Die erste umfassende Analyse des Niedergangs der jahrhundertealten Herrschaftselite des deutschen Adels. Die Selbstzerstörung adliger Traditionen und Werte, die im Kaiserreich mit der Annäherung an rechtsradikale Bewegungen beginnt, kulminiert in der widersprüchlichen Mitwirkung in der NS-Bewegung. Ausgezeichnet mit dem Hans-Rosenberg-Preis 2004.
In Lampedusas Roman Der Leopard läßt der adlige Autor seinen sizilianischen Roman-Fürsten Salina einen seither berühmten Satz über den Rückzug des Adels sprechen: „Wir waren die Leoparden, die Löwen: unseren Platz werden die kleinen Schakale einnehmen, die Hyänen.“ Stephan Malinowski untersucht in seinem Buch, ob sich diese Metapher auf die Schlußkapitel der deutschen Adelsgeschichte übertragen läßt.
Für den deutschen Adel war der Weg vom König zum Führer weit und alles andere als selbstverständlich. Der Autor stellt in seinem Buch den Entwicklungsprozeß dar, in dem sich unterschiedliche Gruppen des Adels von den traditionellen Leitbildern des Konservativismus ab- und einer neuformierten Rechten zuwandten, die weitgehend außerhalb des Adels entstanden war. Der soziale Niedergang, verbunden mit der zunehmenden Auflösung der traditionellen adligen Lebenswelten, und die politische Radikalisierung großer Teile des Adels werden als zwei eng miteinander verknüpfte Prozesse interpretiert. Gestützt auf ein breites Fundament von ungedruckten Quellen wird hier zum ersten Mal genauer untersucht, welche Teilgruppen des Adels die Annäherung an die Neue Rechte – und schließlich den Nationalsozialismus – getragen und welche sich ihr entzogen haben. Der Untersuchungszeitraum reicht vom Kaiserreich bis zur Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft im Jahre 1934 und ist damit lang genug, um Entwicklungslinien und Wendepunkte gleichermaßen beschreiben zu können.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
In Lampedusas Roman Der Leopard läßt der adlige Autor seinen sizilianischen Roman-Fürsten Salina einen seither berühmten Satz über den Rückzug des Adels sprechen: „Wir waren die Leoparden, die Löwen: unseren Platz werden die kleinen Schakale einnehmen, die Hyänen.“ Stephan Malinowski untersucht in seinem Buch, ob sich diese Metapher auf die Schlußkapitel der deutschen Adelsgeschichte übertragen läßt.
Für den deutschen Adel war der Weg vom König zum Führer weit und alles andere als selbstverständlich. Der Autor stellt in seinem Buch den Entwicklungsprozeß dar, in dem sich unterschiedliche Gruppen des Adels von den traditionellen Leitbildern des Konservativismus ab- und einer neuformierten Rechten zuwandten, die weitgehend außerhalb des Adels entstanden war. Der soziale Niedergang, verbunden mit der zunehmenden Auflösung der traditionellen adligen Lebenswelten, und die politische Radikalisierung großer Teile des Adels werden als zwei eng miteinander verknüpfte Prozesse interpretiert. Gestützt auf ein breites Fundament von ungedruckten Quellen wird hier zum ersten Mal genauer untersucht, welche Teilgruppen des Adels die Annäherung an die Neue Rechte – und schließlich den Nationalsozialismus – getragen und welche sich ihr entzogen haben. Der Untersuchungszeitraum reicht vom Kaiserreich bis zur Konsolidierung der nationalsozialistischen Herrschaft im Jahre 1934 und ist damit lang genug, um Entwicklungslinien und Wendepunkte gleichermaßen beschreiben zu können.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.08.2003Aristokratendämmerung
Stephan Malinowskis glänzende Studie über den deutschen Adel zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus
„Nun danket alle Gott!” Erleichtert begrüßte der mecklenburgische Landedelmann Andreas Graf Bernstorff die „nationale Erhebung”, die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Landauf, landab, in deutschen Schlössern und Herrenhäusern, fielen Adelige in den Choral ein. Es folgten Parteieintritte oder Aufnahmegesuche in SA, SS und andere NS-Formationen. Kaum eine adelige Familie, insbesondere im Adel Ostelbiens, blieb ohne Parteimitglied, und die Namen, die wir gemeinhin mit dem 20. Juli 1944 in Verbindung bringen, machen da keine Ausnahme: 41 Schulenburgs gehörten der NSDAP an, davon 17 schon vor 1933, 30 Tresckows, 27 Hardenbergs oder 52 Schwerins.
In diesen Zahlen wird eine Dimension deutscher Adelsgeschichte im 20. Jahrhundert sichtbar, über die wir nur wenig wissen. Dass der Adel selbst, in seinen Familiengeschichten, Memoiren und Autobiographien, seiner – um es milde zu sagen – Affinität zum Nationalsozialismus keinen breiten Raum gab, ist verständlich. Dass aber auch die Geschichtswissenschaft bis vor kurzem das Thema weitgehend marginalisiert hat, bedarf schon der Erklärung. Denn die Omnipräsenz des Adels in allen Studien zur deutschen Geschichte zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich” ist alles andere als gleichbedeutend mit ihrer systematischen Erforschung.
Charakter statt Bildung
Für Stephan Malinowski, einem jungen Berliner Historiker, der nun die bislang umfassendste Untersuchung des Verhältnisses von Adel und Nationalsozialismus vorgelegt hat, rührt das Defizit nicht zuletzt aus zentralen Interpretationsmustern der These vom deutschen Sonderweg in die Moderne, die von den späten 60ern bis in die 90er Jahre die deutsche Geschichtsschreibung maßgeblich bestimmt hat. Dazu gehören insbesondere die These von der Feudalisierung des Bürgertums und, darauf aufbauend, der Hinweis auf die unheilvolle Rolle des Adels in den Machteliten der Weimarer Republik.
