Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996Der Numinose in der Anstaltshose
Religion im Kaiserreich, ein Rundgang / Von Kurt Nowak
Seit kurzem entdeckt die deutsche Geschichtswissenschaft das Thema Religion in der Moderne. Beliebtester Tummelplatz ist das Kaiserreich. Bücher über die religiöse Kultur in der bismarckisch-wilhelminischen Epoche sind schon keine Randerscheinungen mehr im Wissenschaftsbetrieb. Sie stehen für eine Tendenz. Ihr zollen inzwischen selbst jene Historiker Tribut, denen die Religion in modernen Gesellschaften als kaum noch historiographiefähige Marginalie galt.
Ein Jahr nach der Reichsgründung hielt der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht eine Rede vor dem Dresdener Arbeiterbildungsverein. Die Zeitungen, so Liebknecht erregt, seien voll von militärischen und von kirchlichen Angelegenheiten. "Religiöse Fragen sind in keiner Epoche der deutschen Geschichte mit größerem Eifer . . . behandelt worden als in diesem Momente. Man glaubt sich in die wüstesten Zeiten der Reformation zurückversetzt."
Wer sich in die historische Überlieferung der Kaiserzeit versenkt, hat es auf Schritt und Tritt mit Religion zu tun. Man fragt sich, warum die deutsche Geschichtswissenschaft die Unmenge der Texte, Bilder, Bauten und phonographischen Dokumente jahrzehntelang mit soviel Desinteresse liegen ließ. Beachtung fanden Religion, Kirchen und Konfessionen nur in der Forschung zum Kulturkampf der Bismarck-Ära, zur Regierungs- und Parlamentspolitik und zum Antisemitismus. Lediglich kleine Fähnchen von Spezialisten der Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung nährten die Flamme der religionsbezogenen Forschung.
Zwischen 1880 und 1914 schlug die Religion in Deutschland hohe Wellen, behauptet Christoph Ribbat in seiner Bochumer Dissertation. Evangelisten wie Elias Schrenk reisten durchs Land. In Masuren, in Hessen, im Rheinland schossen Gebetsvereine aus dem Boden. Die Belletristik reagierte auf die religiösen Erregungen der Zeit mit seismographischer Präzision. Der 1910 erschienene Roman "Narr in Christo Emanuel Quint" von Gerhart Hauptmann quillt über von Religion. Ribbat liest das Buch (achtzehn Auflagen in zwei Jahren!) als Quelle der Zeitgeschichte. Hauptmann bereitete sich auf den "Quint" durch den Besuch von Veranstaltungen der Salvation Army vor und hielt die "dionysische Exaltation" der Bekehrten fest.
Neben der Heilsarmee waren die Methodisten, Baptisten, Neuapostolischen erfolgreich. In Barmen, so berichtete ein Kirchenmann, zogen die Fabrikmädchen in den Pausen statt der Kolportageromane das Neue Testament hervor. Die Zeltmission, 1902 begründet, eroberte die Kirmesplätze der Großstädte.
War die Renaissance der Religion ein frommer Karneval der Dienstmädchen, Handwerker, Prostituierten, kleinen Angestellten? Dem gebildeten Bürgertum blieben die expressiv-schwärmerischen Äußerungen der Religion zutiefst fremd. Adolf von Harnack, der große Theologe des liberalen Protestantismus, erklärte: Die Religion steht um so höher, je ruhiger, freudiger und friedvoller sie den ganzen Menschen durchdringt. Journalisten und Wissenschaftler meinten zu wissen, wohin die religiösen Ekstatiker unaufhaltsam abdrifteten, nämlich in den Abgrund des Wahnsinns. Das "Archiv für Religionswissenschaft" zeigte die Fotografie eines Baptisten im gestreiften Anstaltskittel, Teil einer Datensammlung zur Klassifikation von Verirrungen. Ein Mediziner analysierte Jesus Christus als psychopathologischen Kasus. Seinen Untergang habe Jesus durch den unvermeidlichen Zusammenprall von Wahn und Wirklichkeit selber verschuldet.
Auch die religiöse Hochkultur befand sich in voller und unübersichtlicher Bewegung. Konservative standen gegen Liberale, Lebensreformer gegen Kirchenfromme, Agnostiker gegen Pantheisten. Das Wort vom Altern und vom Tod des Christentums lief um - Ausdruck des Krisenbewußtseins der Jahrhundertwende bei den einen, des Anspruchs auf Neuschaffung der geistigen Grundlagen der Welt bei den anderen. "Religion im Umbruch" nannte Thomas Nipperdey das Phänomen. Ihm verdankt die deutsche Geschichtswissenschaft ein kräftiges Memento in Sachen Religion.
