Louis Kaplan bestellt ein vielfach umgepflügtes Feld, das spätestens seit Sigmund Freuds Behandlung des jüdischen Witzes in seiner Studie Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten von 1905 zu einer regelrechten Wissenschaft geworden ist: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschien eine ganze Reihe von mal philosophischen, mal psychoanalytischen, mal soziologischen Abhandlungen, die allesamt zum Ziel hatten, den Zauber oder Gehalt dessen zu erklären, was den Schreibern Rätsel aufgab: das »vielgestaltige Wesen des jüdischen Witzes«. Diesen kulturhistorischen, politisch-literarischen und geistesgeschichtlichen Verwicklungen geht Kaplan nach. Er erzählt eine vor allem jüdisch-deutsche Geschichte von Assimilation und Ausgrenzung, Emanzipation und Übernahme kultureller »Codes« und nicht zuletzt vom Antisemitismus, der an der unbestimmten Grenze zwischen »jüdischem Witz« und »Judenwitz« wuchs und gedieh. Das 19. Jahrhundert und das erste Drittel des 20. Jahrhunderts sind in deutschsprachigen Ländern voll von Witzbüchern, Kabarettstücken und ganzen Vaudeville-Programmen, die eine je unterschiedliche Art dessen vorstellen, was als »jüdischer« Schalk und Scherz vorgestellt - oder dafür gehalten worden ist. Der Vorwurf an die Adresse der jüdischen Schwank- und Witzerzähler lautete zu jeder Epoche gleich: dass sie nämlich mit ihren selbstironischen oder gegen sich und andere Juden gerichteten Späßen den Antisemiten Waffen an die Hand gäben. Noch in den 1960er-Jahren entbrannte um das Erfolgsbuch Der jüdische Witz von Salcia Landmann eine öffentliche Kontroverse um die Frage, ob Landmanns Anthologie nicht in plumpester Weise antisemitische Klischees reproduziere. Der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und Europa zum Trotz haben sich die verschiedenen Varianten jüdischer Komik ihre Widerständigkeit bewahrt: In ihren modernen Formen in der Populärkultur unserer Tage (etwa den filmischen Husarenstücken von Sacha Baron Cohen oder Jon Stewarts The Daily Show) erkennt Kaplan die bittere Ironie jüdischer Witzbücher aus den 1920er-Jahren wieder - wie auch der zeitgenössische jüdische Humor in den USA ein wichtiger Bezugspunkt des Buches ist. Im chronologischen Fortschreiten durch sein üppiges Material (neben Texten vor allem Bilder und Karikaturen) ordnet Kaplan uns das Wissen um eine Kulturtechnik, die so nur unter den Bedingungen der Diaspora entstehen konnte. In sechs Kapiteln besieht Kaplan die Weimarer und die österreichische Republik (1918-1933), das Dritte Reich (1933-1945) und die Zeit nach der Shoah (1945-1964) und präsentiert uns zentrale Texte und Schlüsselstellen in der Geschichte jüdisch-deutschen Kulturtransfers.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Alexandra Wach liest das Buch des Medientheoretikers Louis Kaplan mit Interesse. Die Geschichte des jüdischen Witzes misst der Autor laut Wach großzügig aus, von Salomon Aschers Witzbuch von 1810 über Freud bis zu den Shitstorms gegen jüdische Comedians. Erhellend findet Wach Kaplans Darstellung unter anderem, weil der Autor (etwa bei Siegfried Kadner) die Ambivalenz des jüdischen Witzes herausarbeitet zwischen Selbstironie und Antisemitismus. Wie sich diese auch nach der Schoa fortsetzt, zum Beispiel in "kathartischen" Witzen über das deutsch-jüdische Verhältnis, erfährt Wach im Buch auch.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2021Diese Pointen eignen sich als gefährliche Waffe
Auf den Spuren eines mehrdeutigen Sprechakts: Louis Kaplan lässt die Geschichte des jüdischen Witzes Revue passieren
Thomas Mann lernte den deutsch-jüdischen Soziologen und Schriftsteller Erich Kahler 1919 kennen. In den Vereinigten Staaten, wohin beide emigrierten, standen sie im regen Briefkontakt. Als sich Mann 1951 für eine Rückkehr nach Europa entschied, schrieb ihm Kahler einen jüdischen Witz: "Zwei Freunde fahren über den Atlantik, der eine von Europa nach Amerika, der andere von Amerika nach Europa. In der Mitte des Ozeans treffen sich die Schiffe und fahren aneinander vorbei. Die Freunde stehen an der Reling, erkennen einander und rufen beide unisono dasselbe hinüber: 'Bist du wahnsinnig?'"