Aber war der Adel bei der Zerstörung der Republik und der Schaffung jenes Machtvakuums, in welches der aufsteigende Nationalsozialismus stoßen konnte, tatsächlich eine manipulationsmächtige Kraft? Sicher, im Blick auf einzelne Personen und lokale oder regionale Entwicklungen wird man immer wieder die Möglichkeiten und Formen adeliger Machtausübung und Einflussnahme identifizieren können. Insgesamt jedoch, daran lässt die Studie Malinowskis keinen Zweifel, war der Adel in jener soziopolitischen Radikalisierung, die zu den zentralen Bedingungen der NS-Machtübernahme gehört, keine treibende, sondern eine getriebene Kraft.
Um so argumentieren zu können, muss man zunächst die relativ kleine Gruppe des reichen und sozial stabilen, meist großgrundbesitzenden alten Adels, darunter nicht zuletzt hochadelige und standesherrliche Familien, idealtypisch unterscheiden von einem Kleinadel, der zwar noch Land besaß, aber nicht in der Lage war, Töchter und nachgeborene Söhne materiell abzusichern, sowie von einem stetig wachsenden Adelsproletariat, welches sich aus eigener Kraft nicht mehr versorgen konnte.
Vor allem die beiden letzten Gruppen, die zahlenmäßig das Gros des deutschen Adels ausmachten, nimmt Malinowski in den Blick. Und es gelingt ihm zu zeigen, dass diese Teile des Adels als eindeutige Verlierer von Modernisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts nicht den Schulterschluss oder zumindest die Annäherung an das aufsteigende Bürgertum suchten – dazu fehlten nicht zuletzt Bildung und Geld –, sondern dass gerade dieser Adel sich habituell isolierte und diese Absonderung schon bald ideologisch überhöhte. Die so Gestalt annehmende habituelle, mentalitäre und ideologische „Adeligkeit”, ein zentraler Analysebegriff der Studie, bezog sich nur noch negativ auf das Bürgertum, das als Gegenbild und Gegenwelt herhalten musste. Adeligkeit wurde Anti-Bürgerlichkeit, wie es sich in den Gegensatzkonstruktionen Land versus Stadt, Charakter versus Bildung oder Kargheit versus Reichtum äußerte. Die Negativbezüge dieser Gegensätze, die Kritik am Bürgertum, seinen Lebensformen und, allgemeiner, einer als bürgerlich und adelsfeindlich empfundenen Welt bündelten sich in einem scharfen Antisemitismus, der auch in die Wahrnehmung und Erklärung des modernen Kapitalismus einging.
Freilich war dieser adelige Antisemitismus, eben weil er nicht spezifisch adelig war, vielfach anschlussfähig. Er schuf Brücken zwischen Adelsverbänden wie der Deutschen Adelsgenossenschaft (DAG) und jenen völkischen Verbänden und Gruppierungen der Neuen Rechten, die seit den 1880er Jahren in Deutschland wie Pilze aus dem Boden schossen und in denen sich nicht wenige Adelige engagierten.
Das gilt primär, wenn auch nicht ausschließlich, für den Adel im ostelbischen Preußen, der indes zahlenmäßig den deutschen Adel dominierte. Für den Adel des Südens und Südwestens hingegen, dem sich Malinowski ebenfalls über seine Standesorganisationen nähert, etwa die Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern, ist eine völkisch-antisemitische Radikalisierung ostelbischen Musters flächendeckend nicht nachzuweisen. Am ehesten hier, wo auch die alten standesherrlichen Familien das Bild des Adels mitbestimmten, bildeten sich Ansätze eines politisch-ideologischen Adelskonservatismus heraus, die vom Gedankengut der Neuen Rechten – den widersinnigen Begriff der „Konservativen Revolution” verwirft Malinowski zum Glück – weit entfernt waren.
Wer dies allerdings einfach mit dem Katholizismus erklären will, den belehrt der Blick auf den katholischen Adel Westfalens eines Besseren. Starke Teile dieses Adels, unter anderem im Verband katholischer Edelleute, radikalisierten sich auf eine Weise, die der Entwicklung in der protestantischen DAG in nichts nachstand. Die Gründe dafür bleiben vorerst unklar. Womöglich führen hier nicht konfessionsgeschichtliche Analysen weiter, sondern Fragen nach der Bedeutung von Nationalismus und Partikularismus.
Die zweifelsohne schon im Kaiserreich angelegte und bis zum Ersten Weltkrieg weit fortgeschrittene Radikalisierung wurde durch Kriegsniederlage, Revolution und Republikgründung entscheidend dynamisiert und verschärft. Die sozialen Fundamente adeliger Macht lösten sich endgültig auf, aus kleinadeligem Niedergang wurde vieltausendfach freier Fall. Es ist wenig überraschend, dass dem sozialen Absturz ein militantes Jetzt-erst-recht-Bekenntnis zu adeligem Führertum folgte. Damit aber wurden Brückenschläge möglich zum allgemeinen Führer-Diskurs der 20er Jahre.
