Das Thema der Gespräche zwischen Dirk Baecker und Alexander Kluge ist die Frage, mit welchen theoretischen Mitteln man sich der Bewältigung eines alltäglichen Lebens nähern kann, das seine Fortsetzung aus der Summe kleineren und größeren Scheiterns gewinnt. Jede Intelligenz kompensiert einen Zusammenbruch. Ein Konzern, eine Ehe, eine Schlacht oder eine Wahrnehmung sind nur möglich, weil sie immer wieder von neuem versuchen, Probleme zu lösen, die nicht zu lösen sind. Eine alte Therapeuten-Weisheit fordert also auch, die Probleme eher zu pflegen denn zu lösen, dann wisse man wenigstens, woran man sei. Diese Weisheit wird in diesen Gesprächen befolgt, um vom Konzern-Management über die Ehe bis zur Schlacht und zur Wahrnehmung eines Bewusstseins Phänomene unter dem Gesichtspunkt ihrer unwahrscheinlichen und nur so erfolgreichen Reproduktion zu erkunden. Gedanken von Heinz v. Foerster, Niklas Luhmann, Gregory Bateson, George Spencer-Brown, John v. Neumann, Jean-Luc Godard und anderenwerden aufgegriffen, um herauszufinden, mit welchen Theoriefiguren dieses Denken zu entwickeln ist.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.05.2003Mehdorns Theoretiker
Dirk Baecker erklärt, wie Unternehmen erfolgreich scheitern
Irgendwo dort hinten, im unwegsamen, beseligenden Grenzgebiet, in welchem sich romantische Theorie und Systemtheorie schneiden, hat Dirk Baecker sein Zelt aufgeschlagen. Der Luhmann-Schüler, Soziologe und Nationalökonom, lehrt in Witten-Herdecke, schreibt in Callots Manier mit heißem Herz und kühlem Kopf Bücher über das "fremde Zauberreich" (E.T.A. Hoffmann) des Unternehmens, ist als reisender Enthusiast dem Seltsamen und Tollen der Managementphilosophien auf der Spur, Zwischenberichte gab er in seinen Büchern "Postheroisches Management" oder "Organisation als System" oder "Wozu Kultur?". Alexander Kluge hat in seinen Fernsehsendungen Baecker mehrfach interviewt, die verschriftete Form dieser Gespräche liegt jetzt - ebenso lesbar wie inspirierend - als Bändchen des Merve Verlags vor.
Baeckers Interesse gilt dem Thema des Scheiterns, er spricht und schreibt gegen die theoretische Herabsetzung dieses Motivs als "Blamage" an. Zwar habe das Mantra der Managementphilosophie der neunziger Jahre gelautet: "Mach mehr Fehler und mach sie schneller, denn woraus sonst willst du etwas lernen!" (Tom Peters). Aber das sei immer noch sehr defensiv gemeint gewesen. Die entsprechende Literatur habe sich nach wie vor an den Erfolgsfaktoren des Managements orientiert. Über das großartige Scheitern von großartigen Unternehmen gebe es leider nichts Ausführliches. Doch nur wenn man lerne, die Seite des Erfolgs und die Seite des Scheiterns als die beiden Seiten desselben Unternehmens zu begreifen, könne man es bei seiner Leistung wirklich beobachten.
Wie das? Baeckers Prämisse ist eine evolutionstheoretische: Ein Konzern, eine Ehe, eine Schlacht oder eine Wahrnehmung sind nur möglich, weil sie immer wieder von neuem versuchen, Probleme zu lösen, die nicht zu lösen sind. Entsprechend ist die Frage nicht die nach dem geraden Weg zum "Erfolg" (letzterer bleibt, welche Parameter zu seiner Messung man auch einführt, stets eine abstrakte Größe). Die Frage ist vielmehr, "mit welchen theoretischen Mitteln man sich der Bewältigung eines alltäglichen Lebens nähern kann, das seine Fortsetzung aus der Summe kleineren und größeren Scheiterns gewinnt". Dabei knüpft Baecker - ob im einzelnen mit Heinz von Foerster, Luhmann oder Godard - durchweg an die alte Therapeutenweisheit an, wonach Probleme eher zu pflegen als zu lösen sind, denn dann wisse man wenigstens, woran man sei. Auf dem krummen Weg zum Erfolg, den Baecker bereist, wird die Firma konsequent unter dem Aspekt ihrer unwahrscheinlichen und nur so erfolgreichen Reproduktion erkundet.