Mann, der Kahlers Buch "Israel unter den Völkern" von 1936 kannte, in dem sich dieser auch den Eigenarten des jüdischen Witzes widmete, antwortete, ihm komme der westlich Segelnde noch etwas wahnsinniger vor, "denn, möge auch die Schweiz so amerikanisch fromm sein, wie sogar einzelne Amerikaner es nicht sind, so ist mir doch, als käme allgemein die europäische Mentalität der hiesigen an barbarischem Infantilismus nicht gleich".
Mann teilte Kahlers Meinung, man könne unterscheiden zwischen der jüdischen "ironischen Urgewitztheit", die das Heimweh und Leid lindere, und der "Fleischesseele" der Deutschen, deren Humor schwerfällig und plump sei. Für Kahler war der jüdische Witz indes nicht nur ein Studienobjekt, sondern "ein kulturelles Symptom des generellen deutsch-jüdischen interkulturellen Verhältnisses", schreibt Louis Kaplan, Professor für Geschichte und Fotografie- und Medientheorie an der University of Toronto, in seinem Buch "Vom jüdischen Witz zum Judenwitz". Weshalb Kahler es auch als fatales Signal ansah, wenn jüdische Witze am Vorabend der deutschen Katastrophe nicht mehr geschätzt wurden: "Ein unverstandener, ungebilligter Witz aber ist nicht nur sinnlos, er wird sofort gefährlich. Er schafft eine Kälte, einen Hohlraum zwischen den Menschen, ein Absacken des einen gegen den andern und ein jähes Gefühl von Verlassen- und Verlorensein."
Kaplan lässt die Geschichte des jüdischen Witzes in einem großen Bogen Revue passieren: von dem 1810 von Salomon Ascher verfassten Witzbuch "Der Judenfreund oder Auserlesene Anekdoten, Schwänke und Einfälle von den Kindern Israels" bis zu Sigmund Freuds Abhandlung über den "Witz und seine Beziehung zum Unbewussten", dessen Autor dem jüdischen Witz das Spezifikum attestierte, dass sich der Sprecher über vermeintlich jüdische Verhaltensweisen lustig mache.
Dagegen wäre eigentlich nichts einzuwenden, wenn die im Wortspiel geäußerte Autokritik nicht mit Vorliebe von Antisemiten gegen den Witze-Erzähler als Waffe gerichtet würde. Dies zumal, wenn er Klischees in der Schwebe der Uneindeutigkeit belässt, was etwa in den 1920er-Jahren Berliner Kabarettisten wie Kurt Robitschek taten und damit Versuche der Zensur aus den eigenen Reihen des jüdischen Central-Vereins auf den Plan riefen.
Kaplan begibt sich in sechs Kapiteln auf die Spur dieses ambivalenten Sprechakts, der auch unter dem Stichwort "jüdischer Selbsthass" subsumiert wird. Jedes Kapitel wirft ein Schlaglicht auf einen Akteur, der, auf dem schmalen Grat zwischen jüdischer Selbstironie und Antisemitismus balancierend, seine ganz persönlichen Schlüsse gezogen hatte, darunter Arthur Trebitsch, konvertierter Sohn eines jüdischen Seidenhändlers in Wien, der die NSDAP in ihrer Anfangszeit finanziell unterstützte.
Adolf Hitler überlegte sogar, Trebitsch zum Chefideologen der Partei zu küren, denn Letzterer war sich nicht zu schade, "die Strategien des jüdischen Witzes ganz unwillkürlich selbst anzuwenden, ganz entgegen seiner Absicht - und möglicherweise auch, um von sich selbst abzusehen", wie Kaplan schreibt.
Dieser Gefahr setzte sich Eduard Fuchs, reicher Kunstsammler und zugleich Mitglied der kommunistischen Partei, 1921 mit der Veröffentlichung von "Die Juden in der Karikatur" nicht aus. Die zwei Bände bildeten die Grundlage für weitere kulturhistorische Beschäftigungen mit einer Gattung, die auf die visuelle Wirkkraft setzte - ganz nach dem Geschmack von Hitler, auf dessen Wahlplakat zur deutschen Nationalversammlung von 1919 Fuchs mit den Worten einging: "Die ziemlich albern in die Welt schauende Maid, durch die auf diesem Plakat das germanische Deutschland verkörpert sein soll, dürfte anspruchsvollen Gemütern freilig ebenso wenig imponieren, wie die danebenstehende häßliche Judenfratze."
Ein frommer Wunsch, den Kaplan in dem Kapitel über den NS-Propagandisten Siegfried Kadner und dessen Buch "Rasse und Humor" zerpflückt, indem er die Funktion des aggressiven Auslachens für die NS-Propaganda ins Visier nimmt. Ohnehin war Kadner der Meinung, jüdische Witze seien Konstruktionen, eine Art Gymnastik des Geistes, die dem Deutschen völlig abginge. Um sie gegen Juden einzusetzen, eigneten sie sich aber durchaus.
Die Geschichte von der Janusköpfigkeit des jüdischen Witzes setzte sich nach der Schoa in Deutschland fort, als neue Witzbücher, etwa das überaus erfolgreiche von Salcia Landmann, zur Bühne für ein "kollektives kathartisches Lachen" umfunktioniert wurden, um das tabuisierte deutsch-jüdische Trauma ansprechen zu können, es aber gleichzeitig auch verharmlosend ins Lächerliche zu ziehen. Dies meinte zumindest der österreichische Schriftsteller Friedrich Torberg, selbst Jude: "Gott erhalte den Deutschen ihre Verkrampfung, eh daß sie sich mit Hilfe dieses Buches löse! Denn es wäre eine höchst unheilvolle und ihrerseits verkrampfte Lösung."
Kaplan beendet seine erhellende Forschungsreise in der digitalen Gegenwart. Er berichtet von Shitstorms gegen konsenssprengende jüdische Comedians und neonazistische Websites wie The Daily Stormer, die sich darin gefällt, die Rolle des Antisemiten ironisch zu brechen. In diesem Fall darf man Leuten, die Witze über sich selbst machen, tatsächlich nicht trauen. ALEXANDRA WACH
Louis Kaplan: "Vom jüdischen Witz zum Judenwitz". Eine Kunst wird entwendet.
Aus dem Englischen von Jacqueline Csuss. Die Andere Bibliothek, Berlin, 2021. 300 S., Abb., geb., 44,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf den Spuren eines mehrdeutigen Sprechakts: Louis Kaplan lässt die Geschichte des jüdischen Witzes Revue passieren
Thomas Mann lernte den deutsch-jüdischen Soziologen und Schriftsteller Erich Kahler 1919 kennen. In den Vereinigten Staaten, wohin beide emigrierten, standen sie im regen Briefkontakt. Als sich Mann 1951 für eine Rückkehr nach Europa entschied, schrieb ihm Kahler einen jüdischen Witz: "Zwei Freunde fahren über den Atlantik, der eine von Europa nach Amerika, der andere von Amerika nach Europa. In der Mitte des Ozeans treffen sich die Schiffe und fahren aneinander vorbei. Die Freunde stehen an der Reling, erkennen einander und rufen beide unisono dasselbe hinüber: 'Bist du wahnsinnig?'"
Mann, der Kahlers Buch "Israel unter den Völkern" von 1936 kannte, in dem sich dieser auch den Eigenarten des jüdischen Witzes widmete, antwortete, ihm komme der westlich Segelnde noch etwas wahnsinniger vor, "denn, möge auch die Schweiz so amerikanisch fromm sein, wie sogar einzelne Amerikaner es nicht sind, so ist mir doch, als käme allgemein die europäische Mentalität der hiesigen an barbarischem Infantilismus nicht gleich".
Mann teilte Kahlers Meinung, man könne unterscheiden zwischen der jüdischen "ironischen Urgewitztheit", die das Heimweh und Leid lindere, und der "Fleischesseele" der Deutschen, deren Humor schwerfällig und plump sei. Für Kahler war der jüdische Witz indes nicht nur ein Studienobjekt, sondern "ein kulturelles Symptom des generellen deutsch-jüdischen interkulturellen Verhältnisses", schreibt Louis Kaplan, Professor für Geschichte und Fotografie- und Medientheorie an der University of Toronto, in seinem Buch "Vom jüdischen Witz zum Judenwitz". Weshalb Kahler es auch als fatales Signal ansah, wenn jüdische Witze am Vorabend der deutschen Katastrophe nicht mehr geschätzt wurden: "Ein unverstandener, ungebilligter Witz aber ist nicht nur sinnlos, er wird sofort gefährlich. Er schafft eine Kälte, einen Hohlraum zwischen den Menschen, ein Absacken des einen gegen den andern und ein jähes Gefühl von Verlassen- und Verlorensein."
