Liz Bergmann lebt in Blossom, einer amerikanischen Kleinstadt im Mittleren Western mit einer bedeutenden Universität. Eine Liebesgeschichte und ihre Doktorarbeit haben sie aus Deutschland an diesen Rand der Welt verschlagen. Nach einer gescheiterten Ehe arbeitet sie jetzt als Dozentin für kreatives Schreiben. Sie ist eine Frau zwischen den Kontinenten, zwischen amerikanischer Gegenwart und deutscher Vergangenheit, zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen, zwischen ihrem Job und dem Bestreben, sich selbst im Schreiben zu verwirklichen.In der Abgeschlossenheit der Campuswelt mit ihren tragikomischen Menschenschicksalen, brutalen und poetischen Momenten droht Liz sich zu verlieren. Sie fängt an, nach ihren familiären Wurzeln zu forschen und bringt sich dabei selbst in Gefahr. Erst ein Zufall führt sie auf die richtige Spur. Sie beginnt einen Roman über die abenteuerliche Riese ihre Urgroßmutter mit der Transsibirischen Eisenbahn nach China und findet so zu ihrer eigenen Geschichte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2004Phantome am Schreibtisch
Christa Hein weiß: Der Autor steht immer am Rand der Welt
Liz hat sich weit von den Wurzeln ihrer Herkunft entfernt. Eine Liebe und ein Dissertationsprojekt - beides inzwischen abgeschlossen - haben sie in den mittleren Westen der Vereinigten Staaten geführt. Am Provinzcampus von Blossom unterrichtet sie jetzt kreatives Schreiben und versucht vor allem, der eigenen Kunstfertigkeit auf die Sprünge zu helfen. Da stellt sich zur rechten Zeit ein Familientrauma ein. Hat die Mutter nicht auffallend geschwiegen, sobald die Sprache auf die Großmutter kam? Harrt hier etwa ein dunkles Geheimnis der Aufklärung? "Familie wirst du nie los, egal wie weit fort du dich begibst" - das klingt nach einem Verdammungsurteil und ist zugleich die Hoffnung einer Schreibwilligen.
Die Großmutter beging im Alter von fünfzig Jahren Selbstmord. Als die Tochter sie entdeckte, am Dachbalken erhängt, kam es zu einer Frühgeburt: Die Enkelin Liz wird geboren. "Es hat mich immer fasziniert, daß sie beerdigt wurde im selben Moment, als ich auf die Welt kam. Als habe es da eine besondere Verbindung gegeben zwischen uns." Liz entschließt sich zu einer belletristischen Wurzelbehandlung. Im Zeichen einer Schreibidee macht sie sich auf den Weg zu den Müttern, verfolgt die Spuren ihrer Großmutter und recherchiert zugleich die Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Riga lebte. Dort arbeitete sie als Fotografin, verließ dann ihre bürgerliche Umgebung, reiste in die Mandschurei und erlebte den Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges mit. Ein außergewöhnliches Frauenschicksal, wie geschaffen für einen gehobenen Unterhaltungsroman. Christa Hein, die selbst als Dozentin in den Vereinigten Staaten arbeitete, hat diesen Roman bereits geschrieben. Er heißt "Der Blick durch den Spiegel" und wurde 1998 als bemerkenswertes Debüt verbucht. Fünf Jahre später ist sich die Autorin schon historisch geworden. Mit "Vom Rand der Welt" legt sie den autobiographisch grundierten Roman eines Romans vor.
Bedingung des Künstlerromans seit der Romantik war der mit ersatzreligiöser Aura aufgeladene Begriff des Schöpferischen. Der dargestellte Dichter, Maler oder Musiker war eine mal heroisch-erhabene, mal jämmerliche, noch öfter aus beidem gemischte, auf jeden Fall aber einzelgängerische Figur. Hier nun ist der Begriff Künstler im demokratischen Plural des Schreibkurses zu verstehen. Und so hören sich die Diskussionen und Kommentare der Teilnehmer denn auch an: "Schreiben ist wie Lieben. Für beides gilt: Du mußt dich ganz und gar drauf einlassen." Oder: "Du mußt Vibrations in deinen Text bringen . . . Goddammit." Oder auch: "Die negative Wirkung des Schreibens. Es kann dir den Boden unter den Füßen wegziehen. Du wirst ein Inbetweener. Du wirst ein Chamäleon, ein Phantom." Oder: "Ein echter Katalysator, dieser Text." Oder: "Meine Agentin ist Spitze." Und alle vertrauen auf Wahrheiten wie: "Man braucht kein aufregendes Leben zu führen, um gute Bücher zu schreiben."