Eisernes Buch, deutsche Art
Auch die Rede vom „Neuen Adel”, die das rechte bis rechtsradikale Denken durchzog, bot der alten Aristokratie vielfältige Anschlussmöglichkeiten. So mühte sich – am Ende vergeblich – beispielsweise die Ring-Bewegung um adelig-bürgerliche Elitebildung im Zeichen autoritärer Ordnungskonzepte. Um einen neuen Adel ging es jedoch auch jenen Adeligen, die lange vor 1933 in der Deutschen Adelsgenossenschaft einen Arierparagraphen und eine rassistisch-antisemitische Adelsmatrikel einführten. Aus dem „Semi-Gotha”, der 1912 das Ausmaß der „Verjudung” des Adels anprangern sollte, wurde nach dem Krieg das „Eiserne Buch des deutschen Adels deutscher Art” (EDDA), ein Projekt, das wie kein zweites die völkische Zerstörung des traditionellen Adelsbegriffs und -verständnisses zeigt.
Als Nationalsozialisten wie der spätere Bauernführer Darré begannen, von einem „Neuadel aus Blut und Boden” zu sprechen, war das Denken und Handeln in diesen Kategorien dem alten Adel in Deutschland schon längst nicht mehr fremd, und es bedurfte nur geringer intellektueller Anstrengung, konstitutive Elemente traditioneller Adeligkeit wie die Bindung an das Land und das ausgeprägte Familienbewusstsein als gelebte „Blut-und-Boden”-Ideologie avant la lettre hinzustellen.
Auch der anti-bürgerliche Habitus verband den herabgesunkenen Kleinadel und das Adelsproletariat, wie es die Adelsgenossenschaft repräsentierte, mit dem Nationalsozialismus. Dieser schien überdies Karriere- und Zukunftschancen zu bieten und damit eine Möglichkeit, den sozialen Absturz zu stoppen und endlich wieder ein standesgemäßes Leben führen zu können. Eine solche Einschätzung erklärt das „Bündnis der Eliten”, das Hitler den Weg politisch bahnen half. Mehr noch aber erklärt sie die massenhafte Annäherung von Adeligen an den Nationalsozialismus, welche die braune Macht sozial etablieren und stabilisieren half; jene Annäherung, die in Andreas Graf Bernstorffs „Nun danket alle Gott” ihren individuellen, aber repräsentativen Ausdruck fand – und in Stephan Malinowskis Buch eine glänzende Analyse.
ECKART CONZE
STEPHAN MALINOWSKI: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Akademie Verlag, Berlin 2003. 660 Seiten, 59,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Stephan Malinowskis glänzende Studie über den deutschen Adel zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus
„Nun danket alle Gott!” Erleichtert begrüßte der mecklenburgische Landedelmann Andreas Graf Bernstorff die „nationale Erhebung”, die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933. Landauf, landab, in deutschen Schlössern und Herrenhäusern, fielen Adelige in den Choral ein. Es folgten Parteieintritte oder Aufnahmegesuche in SA, SS und andere NS-Formationen. Kaum eine adelige Familie, insbesondere im Adel Ostelbiens, blieb ohne Parteimitglied, und die Namen, die wir gemeinhin mit dem 20. Juli 1944 in Verbindung bringen, machen da keine Ausnahme: 41 Schulenburgs gehörten der NSDAP an, davon 17 schon vor 1933, 30 Tresckows, 27 Hardenbergs oder 52 Schwerins.
In diesen Zahlen wird eine Dimension deutscher Adelsgeschichte im 20. Jahrhundert sichtbar, über die wir nur wenig wissen. Dass der Adel selbst, in seinen Familiengeschichten, Memoiren und Autobiographien, seiner – um es milde zu sagen – Affinität zum Nationalsozialismus keinen breiten Raum gab, ist verständlich. Dass aber auch die Geschichtswissenschaft bis vor kurzem das Thema weitgehend marginalisiert hat, bedarf schon der Erklärung. Denn die Omnipräsenz des Adels in allen Studien zur deutschen Geschichte zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich” ist alles andere als gleichbedeutend mit ihrer systematischen Erforschung.
Charakter statt Bildung
Für Stephan Malinowski, einem jungen Berliner Historiker, der nun die bislang umfassendste Untersuchung des Verhältnisses von Adel und Nationalsozialismus vorgelegt hat, rührt das Defizit nicht zuletzt aus zentralen Interpretationsmustern der These vom deutschen Sonderweg in die Moderne, die von den späten 60ern bis in die 90er Jahre die deutsche Geschichtsschreibung maßgeblich bestimmt hat. Dazu gehören insbesondere die These von der Feudalisierung des Bürgertums und, darauf aufbauend, der Hinweis auf die unheilvolle Rolle des Adels in den Machteliten der Weimarer Republik.
Aber war der Adel bei der Zerstörung der Republik und der Schaffung jenes Machtvakuums, in welches der aufsteigende Nationalsozialismus stoßen konnte, tatsächlich eine manipulationsmächtige Kraft? Sicher, im Blick auf einzelne Personen und lokale oder regionale Entwicklungen wird man immer wieder die Möglichkeiten und Formen adeliger Machtausübung und Einflussnahme identifizieren können. Insgesamt jedoch, daran lässt die Studie Malinowskis keinen Zweifel, war der Adel in jener soziopolitischen Radikalisierung, die zu den zentralen Bedingungen der NS-Machtübernahme gehört, keine treibende, sondern eine getriebene Kraft.
Um so argumentieren zu können, muss man zunächst die relativ kleine Gruppe des reichen und sozial stabilen, meist großgrundbesitzenden alten Adels, darunter nicht zuletzt hochadelige und standesherrliche Familien, idealtypisch unterscheiden von einem Kleinadel, der zwar noch Land besaß, aber nicht in der Lage war, Töchter und nachgeborene Söhne materiell abzusichern, sowie von einem stetig wachsenden Adelsproletariat, welches sich aus eigener Kraft nicht mehr versorgen konnte.
