Jonas hat seine Familie bei einem tragischen Unfall verloren. Das Leben scheint nur noch an ihm vorbeizuziehen, bis er eines Tages an einem Schwimmmarathon teilnimmt. Im Wasser ist er plötzlich allein mit seinen Gedanken und Erinnerungen - und beschließt, den Stand der Dinge sofort zu ändern!
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.11.2001Epiphanie für Nichtschwimmer
Nach dreihundert Bahnen steigt Markus Seidel aus dem Becken
Am Beckenrand signalisiert der Trainer eine Einundzwanzig. So viele Bahnen hat der Schwimmer schon geschafft, mehr als sechshundert liegen noch vor ihm, wenn er den Langstreckenrekord, wie allseits erwartet, überbieten will. Pro Bahn benötigt er etwa vierzig Sekunden. Es wird nicht nur viel Kraft und Atem, sondern auch einiges an Zeit kosten, bis es soweit ist. Was Schwimmern wohl so durch den Kopf geht, wenn sie stundenlang durchs Becken kraulen?
"Während man schwimmt, kommen einem manchmal die verrücktesten Gedanken, man hat schließlich genügend Zeit zum Nachdenken. Was bleibt einem auch anderes übrig - man kann nicht lesen, nicht fernsehen, man kann sich mit niemandem unterhalten und kein Radio hören."
Gedankenprotokolle eines Leistungsschwimmers sind es, die Markus Seidel uns in seinem kurzen Roman übermittelt - ganz so, als könnten wir dem Wassersportler Bahn für Bahn in seinen Eindrücken, Erinnerungen und Assoziationen folgen.
Bei Bahn dreiunddreißig fällt ihm ein Schlager aus dem Radio ein; nach der nächsten Wende denkt er an die kleine Schwester, die ständig "My Way" von Sinatra hören wollte; bei Bahn siebzig erinnert ihn eine bunte Badehose an seinen Zwillingsbruder; und nach hundert Bahnen erfahren wir dann auch, warum hier fortwährend Familienbilder auftauchen. Eltern und Geschwister sind ein Jahr zuvor bei einem Autounfall umgekommen; die Nachricht von dem Unglück erreichte den knapp Zwanzigjährigen, als er gerade siegreich von einem Schwimmwettkampf zurückkam.
Seither hat er sich zwar im Trockenen neu eingerichtet, die Trauerarbeit findet jedoch unwillig und nur im Wasser statt, wenn man weder fernsehen noch Radio hören kann.
Ein guter Rhythmus sei das Wichtigste, um Erfolg zu haben, sagt der Trainer. Diesem Rat folgend, rhythmisiert auch der Autor den Erzählfluß gekonnt und routiniert in einer Weise, daß man seine Geschichte weder atem- noch interesselos verfolgt. Bei etlichen Figuren vertraut er allzu sehr bewährten Mustern und bietet nicht nur einen strengen Übervater, sondern auch noch eine libidinös besetzte Ersatzmutter auf, um die Krise seines Helden zu gestalten. Interessant wird es aber, als dieser bei Bahn dreihundert beschließt, allen Erwartungen zu trotzen, aus dem Becken steigt und die Schwimmhalle verläßt. Wie es ihm im weiteren Verlauf des Tages eher zufällig gelingt, sein Leben in die Hand zu nehmen, ist wohl eine kleine Epiphanie, von der auch Nichtschwimmer profitieren mögen.
TOBIAS DÖRING
Markus Seidel: "Vom Stand der Dinge". Roman. Schneekluth Verlag, München 2001. 168 S., geb., 34,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach dreihundert Bahnen steigt Markus Seidel aus dem Becken
Am Beckenrand signalisiert der Trainer eine Einundzwanzig. So viele Bahnen hat der Schwimmer schon geschafft, mehr als sechshundert liegen noch vor ihm, wenn er den Langstreckenrekord, wie allseits erwartet, überbieten will. Pro Bahn benötigt er etwa vierzig Sekunden. Es wird nicht nur viel Kraft und Atem, sondern auch einiges an Zeit kosten, bis es soweit ist. Was Schwimmern wohl so durch den Kopf geht, wenn sie stundenlang durchs Becken kraulen?
"Während man schwimmt, kommen einem manchmal die verrücktesten Gedanken, man hat schließlich genügend Zeit zum Nachdenken. Was bleibt einem auch anderes übrig - man kann nicht lesen, nicht fernsehen, man kann sich mit niemandem unterhalten und kein Radio hören."
Gedankenprotokolle eines Leistungsschwimmers sind es, die Markus Seidel uns in seinem kurzen Roman übermittelt - ganz so, als könnten wir dem Wassersportler Bahn für Bahn in seinen Eindrücken, Erinnerungen und Assoziationen folgen.
Bei Bahn dreiunddreißig fällt ihm ein Schlager aus dem Radio ein; nach der nächsten Wende denkt er an die kleine Schwester, die ständig "My Way" von Sinatra hören wollte; bei Bahn siebzig erinnert ihn eine bunte Badehose an seinen Zwillingsbruder; und nach hundert Bahnen erfahren wir dann auch, warum hier fortwährend Familienbilder auftauchen. Eltern und Geschwister sind ein Jahr zuvor bei einem Autounfall umgekommen; die Nachricht von dem Unglück erreichte den knapp Zwanzigjährigen, als er gerade siegreich von einem Schwimmwettkampf zurückkam.
Seither hat er sich zwar im Trockenen neu eingerichtet, die Trauerarbeit findet jedoch unwillig und nur im Wasser statt, wenn man weder fernsehen noch Radio hören kann.
Ein guter Rhythmus sei das Wichtigste, um Erfolg zu haben, sagt der Trainer. Diesem Rat folgend, rhythmisiert auch der Autor den Erzählfluß gekonnt und routiniert in einer Weise, daß man seine Geschichte weder atem- noch interesselos verfolgt. Bei etlichen Figuren vertraut er allzu sehr bewährten Mustern und bietet nicht nur einen strengen Übervater, sondern auch noch eine libidinös besetzte Ersatzmutter auf, um die Krise seines Helden zu gestalten. Interessant wird es aber, als dieser bei Bahn dreihundert beschließt, allen Erwartungen zu trotzen, aus dem Becken steigt und die Schwimmhalle verläßt. Wie es ihm im weiteren Verlauf des Tages eher zufällig gelingt, sein Leben in die Hand zu nehmen, ist wohl eine kleine Epiphanie, von der auch Nichtschwimmer profitieren mögen.
TOBIAS DÖRING
Markus Seidel: "Vom Stand der Dinge". Roman. Schneekluth Verlag, München 2001. 168 S., geb., 34,90 DM.
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"Schwimmen und denken - eine grandiose Idee für ein Buch! Markus Seidels Held plaudert so herzerfrischend wie Holden Caulfield in Salingers "Fänger im Roggen". Man mag sich kaum von ihm trennen." (Max)
"Eine Epiphanie, von der auch Nichtschwimmer profitieren." (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
"Eine Epiphanie, von der auch Nichtschwimmer profitieren." (Frankfurter Allgemeine Zeitung)