Die etablierte Religionskultur stand auf brüchigeren Fundamenten, als es der Umgang ihrer Repräsentanten mit der religiösen "Subkultur" verriet. Der Historismus relativierte die Religionen, die Psychologen schlugen die Akten im Archiv der menschlichen Seele auf und erklärten die Religion zur Funktion der Nerventätigkeit. Erkenntnistheoretiker belegten die logische Inkonsistenz der religiösen Sprache. Andererseits schien allein die Religion beim Sturz in Unübersichtlichkeit und Sinnverlust noch Halt geben zu können. Metaphysische Auswegslosigkeit in der industriell und bürokratisch "entzauberten Welt" war nicht jedermanns Sache.
Fin de siècle. Krisenstimmung allerorten? Die Geschichtswissenschaft ist nüchtern genug, auch noch anderes zu sehen. Die aktuellen Forschungen zu den Kirchen, zur Vereinskultur, zu den sozialmoralischen Milieus der Katholiken und Protestanten zeigen es. Die Genugtuung vor allem jüngerer Historiker, den Spuren des einstigen Stiefkindes Religion in der Gesellschaft der Kaiserzeit überall zu begegnen, läßt bei ihnen die Diagnose der Krise in die Euphorie der methodischen Innovation umschlagen. "Überall wächst die Erkenntnis", stellen Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann in dem Sammelband "Religion im Kaiserreich" fest, "daß der Religion eine entscheidende Bedeutung für das Verständnis der geschichtlichen Wirklichkeit im 19. Jahrhundert zukommt."
Die sozialdemokratischen Katholiken in München interessieren ebenso wie die Sozialgeschichte des Herz-Jesu-Kults und die protestantische Milieubildung in Oldenburg. Durch die religiöse Feldforschung werden die geistigen Gebäude des Kaiserreichs nochmals freigelegt, und was die Archäologen der Moderne dabei zutage fördern, ist erstaunlich.
Wer sich nur mit der religiösen Hochkultur befaßt, verliert den Blick aufs Ganze auf andere Art als die historischen Rekonstrukteure des "lunatic fringe". Ein integrierender Aspekt ist der Weltbildwandel. Über ihn ist bereits so viel geschrieben worden, daß schon nicht mehr seine Faktizität die Gemüter der Nachlebenden fesselt, als vielmehr die Kompetenz der Zeitgenossen, ihn geistig und lebenspraktisch zu bewältigen. Die krisenanalytische Kraft der Philosophie, der Soziologie, der Theologie und weiterer Disziplinen im Spektrum der Geistes- und Sozialwissenschaften wird in dem Sammelband von Volker Drehsen und Walter Sparn "Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse" nicht nur zu einem wissenschaftsgeschichtlich glangvollen Thema. Welche kulturellen Gewinne werden erzielt und von welchen Verlustbilanzen sind sie begleitet, wenn Weltanschauungen der "Verwissenschaftlichung" und Wissenschaften der "Verweltanschaulichung" unterliegen?
Ziemlich unberührt davon bleiben die Natur- und Technikwissenschaften. Sie feierten die Industrialisierung des Erdballs und die Emanzipation des Menschen von der Natur als größten Sieg der Menschheit. Vom Bierlokal zur Kathedrale, von der Todessehnsucht zum Triumph der Technik: in solchen und weiteren Widersprüchen steht das wilhelminische Deutschland vor uns. Die geschichtswissenschaftlichen Neuentdeckungen führen zur Freilegung versteckter Bedeutungssysteme. Die im Lichte der Religion betrachteten Texte, Gesten und Optionen der Kaiserzeit steigern unser Bewußtsein der Ambivalenz: Zeit der Ungewißheit.
Christoph Ribbat: "Religiöse Erregung". Protestantische Schwärmer im Kaiserreich. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 1996. 292 S., br., 58,- DM.
Olaf Blaschke / Frank-Michael Kuhlemann (Hrsg.): "Religion im Kaiserreich". Milieus - Mentalitäten - Krisen. Band 2: Religiöse Kulturen der Moderne. Verlag Christian Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1996. 542 S., geb., 148,- DM.
Volker Drehsen / Walter Sparn (Hrsg.): "Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse". Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900. Akademie Verlag, Berlin 1996. 244 S., geb., 98,- DM.