Vor allem die beiden letzten Gruppen, die zahlenmäßig das Gros des deutschen Adels ausmachten, nimmt Malinowski in den Blick. Und es gelingt ihm zu zeigen, dass diese Teile des Adels als eindeutige Verlierer von Modernisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts nicht den Schulterschluss oder zumindest die Annäherung an das aufsteigende Bürgertum suchten – dazu fehlten nicht zuletzt Bildung und Geld –, sondern dass gerade dieser Adel sich habituell isolierte und diese Absonderung schon bald ideologisch überhöhte. Die so Gestalt annehmende habituelle, mentalitäre und ideologische „Adeligkeit”, ein zentraler Analysebegriff der Studie, bezog sich nur noch negativ auf das Bürgertum, das als Gegenbild und Gegenwelt herhalten musste. Adeligkeit wurde Anti-Bürgerlichkeit, wie es sich in den Gegensatzkonstruktionen Land versus Stadt, Charakter versus Bildung oder Kargheit versus Reichtum äußerte. Die Negativbezüge dieser Gegensätze, die Kritik am Bürgertum, seinen Lebensformen und, allgemeiner, einer als bürgerlich und adelsfeindlich empfundenen Welt bündelten sich in einem scharfen Antisemitismus, der auch in die Wahrnehmung und Erklärung des modernen Kapitalismus einging.
Freilich war dieser adelige Antisemitismus, eben weil er nicht spezifisch adelig war, vielfach anschlussfähig. Er schuf Brücken zwischen Adelsverbänden wie der Deutschen Adelsgenossenschaft (DAG) und jenen völkischen Verbänden und Gruppierungen der Neuen Rechten, die seit den 1880er Jahren in Deutschland wie Pilze aus dem Boden schossen und in denen sich nicht wenige Adelige engagierten.
Das gilt primär, wenn auch nicht ausschließlich, für den Adel im ostelbischen Preußen, der indes zahlenmäßig den deutschen Adel dominierte. Für den Adel des Südens und Südwestens hingegen, dem sich Malinowski ebenfalls über seine Standesorganisationen nähert, etwa die Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern, ist eine völkisch-antisemitische Radikalisierung ostelbischen Musters flächendeckend nicht nachzuweisen. Am ehesten hier, wo auch die alten standesherrlichen Familien das Bild des Adels mitbestimmten, bildeten sich Ansätze eines politisch-ideologischen Adelskonservatismus heraus, die vom Gedankengut der Neuen Rechten – den widersinnigen Begriff der „Konservativen Revolution” verwirft Malinowski zum Glück – weit entfernt waren.
Wer dies allerdings einfach mit dem Katholizismus erklären will, den belehrt der Blick auf den katholischen Adel Westfalens eines Besseren. Starke Teile dieses Adels, unter anderem im Verband katholischer Edelleute, radikalisierten sich auf eine Weise, die der Entwicklung in der protestantischen DAG in nichts nachstand. Die Gründe dafür bleiben vorerst unklar. Womöglich führen hier nicht konfessionsgeschichtliche Analysen weiter, sondern Fragen nach der Bedeutung von Nationalismus und Partikularismus.
Die zweifelsohne schon im Kaiserreich angelegte und bis zum Ersten Weltkrieg weit fortgeschrittene Radikalisierung wurde durch Kriegsniederlage, Revolution und Republikgründung entscheidend dynamisiert und verschärft. Die sozialen Fundamente adeliger Macht lösten sich endgültig auf, aus kleinadeligem Niedergang wurde vieltausendfach freier Fall. Es ist wenig überraschend, dass dem sozialen Absturz ein militantes Jetzt-erst-recht-Bekenntnis zu adeligem Führertum folgte. Damit aber wurden Brückenschläge möglich zum allgemeinen Führer-Diskurs der 20er Jahre.
Eisernes Buch, deutsche Art
Auch die Rede vom „Neuen Adel”, die das rechte bis rechtsradikale Denken durchzog, bot der alten Aristokratie vielfältige Anschlussmöglichkeiten. So mühte sich – am Ende vergeblich – beispielsweise die Ring-Bewegung um adelig-bürgerliche Elitebildung im Zeichen autoritärer Ordnungskonzepte. Um einen neuen Adel ging es jedoch auch jenen Adeligen, die lange vor 1933 in der Deutschen Adelsgenossenschaft einen Arierparagraphen und eine rassistisch-antisemitische Adelsmatrikel einführten. Aus dem „Semi-Gotha”, der 1912 das Ausmaß der „Verjudung” des Adels anprangern sollte, wurde nach dem Krieg das „Eiserne Buch des deutschen Adels deutscher Art” (EDDA), ein Projekt, das wie kein zweites die völkische Zerstörung des traditionellen Adelsbegriffs und -verständnisses zeigt.
Als Nationalsozialisten wie der spätere Bauernführer Darré begannen, von einem „Neuadel aus Blut und Boden” zu sprechen, war das Denken und Handeln in diesen Kategorien dem alten Adel in Deutschland schon längst nicht mehr fremd, und es bedurfte nur geringer intellektueller Anstrengung, konstitutive Elemente traditioneller Adeligkeit wie die Bindung an das Land und das ausgeprägte Familienbewusstsein als gelebte „Blut-und-Boden”-Ideologie avant la lettre hinzustellen.
Auch der anti-bürgerliche Habitus verband den herabgesunkenen Kleinadel und das Adelsproletariat, wie es die Adelsgenossenschaft repräsentierte, mit dem Nationalsozialismus. Dieser schien überdies Karriere- und Zukunftschancen zu bieten und damit eine Möglichkeit, den sozialen Absturz zu stoppen und endlich wieder ein standesgemäßes Leben führen zu können. Eine solche Einschätzung erklärt das „Bündnis der Eliten”, das Hitler den Weg politisch bahnen half. Mehr noch aber erklärt sie die massenhafte Annäherung von Adeligen an den Nationalsozialismus, welche die braune Macht sozial etablieren und stabilisieren half; jene Annäherung, die in Andreas Graf Bernstorffs „Nun danket alle Gott” ihren individuellen, aber repräsentativen Ausdruck fand – und in Stephan Malinowskis Buch eine glänzende Analyse.
