte im Hintergrund, die soziale Misere, die die Menschen erst zu verbrecherischen Taten treibt.
Autorenporträt
Gabriele Tergit (1894-1982), Journalistin und Schriftstellerin, wurde durch ihre Gerichtsreportagen bekannt. Sie schrieb drei Romane, zahlreiche Feuilletons und Reportagen sowie posthum veröffentlichte Erinnerungen. Im November 1933 emigrierte sie nach Palästina, 1938 zog sie mit ihrem Mann nach London.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Wem die Romane der kürzlich wieder entdeckten Autorin Gabriele Tergit gefallen haben, dem empfiehlt Rezensentin Katrin Bettina Müller auch Tergits gesammelte Gerichtsreportagen. Schon hier erweist sich die damals Mitte Dreißigjährige als genaue Beobachterin ihrer Zeit. Verzweifelte Kindsmörderinnen, Analphabeten und Heiratsschwindler bevölkern ihre Texte und werden dank Tergits treffender Beschreibungen und zitierter Dialoge lebendig. Doch Tergit beschreibt nicht nur einfach, so Müller, sie kommentiert auch, was sie durchschaut und das ist eine Menge: Wie gewöhnliche Kneipenschlägereien zu Konflikten zwischen Links und Rechts umgedeutet werden, wie sich 1930 ein zunehmend militärischer Duktus durchsetzt, wie die Machtverhältnisse sich verschieben, Rollenbilder bröckeln, die Gespanntheit und Unsicherheit steigt. All das ist äußerst aufschlussreich und spannend zu lesen, als sitze man direkt an der Quelle für historischen Krimistoff, erklärt Laszlo. Interessierten empfiehlt sie außerdem die Ausgabe 228 der Zeitschrift Text + Kritik. Hier nämlich wird Tergits Exilzeit thematisiert sowie ihr zwiespältiges Verhältnis zu Palästina.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.09.2020

Ungeist und gefallene Mädchen
„Moabit ist seit einigen Jahren Quelle für die Erkenntnis der Zeit“: Die Gerichtsberichte der unvergleichlichen Reporterin
und Schriftstellerin Gabriele Tergit aus den Jahren 1924 bis 1949 in einer sorgfältigen Auswahl
VON JENS BISKY
Kein Satz in den Gerichtsreportagen der Gabriele Tergit verrät Unsicherheit, und so möchte man es kaum glauben, wie eingeschüchtert sie war, als sie zum ersten Mal ein Gerichtsgebäude betrat. Aber sie hat davon in ihren Erinnerungen erzählt. Der Feuilletonchef des Berliner Tageblatts, der großen liberalen Zeitung, bot ihr den Posten einer Gerichtsberichterstatterin an, nannte Ort, Zeit und Fall einer Verhandlung, erleichterte ihr liebevoll den Beginn.
Tergit, die in diesem Jahr 1924 dreißig wurde, machte sich auf den Weg, ging im Gerichtsgebäude die Treppe zum Zuhörerraum hinauf und konnte sich doch nicht überwinden, „die Tür zum Gerichtszimmer zu öffnen“. Dann kehrte sie um, schimpfte sich selbst „dumm und lebensunfähig“. Ihr Mann hat mehrfach darüber gespottet: „Aber Sie wissen doch, meine Frau kann keine Türen öffnen, ist also die geborene Journalistin.“ Ob ihre Schüchternheit damit zu tun hatte, dass die Justiz eine Männerwelt war, es im Gerichtsgebäude in Moabit, wie Tergit schrieb, nur zwei Kategorien von Frauen gebe: die an einem speziellen Fall interessierte Zuhörerin und die Reinemachefrau. „Moabit ist ein Ort der Männer. Als Subjekt und Objekt spielen Frauen eine sehr geringe Rolle. Sie sind weder Betrüger noch Einbrecher noch Hehler. Weder bestechen sie, noch vergehen sie sich im Amt, sie widerstehen nicht der Staatsgewalt, noch treiben sie Landesverrat. Ihr Gebiet ist das Ewige, die Liebe und der Klatsch.“ Als diese Sätze im Februar 1913 erscheinen, war die Gerichtsreporterin Gabriele Tergit längst berühmt.