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Religion im Kaiserreich, ein Rundgang / Von Kurt Nowak
Seit kurzem entdeckt die deutsche Geschichtswissenschaft das Thema Religion in der Moderne. Beliebtester Tummelplatz ist das Kaiserreich. Bücher über die religiöse Kultur in der bismarckisch-wilhelminischen Epoche sind schon keine Randerscheinungen mehr im Wissenschaftsbetrieb. Sie stehen für eine Tendenz. Ihr zollen inzwischen selbst jene Historiker Tribut, denen die Religion in modernen Gesellschaften als kaum noch historiographiefähige Marginalie galt.
Ein Jahr nach der Reichsgründung hielt der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht eine Rede vor dem Dresdener Arbeiterbildungsverein. Die Zeitungen, so Liebknecht erregt, seien voll von militärischen und von kirchlichen Angelegenheiten. "Religiöse Fragen sind in keiner Epoche der deutschen Geschichte mit größerem Eifer . . . behandelt worden als in diesem Momente. Man glaubt sich in die wüstesten Zeiten der Reformation zurückversetzt."
Wer sich in die historische Überlieferung der Kaiserzeit versenkt, hat es auf Schritt und Tritt mit Religion zu tun. Man fragt sich, warum die deutsche Geschichtswissenschaft die Unmenge der Texte, Bilder, Bauten und phonographischen Dokumente jahrzehntelang mit soviel Desinteresse liegen ließ. Beachtung fanden Religion, Kirchen und Konfessionen nur in der Forschung zum Kulturkampf der Bismarck-Ära, zur Regierungs- und Parlamentspolitik und zum Antisemitismus. Lediglich kleine Fähnchen von Spezialisten der Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung nährten die Flamme der religionsbezogenen Forschung.
Zwischen 1880 und 1914 schlug die Religion in Deutschland hohe Wellen, behauptet Christoph Ribbat in seiner Bochumer Dissertation. Evangelisten wie Elias Schrenk reisten durchs Land. In Masuren, in Hessen, im Rheinland schossen Gebetsvereine aus dem Boden. Die Belletristik reagierte auf die religiösen Erregungen der Zeit mit seismographischer Präzision. Der 1910 erschienene Roman "Narr in Christo Emanuel Quint" von Gerhart Hauptmann quillt über von Religion. Ribbat liest das Buch (achtzehn Auflagen in zwei Jahren!) als Quelle der Zeitgeschichte. Hauptmann bereitete sich auf den "Quint" durch den Besuch von Veranstaltungen der Salvation Army vor und hielt die "dionysische Exaltation" der Bekehrten fest.
Neben der Heilsarmee waren die Methodisten, Baptisten, Neuapostolischen erfolgreich. In Barmen, so berichtete ein Kirchenmann, zogen die Fabrikmädchen in den Pausen statt der Kolportageromane das Neue Testament hervor. Die Zeltmission, 1902 begründet, eroberte die Kirmesplätze der Großstädte.
War die Renaissance der Religion ein frommer Karneval der Dienstmädchen, Handwerker, Prostituierten, kleinen Angestellten? Dem gebildeten Bürgertum blieben die expressiv-schwärmerischen Äußerungen der Religion zutiefst fremd. Adolf von Harnack, der große Theologe des liberalen Protestantismus, erklärte: Die Religion steht um so höher, je ruhiger, freudiger und friedvoller sie den ganzen Menschen durchdringt. Journalisten und Wissenschaftler meinten zu wissen, wohin die religiösen Ekstatiker unaufhaltsam abdrifteten, nämlich in den Abgrund des Wahnsinns. Das "Archiv für Religionswissenschaft" zeigte die Fotografie eines Baptisten im gestreiften Anstaltskittel, Teil einer Datensammlung zur Klassifikation von Verirrungen. Ein Mediziner analysierte Jesus Christus als psychopathologischen Kasus. Seinen Untergang habe Jesus durch den unvermeidlichen Zusammenprall von Wahn und Wirklichkeit selber verschuldet.
Auch die religiöse Hochkultur befand sich in voller und unübersichtlicher Bewegung. Konservative standen gegen Liberale, Lebensreformer gegen Kirchenfromme, Agnostiker gegen Pantheisten. Das Wort vom Altern und vom Tod des Christentums lief um - Ausdruck des Krisenbewußtseins der Jahrhundertwende bei den einen, des Anspruchs auf Neuschaffung der geistigen Grundlagen der Welt bei den anderen. "Religion im Umbruch" nannte Thomas Nipperdey das Phänomen. Ihm verdankt die deutsche Geschichtswissenschaft ein kräftiges Memento in Sachen Religion.