ECKART CONZE
STEPHAN MALINOWSKI: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Akademie Verlag, Berlin 2003. 660 Seiten, 59,80 Euro.
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"[Eine] bereits zum Standardwerk avancierte Untersuchung" Björn Hofmeister in: Archiv für Sozialgeschichte, 50 (2010)
Noch nie ist das Scheitern des deutschen Konservativismus in Kaiserreich, Weimarer Republik und 'Drittem Reich' so scharfsinnig dargestellt worden wie hier. Die Zeit
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.12.2003Nehmen Sie doch Platz, Durchlaucht!
Das ambivalente Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen deutschem Adel und Nationalsozialismus
Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Akademie Verlag, Berlin 2003. 660 Seiten, 59,80 [Euro].
Mit Hinweis auf das Attentat vom 20. Juli 1944 und auf die so bewiesene Zugehörigkeit zum moralisch besseren "anderen Deutschland" konnten die Adligen in der Bundesrepublik dem Vorwurf begegnen, zu den Totengräbern der ersten deutschen Republik, ja zu den Steigbügelhaltern Hitlers gezählt zu haben. Im Laufe der Jahrzehnte verdunkelte sich dieses identitätsstiftende Selbstbildnis allmählich. Es ist jedoch noch nie in so schwarzen Farben gemalt worden wie in der quellengesättigten und brillanten Studie von Stephan Malinowski. Für ihn steht fest, daß "die große Mehrheit der adligen Verschwörer des 20. Juli 1944 zu den aktiven Gegnern der Republik und zu den Sympathisanten des Kompromisses vom 30. Januar 1933" gehörte. Zum anderen hebt er hervor, daß adlige Widerstandskämpfer nur "eine winzige Minderheit" darstellten, "die in ihrem professionellen Umfeld ebenso wie innerhalb des Adels gegen erdrückende Mehrheiten agierten, in denen die Arrangements mit dem NS-Staat unerschüttert blieben".
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der großenteils verarmte und sozial destabilisierte Kleinadel, der sich nach der "als Weltuntergang erlebten Revolution" von 1918 immer weiter von den bürgerlichen Eliten entfernte. Durch die Flucht des Kaisers ins Exil entstand ein Vakuum, das auch im Adel in kurzer Zeit mit diffusen Sehnsüchten nach einem "Diktator" oder "Führer" ausgefüllt worden sei: "Hitler, der tapfere Meldegänger, EK-I-Träger und Gasversehrte, hatte innerhalb einer Gesellschaft, für die der Krieg das bedeutendste, von allen geteilte Grundtrauma blieb, ebenjene Visitenkarte, die Wilhelm II. durch seinen Soldatentod dem deutschen Monarchismus als symbolisches Vermächtnis hinterlassen konnte, aber nicht hinterließ."
Den Graben zwischen tatsächlicher materieller Knappheit und angeblich angeborener oder anerzogener Führungsqualitäten wollte der Kleinadel durch spezifisch als blaublütig empfundene Eigenschaften wie Haltung, Härte und Charakter überbrücken und sich damit bewußt von bürgerlichen Leitideen wie Bildung und Reichtum abgrenzen. Malinowski diagnostiziert hier treffend eine "Kombination von mäßigen Mitteln und maßlosen Ansprüchen".
Neben der Antibürgerlichkeit bildete der Antisemitismus eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Nationalsozialismus. Malinowski widmet sich ausführlich der Einführung von "Arierparagraphen" in diversen Adelsverbänden nach dem Ersten Weltkrieg sowie dem Projekt einer nach rassischen Kriterien geführten Adelsmatrikel. Die Deutsche Adelsgenossenschaft (DAG) als größter Adelsverband debattierte bereits am 22. Juni 1920 über eine von völkisch orientierten Mitgliedern beantragte Statutenänderung. Der DAG-Vorsitzende Friedrich von Berg nahm noch an, daß es lediglich um die zukünftige Vermeidung "jüdischer Heiraten" gehen könne, nicht jedoch darum, "völlig deutsch fühlende Standesgenossen, die jüdisches Blut in den Adern haben, zu kränken". Mit dieser moderaten Position konnte er sich nicht durchsetzen. Die angenommene Formulierung lautete: "Wer unter seinen Vorfahren im Mannesstamme einen nach dem Jahre 1800 geborenen Nichtarier hat oder zu mehr als einem Viertel anderer als arischer Rasse entstammt, oder mit jemand verheiratet ist, bei dem dies zutrifft, kann nicht Mitglied der DAG werden." Sechs Jahre später verkündete die DAG stolz, sie habe sich "die Pflege der Rassenfrage und die Verfolgung der Ergebnisse der Rassenforschung zur besonderen Aufgabe gemacht. Als erste von allen völkischen Organisationen knüpft sie an die Aufnahme den Nachweis gewisser Blutsreinheit und sucht durch Aufklärung und Belehrung ihrer Jugend den Blick für die Rassenreinheit zu schärfen."
