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Produktdetails
  • Nexus Bd.62
  • Verlag: Nexus, Fr. / Stroemfeld
  • Seitenzahl: 176
  • Deutsch
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 300g
  • ISBN-13: 9783861091622
  • ISBN-10: 3861091623
  • Artikelnr.: 10449632
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2003

Nachts, wenn die Verlustangst kommt
Renate Lippert zeigt: Wer einmal den Film "Vom Winde verweht" anguckt, wird es immer wieder tun

Die Psychoanalyse und der Film sind 1895 einer Zwillingsgeburt entsprungen und könnten sich gegenseitig ineinander wiedererkennen; doch seit den gemeinsam von Sigmund Freud mit Josef Breuer verfaßten "Studien über Hysterie" und der ersten öffentlichen Vorführung des Kinematographen durch die Gebrüder Lumière hegen beide gegenüber dem anderen den Vorbehalt, ein Wechselbalg zu sein. Der Film verwahrte sich gegen die Psychoanalyse durch karikatureske Darstellungen ihrer Vertreter, während Sigmund Freud - der 1925 das Angebot des Hollywood-Produzenten Samuel Goldwyn ausschlug, gegen ein Honorar von 100 000 Dollar an der Verfilmung von Szenen aus den berühmtesten Liebesgeschichten aller Zeiten mitzuwirken - die Veranschaulichung psychischer Prozesse auf der Leinwand ausdrücklich als "Albernheit" bezeichnete.

Einen großen Fortschritt machte die psychoanalytische Filmtheorie, als sie sich aus dieser Befangenheit Freuds löste und dazu überging, das kinematographische Setting zu analysieren. Für die Vertreter der sogenannten "Apparatus-Theorie" ist das Kino der Hort eines regressiven Wunsches, der Rückkehr zu jenem utopischen Ort, an dem unter der Sonne des Lustprinzips Wahrnehmung und Vorstellung verschmelzen, ohne daß das unterscheidende Realitätsprinzip seine Licht und Dunkel trennenden Schatten wirft. Hier herrscht die Phantasie als uneingeschränkte Zärtlichkeit des Subjekts zu sich selbst: Seine Vorstellungen berühren es als unmittelbare Wahrnehmung, der Wunsch und seine halluzinatorische Erfüllung sind eins. Diese Einheit teilt sich nur im Medium des Fruchtwassers mit; das Kino soll ein Ersatz für die verlorene Mutter/Kind-Symbiose sein.

Auf diesen "Wunsch des Wunsches" führte Jean-Louis Baudry 1975 in einer mittlerweile legendären Nummer der Zeitschrift "Communications" über "Psychanalyse et cinéma" sowohl das Platonsche Höhlengleichnis wie das kinematographische Dispositiv zurück. Hier wie dort unterbindet die Unbeweglichkeit, zu der die Höhlenbewohner und Kinobesucher verurteilt sind, die Realitätsprüfung und versetzt sie zurück in einen traumähnlichen Zustand.

Genauer als Baudry unterschied der 1993 verstorbene Kinotheoretiker Christian Metz in derselben Nummer zwischen Traum und Film: Während der wache Kinozuschauer unter dem Realitätseindruck des Films steht, unterliegt der Träumer einer Realitätstäuschung, die Schlaf voraussetzt. Die absurden Traumgespinste entspringen den unbewußten Primärprozessen Verdichtung und Verschiebung, während der Film als sekundäre Bearbeitung dem Gebot zur Rationalisierung gehorcht; daher die Unglaubwürdigkeit vieler "Traumsequenzen" in Erzählfilmen. So ist der Film als halluzinatorische Wunscherfüllung auch weniger sicher als der Traum: "Realität ist auch die Phantasie des Anderen", lautet der schöne Satz von Metz, dessen Konsequenzen weit über die Filmtheorie hinausführen.