Die etablierte Religionskultur stand auf brüchigeren Fundamenten, als es der Umgang ihrer Repräsentanten mit der religiösen "Subkultur" verriet. Der Historismus relativierte die Religionen, die Psychologen schlugen die Akten im Archiv der menschlichen Seele auf und erklärten die Religion zur Funktion der Nerventätigkeit. Erkenntnistheoretiker belegten die logische Inkonsistenz der religiösen Sprache. Andererseits schien allein die Religion beim Sturz in Unübersichtlichkeit und Sinnverlust noch Halt geben zu können. Metaphysische Auswegslosigkeit in der industriell und bürokratisch "entzauberten Welt" war nicht jedermanns Sache.
Fin de siècle. Krisenstimmung allerorten? Die Geschichtswissenschaft ist nüchtern genug, auch noch anderes zu sehen. Die aktuellen Forschungen zu den Kirchen, zur Vereinskultur, zu den sozialmoralischen Milieus der Katholiken und Protestanten zeigen es. Die Genugtuung vor allem jüngerer Historiker, den Spuren des einstigen Stiefkindes Religion in der Gesellschaft der Kaiserzeit überall zu begegnen, läßt bei ihnen die Diagnose der Krise in die Euphorie der methodischen Innovation umschlagen. "Überall wächst die Erkenntnis", stellen Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann in dem Sammelband "Religion im Kaiserreich" fest, "daß der Religion eine entscheidende Bedeutung für das Verständnis der geschichtlichen Wirklichkeit im 19. Jahrhundert zukommt."
Die sozialdemokratischen Katholiken in München interessieren ebenso wie die Sozialgeschichte des Herz-Jesu-Kults und die protestantische Milieubildung in Oldenburg. Durch die religiöse Feldforschung werden die geistigen Gebäude des Kaiserreichs nochmals freigelegt, und was die Archäologen der Moderne dabei zutage fördern, ist erstaunlich.
Wer sich nur mit der religiösen Hochkultur befaßt, verliert den Blick aufs Ganze auf andere Art als die historischen Rekonstrukteure des "lunatic fringe". Ein integrierender Aspekt ist der Weltbildwandel. Über ihn ist bereits so viel geschrieben worden, daß schon nicht mehr seine Faktizität die Gemüter der Nachlebenden fesselt, als vielmehr die Kompetenz der Zeitgenossen, ihn geistig und lebenspraktisch zu bewältigen. Die krisenanalytische Kraft der Philosophie, der Soziologie, der Theologie und weiterer Disziplinen im Spektrum der Geistes- und Sozialwissenschaften wird in dem Sammelband von Volker Drehsen und Walter Sparn "Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse" nicht nur zu einem wissenschaftsgeschichtlich glangvollen Thema. Welche kulturellen Gewinne werden erzielt und von welchen Verlustbilanzen sind sie begleitet, wenn Weltanschauungen der "Verwissenschaftlichung" und Wissenschaften der "Verweltanschaulichung" unterliegen?
Ziemlich unberührt davon bleiben die Natur- und Technikwissenschaften. Sie feierten die Industrialisierung des Erdballs und die Emanzipation des Menschen von der Natur als größten Sieg der Menschheit. Vom Bierlokal zur Kathedrale, von der Todessehnsucht zum Triumph der Technik: in solchen und weiteren Widersprüchen steht das wilhelminische Deutschland vor uns. Die geschichtswissenschaftlichen Neuentdeckungen führen zur Freilegung versteckter Bedeutungssysteme. Die im Lichte der Religion betrachteten Texte, Gesten und Optionen der Kaiserzeit steigern unser Bewußtsein der Ambivalenz: Zeit der Ungewißheit.
Christoph Ribbat: "Religiöse Erregung". Protestantische Schwärmer im Kaiserreich. Campus Verlag, Frankfurt am Main, New York 1996. 292 S., br., 58,- DM.
Olaf Blaschke / Frank-Michael Kuhlemann (Hrsg.): "Religion im Kaiserreich". Milieus - Mentalitäten - Krisen. Band 2: Religiöse Kulturen der Moderne. Verlag Christian Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1996. 542 S., geb., 148,- DM.
Volker Drehsen / Walter Sparn (Hrsg.): "Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse". Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900. Akademie Verlag, Berlin 1996. 244 S., geb., 98,- DM.
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