Noch deutlicher als beim "Arierparagraphen" zeigte sich die völkische Umdeutung des Adelsbegriffs bei dem Versuch, eine den gesamten Adel erfassende Matrikel einzuführen. Sie sollte nicht zuletzt vor der Gründung "unechter Stämme" - also vor Scheinadel - schützen, der beispielsweise durch das beliebte Tauschgeschäft Adoption gegen Geld oder durch Namensschwindel drohte. Daraus entstand das "Eiserne Buch deutschen Adels deutscher Art" - kurz EDDA -, dessen erster Band 1925 erschien. Eine EDDA-Eintragung erforderte die "schriftliche Erklärung, daß der Bewerber . . . nach bestem Wissen und Gewissen unter seinen oder seines Ehegatten 32 Vorfahren von Vaters und Mutters Seite in der obersten Reihe keinen oder höchstens einen Semiten oder Farbigen hat". Beratungsstellen zur "Blutsentmischung" wurden eingerichtet, die entweder zu einer "Aufnordung" durch Gattenwahl oder im Extremfall zur Enthaltsamkeit rieten, um einen "verunreinigten Familienzweig" zum "Absterben" zu bringen. Bis 1931 hatten sich allerdings nur 508 Familien mit 3158 Eintragungen erfassen lassen, was weit hinter den Erwartungen der EDDA-Initiatoren zurückblieb. Die Gründe reichten laut Malinowski "von dezidierter Ablehnung über Desinteresse bis zu den zeit- und kostenintensiven genealogischen Nachforschungen, die mit einem Eintrag verbunden waren".
Der südwestdeutsche und der bayerische Adel standen dem völkischen Kampfkurs in den zwanziger Jahren ablehnend gegenüber. Auch nach 1933 pflegten die katholischen Familienverbände eine Distanz zum Nationalsozialismus, die beim deklassierten ostelbischen protestantischen Kleinadel, der auf einen Aufstieg im Dienst der "Bewegung" hoffte, nur äußerst selten zu finden war. Malinowski weist jedoch darauf hin, daß selbst eine so starke Barriere gegen den Nationalsozialismus wie die "Kombination von ungebrochenem Reich und Katholizismus" im Zuge der "Machtergreifung" hin und wieder nachgab. Als prominentes Beispiel unter den süddeutschen Fürsten führt er Max Egon zu Fürstenberg an, der bis 1933 durch Korrespondenzen und Besuche dem exilierten Kaiser in Doorn die Treue hielt, dann aber auf den "Führer" umschwenkte. Bei einem Empfang im November 1933 war er begeistert von dem "unbeschreiblich lieben, freundlichen, lächelnden Gesicht" des Diktators. Der siebzigjährige Fürst führte sich bei Hitler als SA-Mann ein: "Ich meldete mich mit erhobener Hand als: zur SA überführt und zum Stabe der Standarte 470 Freiburg kommandiert, was der dankend in wirklich bezaubernd netter Weise entgegennahm und mir gleich sagte, aber nehmen Sie doch Platz, Durchlaucht." Für Fürstenberg war es "herrlich, diesem einzig großen Mann gegenüberstehen zu dürfen".
Malinowski weiß natürlich, daß es "den" deutschen Adel nicht gab. Daher unterscheidet er nicht nur zwischen den einzelnen Regionen, sondern auch zwischen Grandseigneurs, Kleinadel und Adelsproletariat. Ihm geht es vornehmlich darum, mit Hilfe von vielfältigen sprechenden Zitaten adlige Leitbilder und Wahrnehmungsmuster zu rekonstruieren. Zum ambivalenten Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Adel und Nationalsozialismus stellt er überzeugend fest: "Die Tatsache, daß Fürsten sich weiterhin als ,Durchlaucht' anreden ließen, Adlige den Hitlergruß verweigerten, an Festtafeln Toasts auf den Kaiser aufbrachten und auf den Dächern ihrer Schlösser und Gutshäuser die falschen Flaggen wehen ließen, verweist auf Residuen, in denen der Adelshabitus der Zerstörung durch die Werkzeuge des totalen Staates erfolgreich entzogen wurde. Erkennbar wird eine erhebliche Distanz in einzelnen sozio-kulturellen Bereichen, die man ernst nehmen, mit einem jedoch nicht verwechseln sollte: mit einer vermeintlichen Prädisposition des Adels zum Widerstand."
Der abschätzige Blick auf den "braunen Pöbel" zeuge allgemein von der Stabilität des Herrschaftshabitus, jedoch nur bei einer kleinen Minderheit von politisch relevanter "Resistenz". Weit treffender als mit dem einst von Martin Broszat in die Widerstandsforschung eingeführten Begriff "Resistenz" ließen sich solche standesgemäßen Handlungen mit dem Begriff "loyale Widerwilligkeit" umschreiben - noch besser sogar mit dem von Alf Lüdke vorgeschlagenen "Eigen-Sinn". Lüdkes Begriff lasse sich zweiseitig verwenden. Aus der "Vorderseite" des unübersehbaren Eigen-Sinns, der im adligen Habitus erhalten geblieben sei, ließe sich ein Teil der eindrucksvollen "Haltung" ableiten, die durch die "seltenen Widerstandsbiographien" bekannt sei. Wichtiger sei jedoch die "Rückseite" des Eigen-Sinns: Weil in adligen Lebenswelten Residuen erhalten blieben, die nicht "durchherrscht" waren, und in diesen Schutzräumen "die eigenen kulturellen Codes weitergelebt wurden", sei das Einverständnis groß genug gewesen, um sich der nationalsozialistischen Herrschaft nicht entgegenzustellen. In diesem Sinne habe der adlige Eigen-Sinn sogar zur Stabilisierung des Nationalsozialismus beigetragen.