Diese Brechung reflektiert die Filmwissenschaftlerin und Filmemacherin Renate Lippert aus der Perspektive der Phantasien von und über Frauen im allgemeinen, Scarlett O'Hara, die von Vivien Leigh gespielte Protagonistin in Victor Flemings Südstaatenepos "Vom Winde verweht" (1939), im besonderen. Gegen die ahistorischen Idealisierungen der "Apparatus-Theorie", von der sich beide Geschlechter unterschiedslos in den Kinosessel gebannt sehen, führt sie Jean Laplanches und Jean-Bertrand Pontalis' Begriff der "Urphantasie" ins Feld, um sie der historischen und soziologischen Analyse zu öffnen: Es handelt sich um mythische Dramatisierungen von irreduzibel szenischer Qualität, mit deren Hilfe sich jedes Subjekt den eigenen Ursprung, jenen seiner Sexualität sowie jenen des Geschlechterunterschieds vergegenwärtigt.

Die Nagelprobe macht die Autorin in einer Psychoanalyse der Phantasien von Scarlett O'Hara. Der Wiederholungszwang, durch den sich ihre Persönlichkeit konstituiert, erschöpft sich unerschöpflich im ",Leiden durch Verlust'" - eine Phantasie, die auch dann noch weiter bewirtschaftet wird, als Rhett Butler (Clark Gable) die Protagonistin bereits verlassen hat. "Man kann davon ausgehen, daß in der Gestaltung dieser unbewußten Phantasie - deren Struktur sich nie verändert - die unverminderte Faszination des Films ,Vom Winde verweht' liegt", schreibt Lippert. Tatsächlich sind die Projektionen auf der inneren und der äußeren Leinwand, die dieser Film ermöglicht, äußerst vielfältig. Die Zuschauerin kann denn auch ihre vagen Verlustängste dadurch kompensieren, daß sie sie von Scarlett O'Hara gleichsam vorwegnehmen und bannen läßt. Wesentlich für eine solche stellvertretende Bannung der Verlustängste ist freilich die Entschlußerklärung zur treuen Wiederholung von Scarlett O'Haras Wiederholungszwang. Deshalb wird die fachgerechte Zuschauerin "Vom Winde verweht" immer wieder sehen wollen. Und ihr Exemplar der Buchvorlage wird einen recht zerlesenen Eindruck machen.

MARTIN STINGELIN

Renate Lippert: "Vom Winde verweht". Film und Psychoanalyse. Verlag Stroemfeld/Nexus, Frankfurt am Main, Basel 2003. 176 S., br., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Martin Stingelin leitet seine Besprechung mit einer kurzen Nacherzählung des Verhältnisses von Psychoanalyse und Film sowie der psychoanalytischen Filmdeutung ein, um dann dieses Buch von Renate Lippert einzuordnen und seine Stärken hervorzuheben. So führe die Autorin, "gegen die ahistorischen Idealisierungen der 'Apparatus-Theorie', von der sich beide Geschlechter unterschiedslos in den Kinosessel gebannt sehen", Jean Laplanches und Jean-Bertrand Pontalis' Begriff der "Urfantasie" ins Feld, "um sie der historischen und soziologischen Analyse zu öffnen". So könne Lippert dann zeigen, dass es sich bei den filmischen Phantasien von und über Frauen, "um mythische Dramatisierungen von irreduzibel szenischer Qualität" handele, "mit deren Hilfe sich jedes Subjekt den eigenen Ursprung, jenen seiner Sexualität sowie jenen des Geschlechterunterschieds vergegenwärtigt." Die "Nagelprobe" auf ihre Theorie mache die Autorin dann, berichtet Stingelin weiter, anhand der Fantasien von Scarlett O´Hara, bei denen "der Wiederholungszwang, durch den sich ihre Persönlichkeit konstituiert", sich, wie die Autorin zeige, sich "unerschöpflich im 'Leiden durch Verlust' erschöpft" - weshalb die "fachgerechte" Zuschauerin "Vom Winde verweht" dann eben auch immer wieder sehen wolle.

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr