18 Lebensläufe werden hier erzählt, von der Wiege bis zur Bahre, 18 Mikroromane, die auch als 18 Kapitel aus einem einzigen Roman des Lebens betrachtet werden können. Da ist zum Beispiel Prinzhofer Nena, die Schweizer Walküre aus guter Familie, die sich in einen schönen aber impotenten Reitersmann und Dichter verliebt, um dann spät im Leben die wahre Erfüllung zu finden - bei einem schmierigen Frauenhelden, der sie diskret betrügt ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995Unter der Alabasterlampe
Pontiggias erzählende Moralistik / Von Ralf Konersmann
Geschichten schreiben, das ist die Kunst, aus wenigem alles zu machen. Nehmen wir ein Beispiel: "Er geht nach Hause und ruft ,Mama' (seine Mutter, die gute fünfundneunzig Jahre alt war, und er war fünfundsiebzig)." Dieser eine Satz aus Sacchettis "Buch der dreihundert Novellen" birgt den Stoff für einen kompletten Roman, wenigstens für einen kleinen.
Wer es nicht glauben mag, der lese und genieße die Prosa Giuseppe Pontiggias. Der norditalienische Erzähler beherrscht die Kunst, aus einer Wendung, aus einem einzigen aufgeschnappten Wort eine Geschichte herauszulesen. Auch der Satz Sacchettis ist eine solche Keimform. Pontiggia macht daraus die Geschichte des Ferdinando Cuomo, der am 27. Januar 1934 in Salerno geboren wird und am 7. Mai 1987 an gleicher Stelle stirbt. Es ist die Biographie eines Frühreifen, der von seiner ersten Liebe enttäuscht wird und der, nachdem er Vater und Ehefrau früh verliert, mit 45 Jahren das elterliche Schlafzimmer betritt, um sich schweigend in die rechte Hälfte des Bettes zu legen. "Die Alabasterlampe, die über ihm hängt, ist immer noch mit jenen Monstern bevölkert, die er als Kind sah, wenn es ihm gelang, einen Platz zwischen den Eltern zu ergattern. Jeden Abend vor dem Einschlafen betrachtet er die Lampe lange. Er bittet seine Mutter, das Licht erst später zu löschen." An nichts werde es ihr fehlen, versichert er ihr, und er werde ihr beistehen bis zuletzt.
So sind Pontiggias Geschichten. "Vom Leben gewöhnlicher Männer und Frauen" versammelt achtzehn Lebensläufe - von denen einige über die Jahrtausendgrenze hinausreichen -, porträtiert achtzehn Zeitgenossen aus der italienischen Provinz, folgt achtzehn windungsreichen Wegen von der Geburt bis zum Tod. Auf die Zahl kommt es dabei nicht an. Als erzählender Moralist folgt Pontiggia einer Tradition, die weniger auf arithmetische Mittel setzt als auf ihre Beobachtungsgabe. Das Ergebnis ist ein kleines literarisches Welttheater. Wie auf den Bühnen der Moralistik bewegen sich hier Vertrauensselige und Eingebildete, Habgierige und Selbstlose, die Spröde und die Lebenshungrige, der Frühreife und der späte Liebhaber. Pontiggia folgt ihnen mit jenem Blick, den er zuweilen seinen Nebenfiguren borgt: teils nachsichtig, teils ungeduldig.
Doch die Wonnen der Gewöhnlichkeit sind diesem Szenenreigen nicht genug. Pontiggias Humor neigt zum Mokanten und Kuriosen, und dies ist seine Stärke. So "charakteristisch" seine Figuren auch gezeichnet sind, die Freude an der präzisen Zeichnung - der man sogar einen "leonardesken Sonnenuntergang" verzeiht - bewahrt sie vor der Banalität, vor dem wohlfeilen "so ist es". Pontiggias Figuren, und gerade die bejammernswertesten, sind unscheinbare Heldengestalten. ",Ich habe viel über deinen Fall nachgedacht, ein reifer Lehrer mit einer Schülerin. Ist dir eigentlich bewußt, daß dein Fall ganz typisch ist?' ,Ja, aber das hilft mir kein bißchen weiter.'" Auf unspektakuläre Weise erfragen sie die übermächtig scheinende Erfahrung ihrer Kontingenz und die Unentrinnbarkeit des Fatums.
Die Präsenz der Charaktere ergibt sich aus der Abweichung vom Typischen, die häufig nicht mehr ist und sein kann als verweigerte Einwilligung. Pontiggia vermag nicht nur Situationen treffend zu zeichnen, er weiß auch, wann etwas ungesagt bleiben muß. Deshalb kommt sein literarisches Welttheater ohne Finale und ohne Lektion aus. Mögen die Lebenswege seiner Männer und Frauen einander ähnlich sein, mögen sie auch allesamt Sätze sagen wie "Es gibt keinen Zufall" oder "Wir müssen alle sterben" oder "Ich habe keine andere Wahl" - die tröstliche Wahrheit des Moralisten ist, daß diese Worte in immer neuen Umgebungen immer neue Färbungen annehmen. Solche Sätze sind wiederholbar, dazu sind sie da. Einzigartig und unwiederholbar aber bleibt die Aktualität ihrer Bedeutung.
