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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2023

Amerikanischer Feudalismus
Als die Patriarchen ihre Rechnungen mit Whiskey beglichen: Jeannette Walls’ Prohibitions-Roman „Vom Himmel die Sterne“.
Einmal muss dann doch die Nationalgarde ran. Der Gouverneur schickt sie, um die blutigen Kämpfe im County Claiborne zu beenden, zwischen den Schwarzbrennern in den Bergen und ein paar gottesfürchtigen Bürgern, die mit fanatischer Überzeugung das staatliche Alkoholverbot der Prohibition durchsetzen wollen. Sie haben einen Haufen Männer um sich geschart, schwer bewaffnet und mit dem Recht ausgestattet, Verhaftungen vorzunehmen.
Der Sheriff des Countys steht eher aufseiten der Schmuggler, auch finanziell. Die Schmuggler haben sich in einem Krankenhaus verbarrikadiert, die Übermacht ist groß, die Lage aussichtslos – bis die Nationalgarde kommt. Es sind die Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, im amerikanischen Bundesstaat Virginia, in der Nähe der viel besungenen Blue Ridge Mountains. Die junge Sallie Kincaid kämpft auf der Seite der Schmuggler, sie hat ihr Repetiergewehr dabei und wartet auf den Angriff, neben ihr steht Billy Bond, das Oberhaupt der Brüder Bond, eines Macho-Haufens Alkoholschmuggler. Sie sind Sallie und ihrer Familie eigentlich spinnefeind, einer alten Familiengeschichte wegen, jetzt aber sind sie gegen den religiös-staatlichen Zugriff vereint. Monate später wird diese Feindschaft eskalieren, mit Terror und Explosionen, auch einen Angriff mit einem Flugzeug wird es geben, mit Sallie als Bombenschützin. Von solchen Zweckbündnissen lebt dieser Roman, Anziehungen und Abstoßungen machen seinen Rhythmus aus. Ehen werden geschlossen, gehen in die Brüche, Menschen verlassen die Heimat, kommen ins Elternhaus zurück. In seinem Verlauf werden immer neue familiäre Zusammenhänge und Beziehungen freigelegt. Hilfsbedürftige, Sitzengelassene, Ausgegrenzte, Wurzellose werden zusammengebracht, zu einer neuen Form von Familie, „die du aus Teilen zusammensetzt“, die nirgendwo sonst hingehören.
Sallie ist die Tochter von Hank Kincaid, dem Herrn des County, der von allen der „Duke“ genannt wurde. Er hat das County im Griff – ein Imperium, aber der Begriff wäre zu stark auf die Machtstrukturen konzentriert, im Roman von Jeannette Walls werden diese mit Leben gefüllt. Die Ordnung des Duke ist archaisch, also sehr pragmatisch. Er regelt das Leben der Bewohner, bestimmt den Sheriff, baut Straßen, besitzt einen großen Teil der Wohnungen und kassiert Mieten, sehr flexibel und moderat, gewährt Aufschub, wenn die Menschen nicht zahlungsfähig sind. Das Zentrum seiner Herrschaft ist die Kaufhalle, wo alles zu haben ist – und ein großer Teil der Geschäfte läuft hier über Naturalien und den selbstgebrannten Whiskey. Gelebtes law and order. Der Duke achtet durchaus die Gesetze – die eigenen, nicht unbedingt die staatlichen. Es ist ein amerikanischer Feudalismus, der hier herrscht, direkt aus der Zeit der Südstaaten übernommen. Sallies Großvater war im Bürgerkrieg ein Konföderiertenoffizier, man nannte ihn den Colonel.
Annäherungen und Abstoßungen ... Auch der Duke wünscht sich einen Nachfolger, aber erst seine dritte Frau hat ihm einen Sohn geboren, Sallies Halbbruder Eddie. Sallie wird als Teenager ins „Exil“ geschickt, weil sie einen schlechten Einfluss auf Eddie haben könnte. Neun Jahre muss sie dort in den Bergen bleiben, erst nach dem Tod der Stiefmutter wird sie zurückgeholt. Auf der Trauerfeier kommt es durch eine unselige Kette von Zufällen zu Beleidigung und Streit zwischen zwei Männern, einer wird erstochen. Auch das regelt der Duke, auf sehr eigene Weise: „In so einem Fall brauchen wir kein Gerichtsverfahren. Würde die Steuerzahler nur unnötig viel Geld kosten, und die Steuerzahler sind wir.“