Glücklicherweise hat Liz' Leben doch einige Aufregung zu bieten. Geschickt baut Christa Hein zwischen die Berichte aus tausendundeiner Seminarstunde Thrillermodule ein. Zum einen gerät die Heldin bei ihren familiären Recherchen immer wieder in bedrohliche Situationen; zum anderen treiben sich in dem Universitätsstädtchen bei Nacht düstere Gestalten bevorzugt vor den beleuchteten Fenstern alleinlebender Frauen herum: die "Strumpfmaske", der "Mann mit der Gockelfrisur". Eine Professorin ist bereits ermordet worden; Liz erhält Drohanrufe. Ihr Wohnzimmer wird zum Schauplatz eines grausigen Ritualmords - wenn auch nur an der Katze. Zu allem Übel geschehen mysteriöse Entleihvorgänge in der Universitätsbibliothek. Wieso sind neuerdings immer jene Bücher vorbestellt, die jahrelang niemand lesen wollte, die nun aber Liz für ihre Recherchen so dringend braucht?
So kommt bei aller Langwierigkeit keine Langeweile auf, was angesichts der zerfädelten Handlung und der vielen Exkurse in fremde Lebensgeschichten kein kleines Kunststück ist. Liz hört nicht nur den Beichten ihrer Freunde, Kollegen und Studenten mit dem stets geneigten Ohr der stoffsammelnden Jungautorin zu; sie arbeitet auch an einem Projekt über "deutsche Ausgewanderte" und führt zu diesem Zweck Interviews mit Deutschamerikanern. Wie paßt das alles zusammen? "Reine Zufälle gibt es nicht, davon ist sie inzwischen längst überzeugt." Sofern der Leser diese Annahme teilt, wird er im scheinbar beliebigen Neben- und Nacheinander der zahlreichen Schicksalsberichte Zusammenhänge erkennen.
Immer wieder werden Passagen des geplanten Romans und andere Stilübungen einmontiert. Wenn Liz in der Frühe über den "tauglitzernden Rasen" geht und das "unwiederbringlich Köstliche dieses Morgens wahrnimmt", dann will der Moment festgehalten werden: "Sie läuft, um Papier und Stift zu holen, im Ohr die Worte ,Allem Anfang wohnt ein Zauber inne', weiß sie doch: Der Augenblick des Anfangens ist der fragilste im ganzen Prozeß des Schaffens und enthält zugleich die größte Magie . . . Höchste Wahrnehmungsbereitschaft, höchste Konzentration und größte Empfindlichkeit müssen sich verbinden, damit aus dem Empfinden der Prozeß des Gestaltens hervorgehen kann, nicht greifbarer als die Veränderung des Lichts auf einem vor kurzem erblühten Kirschbaum in der Nacht in jenem Augenblick, in dem der Mond hinter einer ziehenden Wolke hervorkommt . . ."
Gegen den handwerklichen Geist des creative writing hält hier doch wieder die Genieästhetik des durch Inspiration geadelten Moments Einzug. Allerdings widerlegt sich die Textpassage selbst, denn die abgegriffenen Bilder und Worte, vom "glitzernden" Tau über den "fragilen" Moment und die "Magie" bis hin zu der etwas kompliziert geratenen Kirschbaummetapher, zeugen eben nur von mittlerer Wahrnehmungsbereitschaft, Konzentration, Empfindlichkeit.
Am Ende darf sich Liz über einen Autorenvertrag freuen. "Historischer Roman. Sehr unterhaltsam. Prall erzählt, mit einem Schuß Orientexpress-Spannung" - so lauten die Vorgaben von Ms. Zuckerman, der Literaturagentin. Ein Blick auf den Buchumschlag zeigt, daß es sich auch dabei um augenzwinkernde Selbstreferentialität handelt. Denn dort findet man unter den lobenden Pressestimmen genau diese Formulierung - als Zitat aus einer "Brigitte"-Rezension von Christa Heins Debüt.
