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Und wo werden Sie mit Adrianne Blues Mythenkritik "Vom Küssen" landen? Die Cosmopolitan-Kolumnistin hat nicht mit Leckereien gespart: Ach, all diese "labiale" Zärtlichkeit, vom "phallischen" Zungenschlag ganz zu schweigen: Die Rede ist von Hormonen, Nerven, Muskeln, von Chinesen, von den Kung der Kalahari und von den Casanovas aus Hollywood. Welt-Geste Kuss - ein Dauerbrenner? Und ob. Vom elegischen Engelskuss bis zum schneidigen Eckzahnbiss Draculas haben Sie die Qual der Wahl unter über dreißig Techniken, bewährt seit Tausenden von Jahren, Mund-zu-Mund-Mythen für jeden Tag und Typ.

Produktbeschreibung
Und wo werden Sie mit Adrianne Blues Mythenkritik "Vom Küssen" landen? Die Cosmopolitan-Kolumnistin hat nicht mit Leckereien gespart: Ach, all diese "labiale" Zärtlichkeit, vom "phallischen" Zungenschlag ganz zu schweigen: Die Rede ist von Hormonen, Nerven, Muskeln, von Chinesen, von den Kung der Kalahari und von den Casanovas aus Hollywood. Welt-Geste Kuss - ein Dauerbrenner? Und ob. Vom elegischen Engelskuss bis zum schneidigen Eckzahnbiss Draculas haben Sie die Qual der Wahl unter über dreißig Techniken, bewährt seit Tausenden von Jahren, Mund-zu-Mund-Mythen für jeden Tag und Typ.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.1997

Ich küsse Ihre Hand, Madame
Die denkbar angenehmste Form der Mund-zu-Mund-Versorgung: Zwei Bücher widmen sich dem amourösen Lippenbekenntnis

Mit auftrumpfender Munterkeit kippt Adrianne Blue ihre Zettelkästen vor dem Leser aus: der Judaskuß, der berühmteste Kuß in der Kultur des Abendlandes, die legendären Küsse unglücklich Liebender, Dornröschen und ihr Prinz, Paolo und Francesca, Scarlett und Rhett, Oscar und Bosie, Charles und Diana. Küssen verbraucht 6,4 Kalorien, tauscht die Körpersalze aus, ist gut für die Zähne. Fellatio, Cunnilingus, Ovid, Malinowski.

Es kommen so aufregende News aus der VIP-Welt wie die von Stalins Tochter: "Meine Mutter gab mir wahrscheinlich einen Kuß." Gelegentlich vernimmt man theoretisches Räuspern über dem Lavastrom der Kuß-Masse: "Die sichtlichen Anzeichen des erwachenden Begehrens beim anderen, der Anblick seiner oder ihrer nackten Haut, des entschlossenen Blicks, das alles trägt zu unserer Erregung bei."

Nun, es muß kein Geist aus dem Grabe steigen, um uns das zu sagen. Irgendwie scheint das auch Adrianne Blue zu schwanen, weshalb sie das enzyklopädische Lesefutter des Lesers gelegentlich mit Poesie beträufelt: "Ein Kuß ist nicht nur der gemeinsame Tanz von Lippen und Zungen, vielmehr ist der Tanzboden im Mund zu finden, jener sensorischen Oase des Gesichts." Dann wieder verschanzt sie sich hinter Michel Foucaults Argument, die "Geschichte der Sexualität" habe gezeigt, "daß es im sexuellen Erleben keine zeitlosen Wahrheiten gibt". Um einen solchen Spatzen zu erlegen, braucht man freilich keine Kanone aufzufahren. Als Überraschungsei zum Thema Küssen geöffnet und als solches genossen, offenbart Adrianne Blues Buch selbstverständlich alle möglichen unterhaltsamen Kleinigkeiten, im übrigen ist es bieder und politisch korrekt.

Von Adam Philips kann man das nicht sagen: Sein Buch segelt mit einem halbpornographischen Puttokuß als Lockmittel auf dem Schutzumschlag freilich unter falscher Flagge und auf den falschen Leser zu, der mit "Psycho light" rechnen soll. Statt dessen handelt es sich um hinreißend geschriebene psychoanalytische Essays. Klaus Laermann hat sie präzise und leichtfüßig übersetzt. Sie sind zwar nicht schwierig geschrieben, wimmeln aber von Anspielungen auf Freud, Melanie Klein und Winnicott. Die Frage ist, was ein Leser, dem das alles fremd ist, damit anfangen kann.

"In seiner Abenddämmerung", schreibt Philips, "brachte das britische Empire eine Theorie der ausreichend guten Mutter als Antithese und schuldbewußte Kritik dessen hervor, was immer schon ein ausreichend schlechter Imperialismus gewesen war." Das ist nicht nur eine witzige Bemerkung, sondern sie trifft auch geschichtsphilosophisch etwas: In der Situation, in der das abgetakelte Empire zum Commonwealth umgebildet wird, rückt man von Freuds Über-Ich-Regulierung, in Analogie zur k. u. k. Ämter-Hierarchie, ab, stilisiert eine leise und sanfte Präsenz zur Vorbildfigur und sagt dann von dieser "Mutter" nachträglich, daß sie gar nicht so schlecht gewesen sei.