Zum Glück für die Leser hatte sich 1924 doch noch alles gefügt. Im Urlaub auf Hiddensee hatte sie einen Referendar kennengelernt, der sie mit in eine Verhandlung vor dem Landgericht in der Turmstraße nahm. Um nicht aufzufallen, schrieb sie kein Wort mit, anschließend aber einen Bericht, den der Börsen-Courier ebenso druckte wie die folgenden. So begannen „drei reizende endlose Monate“, dann schrieb sie, weil im Tageblatt keine guten Gerichtsberichte erschienen an dessen Chefredakteur Theodor Wolff, einen Mann des 19. Jahrhunderts, der lange der beste Leitartikler der Hauptstadt war. Er bat sie zu sich, bot ihr 500 Mark für neun Gerichtsberichte im Monat, 75 Mark für jeden weiteren Artikel. Bis zu ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten arbeitete sie beim Berliner Tageblatt, ihre Zeit dort sei auch für sie „die sieben fetten Jahre im Leben einer ganzen Generation gewesen“.
Eine üppige Auswahl von Tergits Gerichtsreportagen hat Nicole Henneberg herausgegeben, versehen mit den nötigen Kommentaren, und einem Nachwort, das die literatur- und zeitgeschichtlichen Kontexte erhellt. Der Band enthält auch eine Bibliografie aller Gerichtsberichte, die Tergit zwischen 1924 und 1949 veröffentlicht hat, sowie zwei interessante, bislang ungedruckte Texte aus dem Nachlass. Dank der editorischen Sorgfalt, die sich nicht in den Vordergrund drängt, sondern dem Werk dient, ist auch dieser Tergit-Band, was schon die vorherigen, „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ (2016), „Etwas Seltenes überhaupt“ (2018), „Effingers“ (2019) waren: ein Höhepunkt des Lesejahres, ein Buch, das man jedem in die Hand drücken möchte, der gute Prosa schätzt, Klugheit, Beobachtungsgabe, Witz.
Die Artikel handeln von fast allem, von Unfällen, Heiratsschwindel, Beleidigungen, übler Nachrede, von Intrigen, Meineid, Betrug und politischer Gewalt. Der Schriftsteller Alfred Döblin und der Schauspieler Curt Bois haben ebenso ihren Auftritt wie bleiche Bürschlein, Schläger, Kokainhändler, Hungernde, junge Frauen mit zeitgemäß kurzen Haaren und Röcken, Hitler oder ein KPD-Funktionär, „ein kleiner Propagandareisender des großen Glückszuchthauses im Osten“.
Das Genre der feuilletonistischen Gerichtsreportage war damals ziemlich jung und wurde rasch beliebt, weil es mehrere Bedürfnisse zugleich befriedigte. Gerichtsberichte unterhielten, ermöglichten rasche Parteinahme, befeuerten die großen Reformdebatten der Zeit, etwa über die Paragrafen 175 und 218, über Homosexualität und Abtreibung, über Jugendfürsorge und die sittlichen Normen, die in der neuen Republik gelten sollten, deren Richter und Anwälte oft noch wilhelminische Idealen, autoritär geprägten Vorstellungen folgten. Vor Gericht kamen die großen politischen Streitfälle jener Jahre, Revolutionäre von links, Fememörder von rechts, Korruptionsfälle, Republikfeinde, die oft sanft und verständnisvoll behandelt wurden, wenn ihre Gesinnung den Richtern behagte, die Desperados und Straßenschläger, die Reichswehr und die paramilitärischen Verbände. Der Historiker Daniel Siemens hat für die Zeit, in der Tergit ihre Arbeit in den Gerichtssälen begann, eine „Vertrauenskrise der Justiz“ diagnostiziert.
Tergit hat aufmerksam verfolgt, was der Pionier des Genres, Paul Schlesinger, tat, der unter dem Kürzel Sling für die Vossische Zeitung schrieb. Sie fand rasch ihr eigenes Verfahren, suchte das eine sprechende Detail einer Verhandlung, den Satz, der den Vorgang auf den Punkt brachte. Während sie einerseits typisierte, zeichnete sie in anderen Fällen Leben und Charakter der Angeklagten sorgfältig nach. Sie erzählt, dramatisiert, urteilt gern aphoristisch. „Die guten Geister scheinen leider rachsüchtig zu sein“, heißt es über eine Okkultistin. Nachdem eine wegen Kindstötung Angeklagte ohne Rücksicht auf ihre seelische und soziale Lage zur Zeit der Geburt verurteilt worden war: „Was auf der einen Seite gepriesene Mutterschaft, ist auf der anderen die soziale Deklassierung. Der Freund ist schon beinahe selbstverständlich; das Kind erst macht die Frau verächtlich. Im Jahre 1929.“ Nachdem eine Horde Nationalsozialisten einen Zeitungshändler ermordet hatten und das Gericht „außerordentliche Milde“ zeigte: „So zart kann man das Faustrecht, das sich in Deutschland ausbreitet, nicht bekämpfen.“ Die Täter charakterisierte sie so: „Sollte man das Aussehen der jungen Angeklagten beschreiben, so kann man nur sagen, dass sie gar keins haben. Sie haben alle nur eine Angst, die heißt: Kommunisten. Sie erwarten Überfälle. Sie verteidigen sich. Sie rüsten. Sie geben Alarm. Sie rufen ,Dicke Luft‘. Und zuletzt sind sie hundert gegen einen und schlagen die Menschen tot. Wie lange soll diese verwahrloste Jugend, angeführt von irgendwelchen Desperados, die Straßen unsicher machen?“.