Kaplan lässt die Geschichte des jüdischen Witzes in einem großen Bogen Revue passieren: von dem 1810 von Salomon Ascher verfassten Witzbuch "Der Judenfreund oder Auserlesene Anekdoten, Schwänke und Einfälle von den Kindern Israels" bis zu Sigmund Freuds Abhandlung über den "Witz und seine Beziehung zum Unbewussten", dessen Autor dem jüdischen Witz das Spezifikum attestierte, dass sich der Sprecher über vermeintlich jüdische Verhaltensweisen lustig mache.
Dagegen wäre eigentlich nichts einzuwenden, wenn die im Wortspiel geäußerte Autokritik nicht mit Vorliebe von Antisemiten gegen den Witze-Erzähler als Waffe gerichtet würde. Dies zumal, wenn er Klischees in der Schwebe der Uneindeutigkeit belässt, was etwa in den 1920er-Jahren Berliner Kabarettisten wie Kurt Robitschek taten und damit Versuche der Zensur aus den eigenen Reihen des jüdischen Central-Vereins auf den Plan riefen.
Kaplan begibt sich in sechs Kapiteln auf die Spur dieses ambivalenten Sprechakts, der auch unter dem Stichwort "jüdischer Selbsthass" subsumiert wird. Jedes Kapitel wirft ein Schlaglicht auf einen Akteur, der, auf dem schmalen Grat zwischen jüdischer Selbstironie und Antisemitismus balancierend, seine ganz persönlichen Schlüsse gezogen hatte, darunter Arthur Trebitsch, konvertierter Sohn eines jüdischen Seidenhändlers in Wien, der die NSDAP in ihrer Anfangszeit finanziell unterstützte.
Adolf Hitler überlegte sogar, Trebitsch zum Chefideologen der Partei zu küren, denn Letzterer war sich nicht zu schade, "die Strategien des jüdischen Witzes ganz unwillkürlich selbst anzuwenden, ganz entgegen seiner Absicht - und möglicherweise auch, um von sich selbst abzusehen", wie Kaplan schreibt.
Dieser Gefahr setzte sich Eduard Fuchs, reicher Kunstsammler und zugleich Mitglied der kommunistischen Partei, 1921 mit der Veröffentlichung von "Die Juden in der Karikatur" nicht aus. Die zwei Bände bildeten die Grundlage für weitere kulturhistorische Beschäftigungen mit einer Gattung, die auf die visuelle Wirkkraft setzte - ganz nach dem Geschmack von Hitler, auf dessen Wahlplakat zur deutschen Nationalversammlung von 1919 Fuchs mit den Worten einging: "Die ziemlich albern in die Welt schauende Maid, durch die auf diesem Plakat das germanische Deutschland verkörpert sein soll, dürfte anspruchsvollen Gemütern freilig ebenso wenig imponieren, wie die danebenstehende häßliche Judenfratze."
Ein frommer Wunsch, den Kaplan in dem Kapitel über den NS-Propagandisten Siegfried Kadner und dessen Buch "Rasse und Humor" zerpflückt, indem er die Funktion des aggressiven Auslachens für die NS-Propaganda ins Visier nimmt. Ohnehin war Kadner der Meinung, jüdische Witze seien Konstruktionen, eine Art Gymnastik des Geistes, die dem Deutschen völlig abginge. Um sie gegen Juden einzusetzen, eigneten sie sich aber durchaus.
Die Geschichte von der Janusköpfigkeit des jüdischen Witzes setzte sich nach der Schoa in Deutschland fort, als neue Witzbücher, etwa das überaus erfolgreiche von Salcia Landmann, zur Bühne für ein "kollektives kathartisches Lachen" umfunktioniert wurden, um das tabuisierte deutsch-jüdische Trauma ansprechen zu können, es aber gleichzeitig auch verharmlosend ins Lächerliche zu ziehen. Dies meinte zumindest der österreichische Schriftsteller Friedrich Torberg, selbst Jude: "Gott erhalte den Deutschen ihre Verkrampfung, eh daß sie sich mit Hilfe dieses Buches löse! Denn es wäre eine höchst unheilvolle und ihrerseits verkrampfte Lösung."
Kaplan beendet seine erhellende Forschungsreise in der digitalen Gegenwart. Er berichtet von Shitstorms gegen konsenssprengende jüdische Comedians und neonazistische Websites wie The Daily Stormer, die sich darin gefällt, die Rolle des Antisemiten ironisch zu brechen. In diesem Fall darf man Leuten, die Witze über sich selbst machen, tatsächlich nicht trauen. ALEXANDRA WACH
Louis Kaplan: "Vom jüdischen Witz zum Judenwitz". Eine Kunst wird entwendet.
Aus dem Englischen von Jacqueline Csuss. Die Andere Bibliothek, Berlin, 2021. 300 S., Abb., geb., 44,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main