Philips Essays zeichnen eine Entwicklungspsychologie nach, die ganz in der Tradition des großen englischen Kinderarztes und Analytikers Donald Winnicott steht (über den Philips auch eine der wenigen brauchbaren Monographien geschrieben hat). Seine Aufmerksamkeit richtet sich nicht auf das Melodram der Seele, das die Melanie-Klein-Schule beschwört, sondern auf scheinbar alltägliche Phänomene: das Alleinsein, die Gelassenheit, die Langeweile, das Kitzeln. Außerdem interessiert er sich für Phobien, die jeweils den ganzen seelischen Apparat offenlegen.

Mit ritueller Hartnäckigkeit beispielsweise stellen Kinder die Verzweiflungsfrage der Erwachsenen: "Und was sollen wir jetzt tun?" Einer von Philips' Patienten, ein hypermotorischer Junge, war so positiv, daß er jede Minute etwas mit sich anfangen konnte; er mußte das Sichlangweilen erst lernen. Langeweile ist für Philips kein Zustand, in dem das Begehren erlischt, sondern vielmehr der, in dem es erst entstehen kann. Die Idee ergibt sich daraus, daß Philips eines der West-Philosophie und Ost-Mystik verbindenden Theoreme von Winnicott, die Formlosigkeit als Fond der Seele, auf die Langeweile bezieht.

Es gibt noch andere, "kränkere" Formen der Langeweile, doch Philips betont bei allen ihren Spielarten stets das konstruktive Moment. "Aufmerksame Langeweile" hält er für die während einer Psychoanalyse erforderliche Einstellung, da sie die unmögliche Erfahrung erträglich werden lasse, "auf etwas zu warten, ohne zu wissen, was es sein könnte". Die Langeweile ist ein psychoanalytisch recht unterbelichteter Gegenstand. Die Gründe? Ihr zeitgeschichtlicher Höhepunkt, der Dandyismus, ist historisch, und die Nachkriegsgeneration hat mit Langeweile energisch aufgeräumt. Allenfalls kann man die heutige Coolness als eine Maskerade von Langeweile sehen. Bei Philips ist sie ein sich nicht weniger ontologisch offenbarendes Phänomen als in Heideggers berühmter Vorlesung zum Thema, nur sozusagen ein weniger langweiliges.

Besonders geistreich ist der 1992 geschriebene Aufsatz "Mütter-Spielen - Zwischen Pädagogik und Übertragung". Die einzige kleine Enttäuschung der Sammlung ist dagegen ausgerechnet das Kapitel über das Küssen. Philips nennt den Kuß das "Klagelied des Mundes auf sich selbst" und ein Symbol des Verrats, weil man mit ihm einräume, daß immer weniger befriedigt als begehrt wird. Die Idee von der narzißtischen Trauer darüber, daß man sich nicht selbst küssen kann, geht zu sehr von einem Freudschen Subjekt aus, das in Autoerotismus und Narzißmus verharren will. Dabei könnte der Narzißmus ja auch als eine entdeckerische Haltung gesehen werden. Dann müßte der Kuß nicht mehr dazu dienen, uns das Körpergefängnis zu demonstrieren, in dem wir stecken, sondern das Küssen erhielte einen Zug von universaler Erprobung.

Die Evolutionstheorie meint, daß der Kuß aus im Tierreich verbreiteten Fütterungsritualen entstanden ist. Etwas von der Regression in den Zustand, in dem Fütterung versprochen wurde, ist dem Kuß geblieben und macht seinen kindlichen Charakter aus. Eine Kulturgeschichte des Küssens, wie Adrianne Blue sie vorhatte, müßte sich zumindest darüber Gedanken machen, warum es Zivilisationen gibt, in denen das Küssen eine weitreichende symbolische Bedeutung hat, und andere, in denen das nicht der Fall ist. In der europäischen Zivilisation gibt es beispielsweise seit der Spätantike neben dem Kuß als privatem Liebesvorspiel den besiegelnden öffentlichen Kuß.

In seinem letzten Kapitel "Psychoanalyse und Götzendienst" lenkt Philips unseren Blick auf eine Reihe jüdischer Männer, die sich in einem Zimmer voller Götterfiguren - Freuds Arbeitszimmer - trafen, um eine Wissenschaft auszuhecken, die die Götzen stürzen sollte. Philips weiß, daß Ironie die gleichzeitige Präsenz widerstreitender Triebregungen realisiert. Auf dieses Lob der Zweideutigkeit und die Rechtfertigung der zweideutigen Wirklichkeit als objektiver Ironie systematisch aufmerksam gemacht zu haben ist für ihn das entscheidende Verdienst Freuds. Er schließt: "Mit der Entdeckung der Übertragung entwickelte Freud ein Verfahren, das sich als Heilung durch Idolatrie bezeichnen ließe; faktisch wohl eher als Heilung von Idolatrie durch Idolatrie. Doch das einzige, was die Psychoanalyse, wenn sie gelingt, nicht heilen kann, ist der Glaube an die Psychoanalyse. Und das ist ein Problem." CAROLINE NEUBAUR

Adrianne Blue: "Vom Küssen oder

Warum wir nicht voneinander lassen können". Aus dem Englischen von Hartmut Schickert. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997. 233 S., br., 24,- DM.

Adam Philips: "Vom Küssen, Kitzeln und Gelangweiltsein". Aus dem Englischen von Klaus Laermann. Steidl Verlag, Göttingen 1997. 192 S., geb., 28,- DM.

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