Hat Mehdorn Baecker gelesen? Er muß. Jedenfalls liest sich die Preissystemtheorie des Bahnchefs wie der Musteranwendungsfall von Baeckers Systemtheorie. Daß die Bahn noch immer fährt, wird landesweit als das Resultat einer einzigen Unwahrscheinlichkeit wahrgenommen, als schienengeleitete Summe kleinerer (Unpünktlichkeit, Schalterflegeleien) oder größerer (Preiswirrwarr, Speisewagenabschaffung) Scheitereffekte. Man hat sich bisher immer über Mehdorns ausgeprägte Indolenz gegenüber seinen Kritikern gewundert. Nun, mit Baeckers Lektüre im Kopf, erscheint Mehdorns Verhalten als das einzig richtige fürs Unternehmenswohl: Er pflegt die Probleme, statt sie zu lösen. In diesem Sinne erklärt der Verkehrsminister Stolpe, die Bahn habe sich zwar in ihrem Preissystem "verkalkuliert", nicht jedoch in ihrer Unternehmensphilosophie des erfolgreichen Scheiterns: Mehdorn sei "der richtige Mann am richtigen Platz". Deshalb soll sein Vertrag auch bis 2008 verlängert werden, während zwei andere Manager der Bahn, die offenbar noch nicht auf der Höhe der Theorie waren, als Bauernopfer gehen müssen. Daß Mehdorn ankündigt, die von ihm stets vehement verteidigte Preisreform nun doch vorzeitig zurückreformieren zu wollen, bestätigt Baeckers Theorieansatz aufs neue: Natürlich ist die Reform der Reform nichts anderes als ein Scheitern von Mehdorns ursprünglichem System. Es ist dieses Bewußtsein, in der Korrektur des Scheiterns abermals zu scheitern, welches das Vertrauen in den evolutiven Prozeß nicht abreißen läßt und dem Amtsinhaber die Kraft zur Fortsetzung der Amtszeit gibt.
Mehdorn ist damit im Zeitalter des "postheroischen Managements" angekommen, in jener Matrix Baeckers, die Heiner Müller sofort in seinen Bann gezogen hatte. Denn, wie Alexander Kluge in einer Interviewpassage lauernd-fragend, untrüglich die große Kunst witternd, bemerkt: Wenn es um das große Scheitern geht, haben wir es wieder mit der Arbeitsform der Tragödie, des Dramas zu tun. Ja, sagt Baecker, denn der Nutzen ungelöster Probleme bestehe, romantisch Innen für Außen nehmend, in der Luft, die sie zum Atmen verschaffe - dort hinten, im Zauberreich der Möglichkeitsform, in der man immer an sie denkt und nicht von ihnen spricht.
CHRISTIAN GEYER
Dirk Baecker, Alexander Kluge: "Vom Nutzen ungelöster Probleme". Merve Verlag, Berlin 2003. 143 S., br., 12,80 [Euro].
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Dirk Baecker erklärt, wie Unternehmen erfolgreich scheitern
Irgendwo dort hinten, im unwegsamen, beseligenden Grenzgebiet, in welchem sich romantische Theorie und Systemtheorie schneiden, hat Dirk Baecker sein Zelt aufgeschlagen. Der Luhmann-Schüler, Soziologe und Nationalökonom, lehrt in Witten-Herdecke, schreibt in Callots Manier mit heißem Herz und kühlem Kopf Bücher über das "fremde Zauberreich" (E.T.A. Hoffmann) des Unternehmens, ist als reisender Enthusiast dem Seltsamen und Tollen der Managementphilosophien auf der Spur, Zwischenberichte gab er in seinen Büchern "Postheroisches Management" oder "Organisation als System" oder "Wozu Kultur?". Alexander Kluge hat in seinen Fernsehsendungen Baecker mehrfach interviewt, die verschriftete Form dieser Gespräche liegt jetzt - ebenso lesbar wie inspirierend - als Bändchen des Merve Verlags vor.
Baeckers Interesse gilt dem Thema des Scheiterns, er spricht und schreibt gegen die theoretische Herabsetzung dieses Motivs als "Blamage" an. Zwar habe das Mantra der Managementphilosophie der neunziger Jahre gelautet: "Mach mehr Fehler und mach sie schneller, denn woraus sonst willst du etwas lernen!" (Tom Peters). Aber das sei immer noch sehr defensiv gemeint gewesen. Die entsprechende Literatur habe sich nach wie vor an den Erfolgsfaktoren des Managements orientiert. Über das großartige Scheitern von großartigen Unternehmen gebe es leider nichts Ausführliches. Doch nur wenn man lerne, die Seite des Erfolgs und die Seite des Scheiterns als die beiden Seiten desselben Unternehmens zu begreifen, könne man es bei seiner Leistung wirklich beobachten.