Giuseppe Pontiggia: "Vom Leben gewöhnlicher Männer und Frauen". Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Krohn. Carl Hanser Verlag, München 1995. 307 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Pontiggias erzählende Moralistik / Von Ralf Konersmann
Geschichten schreiben, das ist die Kunst, aus wenigem alles zu machen. Nehmen wir ein Beispiel: "Er geht nach Hause und ruft ,Mama' (seine Mutter, die gute fünfundneunzig Jahre alt war, und er war fünfundsiebzig)." Dieser eine Satz aus Sacchettis "Buch der dreihundert Novellen" birgt den Stoff für einen kompletten Roman, wenigstens für einen kleinen.
Wer es nicht glauben mag, der lese und genieße die Prosa Giuseppe Pontiggias. Der norditalienische Erzähler beherrscht die Kunst, aus einer Wendung, aus einem einzigen aufgeschnappten Wort eine Geschichte herauszulesen. Auch der Satz Sacchettis ist eine solche Keimform. Pontiggia macht daraus die Geschichte des Ferdinando Cuomo, der am 27. Januar 1934 in Salerno geboren wird und am 7. Mai 1987 an gleicher Stelle stirbt. Es ist die Biographie eines Frühreifen, der von seiner ersten Liebe enttäuscht wird und der, nachdem er Vater und Ehefrau früh verliert, mit 45 Jahren das elterliche Schlafzimmer betritt, um sich schweigend in die rechte Hälfte des Bettes zu legen. "Die Alabasterlampe, die über ihm hängt, ist immer noch mit jenen Monstern bevölkert, die er als Kind sah, wenn es ihm gelang, einen Platz zwischen den Eltern zu ergattern. Jeden Abend vor dem Einschlafen betrachtet er die Lampe lange. Er bittet seine Mutter, das Licht erst später zu löschen." An nichts werde es ihr fehlen, versichert er ihr, und er werde ihr beistehen bis zuletzt.
So sind Pontiggias Geschichten. "Vom Leben gewöhnlicher Männer und Frauen" versammelt achtzehn Lebensläufe - von denen einige über die Jahrtausendgrenze hinausreichen -, porträtiert achtzehn Zeitgenossen aus der italienischen Provinz, folgt achtzehn windungsreichen Wegen von der Geburt bis zum Tod. Auf die Zahl kommt es dabei nicht an. Als erzählender Moralist folgt Pontiggia einer Tradition, die weniger auf arithmetische Mittel setzt als auf ihre Beobachtungsgabe. Das Ergebnis ist ein kleines literarisches Welttheater. Wie auf den Bühnen der Moralistik bewegen sich hier Vertrauensselige und Eingebildete, Habgierige und Selbstlose, die Spröde und die Lebenshungrige, der Frühreife und der späte Liebhaber. Pontiggia folgt ihnen mit jenem Blick, den er zuweilen seinen Nebenfiguren borgt: teils nachsichtig, teils ungeduldig.
Doch die Wonnen der Gewöhnlichkeit sind diesem Szenenreigen nicht genug. Pontiggias Humor neigt zum Mokanten und Kuriosen, und dies ist seine Stärke. So "charakteristisch" seine Figuren auch gezeichnet sind, die Freude an der präzisen Zeichnung - der man sogar einen "leonardesken Sonnenuntergang" verzeiht - bewahrt sie vor der Banalität, vor dem wohlfeilen "so ist es". Pontiggias Figuren, und gerade die bejammernswertesten, sind unscheinbare Heldengestalten. ",Ich habe viel über deinen Fall nachgedacht, ein reifer Lehrer mit einer Schülerin. Ist dir eigentlich bewußt, daß dein Fall ganz typisch ist?' ,Ja, aber das hilft mir kein bißchen weiter.'" Auf unspektakuläre Weise erfragen sie die übermächtig scheinende Erfahrung ihrer Kontingenz und die Unentrinnbarkeit des Fatums.
Die Präsenz der Charaktere ergibt sich aus der Abweichung vom Typischen, die häufig nicht mehr ist und sein kann als verweigerte Einwilligung. Pontiggia vermag nicht nur Situationen treffend zu zeichnen, er weiß auch, wann etwas ungesagt bleiben muß. Deshalb kommt sein literarisches Welttheater ohne Finale und ohne Lektion aus. Mögen die Lebenswege seiner Männer und Frauen einander ähnlich sein, mögen sie auch allesamt Sätze sagen wie "Es gibt keinen Zufall" oder "Wir müssen alle sterben" oder "Ich habe keine andere Wahl" - die tröstliche Wahrheit des Moralisten ist, daß diese Worte in immer neuen Umgebungen immer neue Färbungen annehmen. Solche Sätze sind wiederholbar, dazu sind sie da. Einzigartig und unwiederholbar aber bleibt die Aktualität ihrer Bedeutung.
Giuseppe Pontiggia: "Vom Leben gewöhnlicher Männer und Frauen". Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Krohn. Carl Hanser Verlag, München 1995. 307 S., geb., 39,80 DM.
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"Das Schöne an Pontiggias Buch besteht darin, daß jede Figur zufällig und zugleich unentbehrlich bis ins letzte Detail hinein wirkt, daß jede mit ihrem Epitaph den doppelsinnigen Allgemeinplatz bestätigt: 'Wir sind nichts, auch noch der letzte von uns ist einzigartig'. Pontiggia hat das einfache und zugleich geniale Kunststück fertiggebracht, 18 Romane in einem zu konzentrieren. Aber wir hätten gern noch 54 oder 78 weitere gelesen" (Fruttero/Lucentini)