Rechtzeitig vor dem sechzigsten Jahrestag des 20. Juli hat Stephan Malinowski mit seiner wichtigen Studie die Proportionen in der Geschichte des deutschen Widerstandes zurechtgerückt und die lange Zeit maßgebliche adlig-schöngefärbte Sicht von Marion Gräfin Dönhoff und anderen in Frage gestellt. Trotzdem strahlen entschlossene und mutige Ausnahmeerscheinungen wie Ulrich von Hassell, Helmuth James Graf von Moltke, Adam von Trott zu Solz, Henning von Tresckow und Claus Schenk Graf von Stauffenberg aus den finsteren Zeiten noch heller in die Gegenwart hinein.
RAINER BLASIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das ambivalente Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen deutschem Adel und Nationalsozialismus
Stephan Malinowski: Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat. Akademie Verlag, Berlin 2003. 660 Seiten, 59,80 [Euro].
Mit Hinweis auf das Attentat vom 20. Juli 1944 und auf die so bewiesene Zugehörigkeit zum moralisch besseren "anderen Deutschland" konnten die Adligen in der Bundesrepublik dem Vorwurf begegnen, zu den Totengräbern der ersten deutschen Republik, ja zu den Steigbügelhaltern Hitlers gezählt zu haben. Im Laufe der Jahrzehnte verdunkelte sich dieses identitätsstiftende Selbstbildnis allmählich. Es ist jedoch noch nie in so schwarzen Farben gemalt worden wie in der quellengesättigten und brillanten Studie von Stephan Malinowski. Für ihn steht fest, daß "die große Mehrheit der adligen Verschwörer des 20. Juli 1944 zu den aktiven Gegnern der Republik und zu den Sympathisanten des Kompromisses vom 30. Januar 1933" gehörte. Zum anderen hebt er hervor, daß adlige Widerstandskämpfer nur "eine winzige Minderheit" darstellten, "die in ihrem professionellen Umfeld ebenso wie innerhalb des Adels gegen erdrückende Mehrheiten agierten, in denen die Arrangements mit dem NS-Staat unerschüttert blieben".
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der großenteils verarmte und sozial destabilisierte Kleinadel, der sich nach der "als Weltuntergang erlebten Revolution" von 1918 immer weiter von den bürgerlichen Eliten entfernte. Durch die Flucht des Kaisers ins Exil entstand ein Vakuum, das auch im Adel in kurzer Zeit mit diffusen Sehnsüchten nach einem "Diktator" oder "Führer" ausgefüllt worden sei: "Hitler, der tapfere Meldegänger, EK-I-Träger und Gasversehrte, hatte innerhalb einer Gesellschaft, für die der Krieg das bedeutendste, von allen geteilte Grundtrauma blieb, ebenjene Visitenkarte, die Wilhelm II. durch seinen Soldatentod dem deutschen Monarchismus als symbolisches Vermächtnis hinterlassen konnte, aber nicht hinterließ."
Den Graben zwischen tatsächlicher materieller Knappheit und angeblich angeborener oder anerzogener Führungsqualitäten wollte der Kleinadel durch spezifisch als blaublütig empfundene Eigenschaften wie Haltung, Härte und Charakter überbrücken und sich damit bewußt von bürgerlichen Leitideen wie Bildung und Reichtum abgrenzen. Malinowski diagnostiziert hier treffend eine "Kombination von mäßigen Mitteln und maßlosen Ansprüchen".
Neben der Antibürgerlichkeit bildete der Antisemitismus eine weitere Gemeinsamkeit mit dem Nationalsozialismus. Malinowski widmet sich ausführlich der Einführung von "Arierparagraphen" in diversen Adelsverbänden nach dem Ersten Weltkrieg sowie dem Projekt einer nach rassischen Kriterien geführten Adelsmatrikel. Die Deutsche Adelsgenossenschaft (DAG) als größter Adelsverband debattierte bereits am 22. Juni 1920 über eine von völkisch orientierten Mitgliedern beantragte Statutenänderung. Der DAG-Vorsitzende Friedrich von Berg nahm noch an, daß es lediglich um die zukünftige Vermeidung "jüdischer Heiraten" gehen könne, nicht jedoch darum, "völlig deutsch fühlende Standesgenossen, die jüdisches Blut in den Adern haben, zu kränken". Mit dieser moderaten Position konnte er sich nicht durchsetzen. Die angenommene Formulierung lautete: "Wer unter seinen Vorfahren im Mannesstamme einen nach dem Jahre 1800 geborenen Nichtarier hat oder zu mehr als einem Viertel anderer als arischer Rasse entstammt, oder mit jemand verheiratet ist, bei dem dies zutrifft, kann nicht Mitglied der DAG werden." Sechs Jahre später verkündete die DAG stolz, sie habe sich "die Pflege der Rassenfrage und die Verfolgung der Ergebnisse der Rassenforschung zur besonderen Aufgabe gemacht. Als erste von allen völkischen Organisationen knüpft sie an die Aufnahme den Nachweis gewisser Blutsreinheit und sucht durch Aufklärung und Belehrung ihrer Jugend den Blick für die Rassenreinheit zu schärfen."
Noch deutlicher als beim "Arierparagraphen" zeigte sich die völkische Umdeutung des Adelsbegriffs bei dem Versuch, eine den gesamten Adel erfassende Matrikel einzuführen. Sie sollte nicht zuletzt vor der Gründung "unechter Stämme" - also vor Scheinadel - schützen, der beispielsweise durch das beliebte Tauschgeschäft Adoption gegen Geld oder durch Namensschwindel drohte. Daraus entstand das "Eiserne Buch deutschen Adels deutscher Art" - kurz EDDA -, dessen erster Band 1925 erschien. Eine EDDA-Eintragung erforderte die "schriftliche Erklärung, daß der Bewerber . . . nach bestem Wissen und Gewissen unter seinen oder seines Ehegatten 32 Vorfahren von Vaters und Mutters Seite in der obersten Reihe keinen oder höchstens einen Semiten oder Farbigen hat". Beratungsstellen zur "Blutsentmischung" wurden eingerichtet, die entweder zu einer "Aufnordung" durch Gattenwahl oder im Extremfall zur Enthaltsamkeit rieten, um einen "verunreinigten Familienzweig" zum "Absterben" zu bringen. Bis 1931 hatten sich allerdings nur 508 Familien mit 3158 Eintragungen erfassen lassen, was weit hinter den Erwartungen der EDDA-Initiatoren zurückblieb. Die Gründe reichten laut Malinowski "von dezidierter Ablehnung über Desinteresse bis zu den zeit- und kostenintensiven genealogischen Nachforschungen, die mit einem Eintrag verbunden waren".
Der südwestdeutsche und der bayerische Adel standen dem völkischen Kampfkurs in den zwanziger Jahren ablehnend gegenüber. Auch nach 1933 pflegten die katholischen Familienverbände eine Distanz zum Nationalsozialismus, die beim deklassierten ostelbischen protestantischen Kleinadel, der auf einen Aufstieg im Dienst der "Bewegung" hoffte, nur äußerst selten zu finden war. Malinowski weist jedoch darauf hin, daß selbst eine so starke Barriere gegen den Nationalsozialismus wie die "Kombination von ungebrochenem Reich und Katholizismus" im Zuge der "Machtergreifung" hin und wieder nachgab. Als prominentes Beispiel unter den süddeutschen Fürsten führt er Max Egon zu Fürstenberg an, der bis 1933 durch Korrespondenzen und Besuche dem exilierten Kaiser in Doorn die Treue hielt, dann aber auf den "Führer" umschwenkte. Bei einem Empfang im November 1933 war er begeistert von dem "unbeschreiblich lieben, freundlichen, lächelnden Gesicht" des Diktators. Der siebzigjährige Fürst führte sich bei Hitler als SA-Mann ein: "Ich meldete mich mit erhobener Hand als: zur SA überführt und zum Stabe der Standarte 470 Freiburg kommandiert, was der dankend in wirklich bezaubernd netter Weise entgegennahm und mir gleich sagte, aber nehmen Sie doch Platz, Durchlaucht." Für Fürstenberg war es "herrlich, diesem einzig großen Mann gegenüberstehen zu dürfen".
Malinowski weiß natürlich, daß es "den" deutschen Adel nicht gab. Daher unterscheidet er nicht nur zwischen den einzelnen Regionen, sondern auch zwischen Grandseigneurs, Kleinadel und Adelsproletariat. Ihm geht es vornehmlich darum, mit Hilfe von vielfältigen sprechenden Zitaten adlige Leitbilder und Wahrnehmungsmuster zu rekonstruieren. Zum ambivalenten Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Adel und Nationalsozialismus stellt er überzeugend fest: "Die Tatsache, daß Fürsten sich weiterhin als ,Durchlaucht' anreden ließen, Adlige den Hitlergruß verweigerten, an Festtafeln Toasts auf den Kaiser aufbrachten und auf den Dächern ihrer Schlösser und Gutshäuser die falschen Flaggen wehen ließen, verweist auf Residuen, in denen der Adelshabitus der Zerstörung durch die Werkzeuge des totalen Staates erfolgreich entzogen wurde. Erkennbar wird eine erhebliche Distanz in einzelnen sozio-kulturellen Bereichen, die man ernst nehmen, mit einem jedoch nicht verwechseln sollte: mit einer vermeintlichen Prädisposition des Adels zum Widerstand."
Der abschätzige Blick auf den "braunen Pöbel" zeuge allgemein von der Stabilität des Herrschaftshabitus, jedoch nur bei einer kleinen Minderheit von politisch relevanter "Resistenz". Weit treffender als mit dem einst von Martin Broszat in die Widerstandsforschung eingeführten Begriff "Resistenz" ließen sich solche standesgemäßen Handlungen mit dem Begriff "loyale Widerwilligkeit" umschreiben - noch besser sogar mit dem von Alf Lüdke vorgeschlagenen "Eigen-Sinn". Lüdkes Begriff lasse sich zweiseitig verwenden. Aus der "Vorderseite" des unübersehbaren Eigen-Sinns, der im adligen Habitus erhalten geblieben sei, ließe sich ein Teil der eindrucksvollen "Haltung" ableiten, die durch die "seltenen Widerstandsbiographien" bekannt sei. Wichtiger sei jedoch die "Rückseite" des Eigen-Sinns: Weil in adligen Lebenswelten Residuen erhalten blieben, die nicht "durchherrscht" waren, und in diesen Schutzräumen "die eigenen kulturellen Codes weitergelebt wurden", sei das Einverständnis groß genug gewesen, um sich der nationalsozialistischen Herrschaft nicht entgegenzustellen. In diesem Sinne habe der adlige Eigen-Sinn sogar zur Stabilisierung des Nationalsozialismus beigetragen.
Rechtzeitig vor dem sechzigsten Jahrestag des 20. Juli hat Stephan Malinowski mit seiner wichtigen Studie die Proportionen in der Geschichte des deutschen Widerstandes zurechtgerückt und die lange Zeit maßgebliche adlig-schöngefärbte Sicht von Marion Gräfin Dönhoff und anderen in Frage gestellt. Trotzdem strahlen entschlossene und mutige Ausnahmeerscheinungen wie Ulrich von Hassell, Helmuth James Graf von Moltke, Adam von Trott zu Solz, Henning von Tresckow und Claus Schenk Graf von Stauffenberg aus den finsteren Zeiten noch heller in die Gegenwart hinein.
RAINER BLASIUS
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