Wie das? Baeckers Prämisse ist eine evolutionstheoretische: Ein Konzern, eine Ehe, eine Schlacht oder eine Wahrnehmung sind nur möglich, weil sie immer wieder von neuem versuchen, Probleme zu lösen, die nicht zu lösen sind. Entsprechend ist die Frage nicht die nach dem geraden Weg zum "Erfolg" (letzterer bleibt, welche Parameter zu seiner Messung man auch einführt, stets eine abstrakte Größe). Die Frage ist vielmehr, "mit welchen theoretischen Mitteln man sich der Bewältigung eines alltäglichen Lebens nähern kann, das seine Fortsetzung aus der Summe kleineren und größeren Scheiterns gewinnt". Dabei knüpft Baecker - ob im einzelnen mit Heinz von Foerster, Luhmann oder Godard - durchweg an die alte Therapeutenweisheit an, wonach Probleme eher zu pflegen als zu lösen sind, denn dann wisse man wenigstens, woran man sei. Auf dem krummen Weg zum Erfolg, den Baecker bereist, wird die Firma konsequent unter dem Aspekt ihrer unwahrscheinlichen und nur so erfolgreichen Reproduktion erkundet.
Hat Mehdorn Baecker gelesen? Er muß. Jedenfalls liest sich die Preissystemtheorie des Bahnchefs wie der Musteranwendungsfall von Baeckers Systemtheorie. Daß die Bahn noch immer fährt, wird landesweit als das Resultat einer einzigen Unwahrscheinlichkeit wahrgenommen, als schienengeleitete Summe kleinerer (Unpünktlichkeit, Schalterflegeleien) oder größerer (Preiswirrwarr, Speisewagenabschaffung) Scheitereffekte. Man hat sich bisher immer über Mehdorns ausgeprägte Indolenz gegenüber seinen Kritikern gewundert. Nun, mit Baeckers Lektüre im Kopf, erscheint Mehdorns Verhalten als das einzig richtige fürs Unternehmenswohl: Er pflegt die Probleme, statt sie zu lösen. In diesem Sinne erklärt der Verkehrsminister Stolpe, die Bahn habe sich zwar in ihrem Preissystem "verkalkuliert", nicht jedoch in ihrer Unternehmensphilosophie des erfolgreichen Scheiterns: Mehdorn sei "der richtige Mann am richtigen Platz". Deshalb soll sein Vertrag auch bis 2008 verlängert werden, während zwei andere Manager der Bahn, die offenbar noch nicht auf der Höhe der Theorie waren, als Bauernopfer gehen müssen. Daß Mehdorn ankündigt, die von ihm stets vehement verteidigte Preisreform nun doch vorzeitig zurückreformieren zu wollen, bestätigt Baeckers Theorieansatz aufs neue: Natürlich ist die Reform der Reform nichts anderes als ein Scheitern von Mehdorns ursprünglichem System. Es ist dieses Bewußtsein, in der Korrektur des Scheiterns abermals zu scheitern, welches das Vertrauen in den evolutiven Prozeß nicht abreißen läßt und dem Amtsinhaber die Kraft zur Fortsetzung der Amtszeit gibt.
Mehdorn ist damit im Zeitalter des "postheroischen Managements" angekommen, in jener Matrix Baeckers, die Heiner Müller sofort in seinen Bann gezogen hatte. Denn, wie Alexander Kluge in einer Interviewpassage lauernd-fragend, untrüglich die große Kunst witternd, bemerkt: Wenn es um das große Scheitern geht, haben wir es wieder mit der Arbeitsform der Tragödie, des Dramas zu tun. Ja, sagt Baecker, denn der Nutzen ungelöster Probleme bestehe, romantisch Innen für Außen nehmend, in der Luft, die sie zum Atmen verschaffe - dort hinten, im Zauberreich der Möglichkeitsform, in der man immer an sie denkt und nicht von ihnen spricht.
CHRISTIAN GEYER
Dirk Baecker, Alexander Kluge: "Vom Nutzen ungelöster Probleme". Merve Verlag, Berlin 2003. 143 S., br., 12,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Hat Mehdorn Baecker gelesen? Er muss", vermutet Christian Geyer. Schließlich lege ein Blick auf die Reformen der Deutschen Bahn, die jetzt ihrerseits reformiert werden sollen, nahe: Der Mann weiß, dass Weiterentwicklung nur ein Hangeln von Scheitern zu Scheitern sein kann. Und das, so Geyer, ist der zentrale Gedanke von Dirk Baecker, der in mehreren Gesprächen mit Alexander Kluge das "fremde Zauberreich" des Wirtschaftsunternehmens besichtigte. Der Systemtheoretiker Baecker, seit langem "als reisender Enthusiast dem Seltsamen und Tollen der Managementphilosophien auf der Spur", rufe die Ära des "postheroischen Managements" aus: Der postheroische Manager pflege seine Probleme, weil es nur so immer weitergehe - siehe Mehdorn. Unterdessen wittert Kluge "untrüglich die große Kunst", erklärt der begeisterte Rezensent, der ihr ausführliches Gespräch "ebenso lesbar wie inspirierend" findet - wo sonst erfahre man, wie nahe sich "Preissystemtheorie" und Systemtheorie stehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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