Geschichten von Vätern und Töchtern sind eher die Ausnahme in der Literatur. Der Duke ist für Sallie der größte Held, der ihr die Sterne vom Himmel holt. Nach seinem frühen Tod (bei einem Brückensprung) gibt es einige Verwandte, die an seine Stelle treten, mit mehr oder weniger Geschick, aber letzten Endes wird sich Sallie – rothaarig, kurz geschnittenes Haar, in Hosen – als die Richtige für den Job erweisen: die Geschichte einer ganz selbstverständlichen, natürlichen Emanzipation, der einer Frau, der eines Landes.
Sallies treue Begleiterin ist Lizzie, ein Auto. Sie hat früh fahren gelernt, hat lange für den Duke chauffiert. „Das Wahlrecht zu bekommen, war gut und schön, aber es sind Autos und Straßen, die das Leben von Frauen am stärksten verändert haben, weil sie ihnen die Freiheit gaben zu fahren, wohin sie wollten, ohne dafür die Hilfe eines Mannes zu brauchen, der das Pferd vor den Wagen spannt.“ Im Weltkrieg hatten die Frauen die Arbeit der abwesenden Männer übernehmen müssen, nach deren Heimkehr wollten sie diese für die neue Unabhängigkeit nicht wieder aufgeben. Sie bleiben offen, voller Neugier für die Vergangenheit oder die Zukunft. Aus dem Terminkalender einer Frau: „Goldener Schnitt, Fibonacci-Folge, Sonnenflecken, Teleskop, Galileo, Rom, Cäsar.“
Sallie erzählt selbst ihre Geschichte, ganz präsentisch, ohne Raum für Reflexion. Ihre Weltsicht ist naiv und nüchtern, mit wenigen pathetischen Ausbrüchen, wenn es um die Beziehung zum geliebten Vater geht, die Ordnung in der Familie, Mutterschaft, Treue, Geschäft und Politik, Einsamkeit und Armut. „Ich bin qualifiziert, über jemand zu schreiben, der in den Zwanzigern lebte“, sagt Jeannette Walls, „weil ich ohne Elektrizität und sanitäre Anlagen im Haus aufwuchs.“ Die Familie lebte in erbärmlichen Verhältnissen, der Vater war oft ohne Arbeit. Walls hat über diese Jugend geschrieben in ihrem Bestseller „Schloss aus Glas“, der verfilmt wurde mit Woody Harrelson, Brie Larson und Naomi Watts.
Elektrizität, fließendes Wasser, Heizungen ... Die technischen Verbesserungen der Lebensqualität in den Zwanzigern bedeuten in diesem Buch einen radikalen Umsturz ähnlich den neuen Technologien heute. Als das Geschäft mit dem selbstgebrannten Whiskey immer stärker floriert, liefert Sallie in die nächste große Stadt Roanoke. Dann kommt sie auch in die Bundeshauptstadt Richmond, in eine unvorstellbare Explosion des Luxus.
Die Assoziationen und Allianzen durchdringen das Leben der Zwanziger ganz und gar. Sallies Halbbruder Eddie machte sich daran, die Encyclopedia Britannica im Haus des Vaters zu lesen, nicht von vorn nach hinten, sondern einen Eintrag, dann einen weiteren, der daran anknüpft, und so weiter. „Wenn ich irgendwann alle durchhabe, ist das der Beweis dafür, dass alles mit allem zusammenhängt.“
FRITZ GÖTTLER
Elektrizität, Heizungen,
fließendes Wasser: Der
technische Fortschritt rast
Jeannette Walls:
Vom Himmel die Sterne.
Aus dem Englischen
von Ulrike Wasel
und Klaus Timmermann.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2022.
447 Seiten, 25 Euro.
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»Jeannette Walls' Meisterwerk. Ein spannender Ritt durch die Prohibition und den Wandel im amerikanischen Süden.« Adriana Trigiani

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In der Zeit der Prohibition ist Jeannette Walls' Roman angesiedelt, verrät Rezensent Fritz Göttler über die Geschichte von Vater und Tochter. Der "Duke" hat das County, in dem sie leben, im Griff und kontrolliert die Geschäfte, verrät Göttler in seiner Besprechung, die überwiegend Inhaltsangabe ist. Tochter Sallie lässt sich mit Schmugglern ein, verehrt den Vater und wird letztlich dessen Nachfolgerin, erfahren wir. Eine Geschichte, die von "Allianzen und Assoziationen" lebt und für die sich die Autorin eignet, zitiert Göttler die Autorin, war sie doch selbst in einem Haus ohne Technologie und Sanitäre Anlagen aufgewachsen; eine Erfahrung, die sich durchaus mit den Zwanziger Jahren vergleichen lasse.

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