Tergits klares politisches Urteil lebt von ihrer Menschenkenntnis und ihrem Willen, als Geschichtsschreiberin des Tages nicht zu übertreiben, klar und deswegen maßvoll zu berichten, die Proportionen zu wahren. Daher erkennt sie, der die Kommunisten und ihre Phrasen und die Hilfe der Sowjetunion zur geheimen Aufrüstung der Reichswehr ein Gräuel waren, die verhängnisvollen Folgen der absichtsvoll geschürten Kommunistenfurcht.
Es finden sich in diesem Auswahlband viele komische, auch berührende Geschichten. Den Arbeitslosen, der aus Wut nach stundenlangem Warten im Wohlfahrtsamt mit einem Kartothekkasten warf, wird man ebenso wenig vergessen wie die alte Waschfrau, die sich verantworten muss, weil sie „den Dachstuhl eines hochherrschaftlichen Hauses … fahrlässigerweise in Brand gesteckt“ haben soll. Sieben Mark verdient sie in der Woche und nimmt ohne Murren die Geldstrafe von 200 Mark auf sich. Daneben stehen viele Berichte darüber, dass man Hitler vor Gericht wie einen Filmstar auftreten ließ, dass der Geist des Bürgerkriegs die Republik und die Grundlagen eines vernünftigen Zusammenlebens zerstörte. Als der Straßenterror von Staats wegen veranstaltet wurde, konnte Tergit im letzten Augenblick entkommen.
Das Reden über Verbrechen und Strafen dient immer auch dazu, Vorstellungen von Normalität, Regeln, Konventionen zu bestätigen und, im besten Fall, neu auszuhandeln. Tergits Gerichtsreportagen suchen, wie ihr erster Roman, „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, ein Überraschungserfolg des Jahres 1931, auch, darüber hinaus das Charakteristische der Gegenwart zu erfassen. 1927 begann Gabriele Tergit ihren ungewöhnlich langen Bericht über einen Femeprozess: „Moabit ist seit einigen Jahren Quelle für die Erkenntnis der Zeit. Nicht mehr um die individuelle Tat des Einzelnen, die Sensation einer saturierten Gesellschaft, um zeitlos menschliche Triebe …, um die Erbschaft, die Geliebte, das Kind handelt es sich, sondern das typische Geschehen selber, die Epoche, res gestae steht vor Gericht.“
Aus dieser Perspektive schrieb sie Gerichtsreportagen, die auch heute nicht antiquiert wirken, sondern – wie gute Literatur – unterhalten, empören, aufklären, die Bekanntschaft mit den Menschen vertiefen.
Gabriele Tergit: Vom Frühling und von der Einsamkeit. Reportagen aus den Gerichten. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020. 368 Seiten, 28 Euro.
Es geht um Heiratsschwindel,
üble Nachrede, Intrigen,
Meineid und politische Gewalt
Nicht mehr um die
individuelle
Tat des Einzelnen (…)
handelt es sich,
sondern das typische
Geschehen selber,
die Epoche, res gestae
steht vor Gericht.“
25. MÄRZ 1927
Gabriele Tergit (1894–1982)
berichtete auch über den Prozess
gegen Hugo Stinnes, 1929.
Blick in den Gerichtssaal in
Berlin-Moabit (links).
Fotos: SZ/Scherl/ Jens Brüning/ Schöffling & Co
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»Keine deutschsprachige Journalistin der 20er Jahre beobachtete genauer und formulierte treffender ... Ein weiblicher Alfred Polgar - nur leidenschaftlicher.«Michael Bauer, Focus»Reportagen, die immer noch fesseln können« Engelbrecht Böse, ekz»In all den kurzen Berichten beleuchtet Tergit vor allem das Milieu, aus dem die Angeklagten kamen. Und sie stellt stets auch die widrige Zeit in Rechnung« Bernd Noack, Neue Zürcher Zeitung»Genau zu beobachten und als bemerkenswert herauszuarbeiten, was andere offenbar für normal hielten und übergingen, das war ihre große Stärke.« Markus Hesselmann, Der Tagesspiegel