WOLFGANG SCHNEIDER
Christa Hein: "Vom Rand der Welt". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2003. 452 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christa Hein weiß: Der Autor steht immer am Rand der Welt
Liz hat sich weit von den Wurzeln ihrer Herkunft entfernt. Eine Liebe und ein Dissertationsprojekt - beides inzwischen abgeschlossen - haben sie in den mittleren Westen der Vereinigten Staaten geführt. Am Provinzcampus von Blossom unterrichtet sie jetzt kreatives Schreiben und versucht vor allem, der eigenen Kunstfertigkeit auf die Sprünge zu helfen. Da stellt sich zur rechten Zeit ein Familientrauma ein. Hat die Mutter nicht auffallend geschwiegen, sobald die Sprache auf die Großmutter kam? Harrt hier etwa ein dunkles Geheimnis der Aufklärung? "Familie wirst du nie los, egal wie weit fort du dich begibst" - das klingt nach einem Verdammungsurteil und ist zugleich die Hoffnung einer Schreibwilligen.
Die Großmutter beging im Alter von fünfzig Jahren Selbstmord. Als die Tochter sie entdeckte, am Dachbalken erhängt, kam es zu einer Frühgeburt: Die Enkelin Liz wird geboren. "Es hat mich immer fasziniert, daß sie beerdigt wurde im selben Moment, als ich auf die Welt kam. Als habe es da eine besondere Verbindung gegeben zwischen uns." Liz entschließt sich zu einer belletristischen Wurzelbehandlung. Im Zeichen einer Schreibidee macht sie sich auf den Weg zu den Müttern, verfolgt die Spuren ihrer Großmutter und recherchiert zugleich die Lebensgeschichte ihrer Urgroßmutter, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Riga lebte. Dort arbeitete sie als Fotografin, verließ dann ihre bürgerliche Umgebung, reiste in die Mandschurei und erlebte den Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges mit. Ein außergewöhnliches Frauenschicksal, wie geschaffen für einen gehobenen Unterhaltungsroman. Christa Hein, die selbst als Dozentin in den Vereinigten Staaten arbeitete, hat diesen Roman bereits geschrieben. Er heißt "Der Blick durch den Spiegel" und wurde 1998 als bemerkenswertes Debüt verbucht. Fünf Jahre später ist sich die Autorin schon historisch geworden. Mit "Vom Rand der Welt" legt sie den autobiographisch grundierten Roman eines Romans vor.
Bedingung des Künstlerromans seit der Romantik war der mit ersatzreligiöser Aura aufgeladene Begriff des Schöpferischen. Der dargestellte Dichter, Maler oder Musiker war eine mal heroisch-erhabene, mal jämmerliche, noch öfter aus beidem gemischte, auf jeden Fall aber einzelgängerische Figur. Hier nun ist der Begriff Künstler im demokratischen Plural des Schreibkurses zu verstehen. Und so hören sich die Diskussionen und Kommentare der Teilnehmer denn auch an: "Schreiben ist wie Lieben. Für beides gilt: Du mußt dich ganz und gar drauf einlassen." Oder: "Du mußt Vibrations in deinen Text bringen . . . Goddammit." Oder auch: "Die negative Wirkung des Schreibens. Es kann dir den Boden unter den Füßen wegziehen. Du wirst ein Inbetweener. Du wirst ein Chamäleon, ein Phantom." Oder: "Ein echter Katalysator, dieser Text." Oder: "Meine Agentin ist Spitze." Und alle vertrauen auf Wahrheiten wie: "Man braucht kein aufregendes Leben zu führen, um gute Bücher zu schreiben."
Glücklicherweise hat Liz' Leben doch einige Aufregung zu bieten. Geschickt baut Christa Hein zwischen die Berichte aus tausendundeiner Seminarstunde Thrillermodule ein. Zum einen gerät die Heldin bei ihren familiären Recherchen immer wieder in bedrohliche Situationen; zum anderen treiben sich in dem Universitätsstädtchen bei Nacht düstere Gestalten bevorzugt vor den beleuchteten Fenstern alleinlebender Frauen herum: die "Strumpfmaske", der "Mann mit der Gockelfrisur". Eine Professorin ist bereits ermordet worden; Liz erhält Drohanrufe. Ihr Wohnzimmer wird zum Schauplatz eines grausigen Ritualmords - wenn auch nur an der Katze. Zu allem Übel geschehen mysteriöse Entleihvorgänge in der Universitätsbibliothek. Wieso sind neuerdings immer jene Bücher vorbestellt, die jahrelang niemand lesen wollte, die nun aber Liz für ihre Recherchen so dringend braucht?
