Zwischen Antisemitismus und Identitätssuche - Deutsch-jüdische Literatur als Zeugnis von Verfolgung und VernichtungIn einem separierten jüdischen Kulturkreis im nationalsozialistischen Deutschland entstand zwischen 1933 und 1938/45 eine Vielzahl literarischer Arbeiten, die bislang in ihrer eigenständigen Bedeutung kaum erkannt wurden. Sie müssen jedoch neben den literarischen und künstlerischen Werken des Exils als Beginn einer Literatur gelesen werden, die auf die soziale Entrechtung, Ausgrenzung und Ermordung großer Teile des europäischen Judentums reagierte. Namen wie Gertrud Kolmar, Franz Hessel, Ernst Blass, Leo Hirsch, Mascha Kaléko, Arthur Eloesser, Karl Escher, Meta Samson, Arno Nadel, Herbert Friedenthal (Freeden), Max Samter oder Abraham Heschel stehen exemplarisch für viele, die 1933 nicht sofort aus Deutschland auswanderten.Kerstin Schoor rekonstruiert sowohl sozialgeschichtlich als auch text- und diskursanalytisch die disparaten Reaktionen anhand literarischer Texte und kultureller Debatten dieser Jahre. Im Zentrum steht dabei die kollektive Erfahrung einer gescheiterten Emanzipation und die damit einhergehende erzwungene Regression auf jüdische Identität. In detaillierten Fallstudien wird der Aufbau einer eigenständigen »jüdischen« literarischen Kultur im Schatten staatlich legitimierter Rassenpolitik und Zensur in Berlin zwischen 1933 und 1938/45 beschrieben. Zugleich schildert die Autorin das unvermeidliche Scheitern dieser Versuche einer aufgezwungenen kulturellen Identitätssuche angesichts der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik. Im Wallstein Verlag erschienenZwischen Rassenhass und Identitätssuche. Deutsch-jüdische literarische Kultur im nationalsozialistischen Deutschland, hg. von Kerstin Schoor (2010)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.11.2011Im literarischen Ghetto
Verhältnismäßig gut unterrichtet war man bisher über die Aktivitäten des "Kulturbundes Deutscher Juden", der am 16. Juni 1933 gegründet wurde und als dessen Generalzensor der Staatskommissar im Berliner Kultusministerium Hans Hinkel wirkte. Noch war - so Volker Dahm in "Das jüdische Buch im Dritten Reich" - zunächst nach 1933 eine relativ große Zahl jüdischer Buchverlage (26) und deutschsprachiger Lyrikbände jüdischer Autoren (etwa 50) zugelassen. Der George-Schüler Karl Wolfskehl und die Dichterin geistvoller Bilder aus dem Berliner Alltag Mascha Kaléko hatten sogar noch erstaunliche Auflagen. Was sich allerdings nach dem Jahr 1938, nach dem Attentat auf den deutschen Diplomaten von Rath in Paris und in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November ereignete, war die fortschreitende Strangulation des literarisch-kulturellen Lebens - im September 1941 zog sich endgültig die Schlinge zu. Kerstin Schoors Buch "Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto" zieht die Bilanz des bisher Erforschten und bleibt doch fern von bloßer Kompilation. Sie ordnet das Material zur Gesamtschau einer Literatur, die den Traum von einer deutsch-jüdischen Symbiose mehr und mehr preisgeben musste. In ihren Analysen zeigt sie, wie die Wirklichkeit nach 1933 in die literarische Praxis jüdischer Schriftsteller eingreift und Krisen bewährter Schreibweisen herbeiführt, wie andererseits Arthur Erloesser ein "jüdisches" Berlin wiederentdeckt. Sie holt vergessene Autoren aus der Anonymität zurück; so erfährt der Schriftsteller-Philosoph und Künstler Arno Nadel eine späte Ehrenrettung. Die apokalyptische Vision am Ende von Gertrud Kolmars 1937 entstandenem Gedicht "Die Tiere von Ninive" mag uns heute wie ein prophetisch vorweggenommenes Gleichnis für die Zerstörung des alten Berlin erscheinen. Mit seinem umfangreichen Anmerkungsapparat und seinen umfassenden Literaturverzeichnissen kann das Buch auch als Nachschlagewerk benutzt werden. Nicht verschwiegen wird, dass ein jüdisches Solidarisierungsverlangen nach 1933 und das Fehlen einer streng siebenden Literaturkritik den Druck auch des bloß "Gut-Gemeinten" begünstigten. Und so lässt sich darüber streiten, ob alles dies in einer Literaturgeschichte aufbewahrt werden muss. Aber es gehört wohl doch zum Bild einer Literatur in der Diaspora und dann des "Ghettos". (Kerstin Schoor: "Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto". Deutsch-jüdische literarische Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 580 S., geb., 49,90 [Euro].)