So kommt bei aller Langwierigkeit keine Langeweile auf, was angesichts der zerfädelten Handlung und der vielen Exkurse in fremde Lebensgeschichten kein kleines Kunststück ist. Liz hört nicht nur den Beichten ihrer Freunde, Kollegen und Studenten mit dem stets geneigten Ohr der stoffsammelnden Jungautorin zu; sie arbeitet auch an einem Projekt über "deutsche Ausgewanderte" und führt zu diesem Zweck Interviews mit Deutschamerikanern. Wie paßt das alles zusammen? "Reine Zufälle gibt es nicht, davon ist sie inzwischen längst überzeugt." Sofern der Leser diese Annahme teilt, wird er im scheinbar beliebigen Neben- und Nacheinander der zahlreichen Schicksalsberichte Zusammenhänge erkennen.
Immer wieder werden Passagen des geplanten Romans und andere Stilübungen einmontiert. Wenn Liz in der Frühe über den "tauglitzernden Rasen" geht und das "unwiederbringlich Köstliche dieses Morgens wahrnimmt", dann will der Moment festgehalten werden: "Sie läuft, um Papier und Stift zu holen, im Ohr die Worte ,Allem Anfang wohnt ein Zauber inne', weiß sie doch: Der Augenblick des Anfangens ist der fragilste im ganzen Prozeß des Schaffens und enthält zugleich die größte Magie . . . Höchste Wahrnehmungsbereitschaft, höchste Konzentration und größte Empfindlichkeit müssen sich verbinden, damit aus dem Empfinden der Prozeß des Gestaltens hervorgehen kann, nicht greifbarer als die Veränderung des Lichts auf einem vor kurzem erblühten Kirschbaum in der Nacht in jenem Augenblick, in dem der Mond hinter einer ziehenden Wolke hervorkommt . . ."
Gegen den handwerklichen Geist des creative writing hält hier doch wieder die Genieästhetik des durch Inspiration geadelten Moments Einzug. Allerdings widerlegt sich die Textpassage selbst, denn die abgegriffenen Bilder und Worte, vom "glitzernden" Tau über den "fragilen" Moment und die "Magie" bis hin zu der etwas kompliziert geratenen Kirschbaummetapher, zeugen eben nur von mittlerer Wahrnehmungsbereitschaft, Konzentration, Empfindlichkeit.
Am Ende darf sich Liz über einen Autorenvertrag freuen. "Historischer Roman. Sehr unterhaltsam. Prall erzählt, mit einem Schuß Orientexpress-Spannung" - so lauten die Vorgaben von Ms. Zuckerman, der Literaturagentin. Ein Blick auf den Buchumschlag zeigt, daß es sich auch dabei um augenzwinkernde Selbstreferentialität handelt. Denn dort findet man unter den lobenden Pressestimmen genau diese Formulierung - als Zitat aus einer "Brigitte"-Rezension von Christa Heins Debüt.
WOLFGANG SCHNEIDER
Christa Hein: "Vom Rand der Welt". Roman. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2003. 452 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wolfgang Schneider ist nicht gerade begeistert, aber auch nicht enttäuscht von Christa Heins zweitem Roman, der eigentlich von der Entstehung ihres Erstlings handelt. Denn die Heldin, berichtet er, ist Dozentin für kreatives Schreiben an einer US-Provinzuni und erforscht nebenbei ihre eigenen Familiengeschichte (die Großmutter brachte sich um, die Urgroßmutter verließ die Bürgerwelt und reiste allein durch die Mandschurei), um darüber einen Roman zu schreiben - wie Christa Hein vor fünf Jahren. Es gibt also, rekapituliert Schneider, die Geschichte eines Schreibprozesses, die Recherche nach den eigenen Wurzeln und außerdem "Berichte aus tausendundeiner Seminarstunde", doch keine Angst - Christa Hein baue geschickt "Thrillermodule" ein, lässt geheimnisvolle Unbekannte auftreten und "mysteriöse Entleihvorgänge in der Universitätsbibliothek" geschehen, und so komme keine Langeweile auf. Und das, so der Rezensent, ist doch schon mal was.
© Perlentaucher Medien GmbH
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