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Verhältnismäßig gut unterrichtet war man bisher über die Aktivitäten des "Kulturbundes Deutscher Juden", der am 16. Juni 1933 gegründet wurde und als dessen Generalzensor der Staatskommissar im Berliner Kultusministerium Hans Hinkel wirkte. Noch war - so Volker Dahm in "Das jüdische Buch im Dritten Reich" - zunächst nach 1933 eine relativ große Zahl jüdischer Buchverlage (26) und deutschsprachiger Lyrikbände jüdischer Autoren (etwa 50) zugelassen. Der George-Schüler Karl Wolfskehl und die Dichterin geistvoller Bilder aus dem Berliner Alltag Mascha Kaléko hatten sogar noch erstaunliche Auflagen. Was sich allerdings nach dem Jahr 1938, nach dem Attentat auf den deutschen Diplomaten von Rath in Paris und in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November ereignete, war die fortschreitende Strangulation des literarisch-kulturellen Lebens - im September 1941 zog sich endgültig die Schlinge zu. Kerstin Schoors Buch "Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto" zieht die Bilanz des bisher Erforschten und bleibt doch fern von bloßer Kompilation. Sie ordnet das Material zur Gesamtschau einer Literatur, die den Traum von einer deutsch-jüdischen Symbiose mehr und mehr preisgeben musste. In ihren Analysen zeigt sie, wie die Wirklichkeit nach 1933 in die literarische Praxis jüdischer Schriftsteller eingreift und Krisen bewährter Schreibweisen herbeiführt, wie andererseits Arthur Erloesser ein "jüdisches" Berlin wiederentdeckt. Sie holt vergessene Autoren aus der Anonymität zurück; so erfährt der Schriftsteller-Philosoph und Künstler Arno Nadel eine späte Ehrenrettung. Die apokalyptische Vision am Ende von Gertrud Kolmars 1937 entstandenem Gedicht "Die Tiere von Ninive" mag uns heute wie ein prophetisch vorweggenommenes Gleichnis für die Zerstörung des alten Berlin erscheinen. Mit seinem umfangreichen Anmerkungsapparat und seinen umfassenden Literaturverzeichnissen kann das Buch auch als Nachschlagewerk benutzt werden. Nicht verschwiegen wird, dass ein jüdisches Solidarisierungsverlangen nach 1933 und das Fehlen einer streng siebenden Literaturkritik den Druck auch des bloß "Gut-Gemeinten" begünstigten. Und so lässt sich darüber streiten, ob alles dies in einer Literaturgeschichte aufbewahrt werden muss. Aber es gehört wohl doch zum Bild einer Literatur in der Diaspora und dann des "Ghettos". (Kerstin Schoor: "Vom literarischen Zentrum zum literarischen Ghetto". Deutsch-jüdische literarische Kultur in Berlin zwischen 1933 und 1945. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 580 S., geb., 49,90 [Euro].)
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Steffen Martus hat bei Kerstin Schoor die mit perfider Gewissenhaftigkeit betriebene nationalsozialistische Kulturpolitik nachgelesen, die jüdische Autoren erst auf ihr Judentum begrenzte und vom restlichen Literaturleben abspaltete, um sie dann zu bekämpfen. Denn bis 1933 empfanden sich viele Autoren gar nicht als dezidiert jüdisch und mussten erst mal selbst diese "erfundene und befohlene Identität" entdecken, entnimmt der Rezensent der Lektüre. Ohne explizit zu loben, macht der Rezensent deutlich, dass ihn diese Studie gefesselt hat.
© Perlentaucher Medien GmbH
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