Produktdetails
  • Verlag: Klett-Cotta
  • ISBN-13: 9783608936520
  • ISBN-10: 3608936521
  • Artikelnr.: 13367026
  • Herstellerkennzeichnung
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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005

Auch ich fror in Arkadien
Forelle schlau: Hallgrímur Helgason entdeckt den Bauern im Erzähler / Von Andreas Rosenfelder

Als autopoietisches System ist die Literatur in den vergangenen Jahren immer wieder bezeichnet worden. Doch kaum ein hipper Intellektueller kam auf die Idee, das Reich der Fiktionen mit einem selbstversorgten Bauernhof zu vergleichen: Strom kommt aus einem Dieselgenerator im Anbauschuppen, Schafzucht sichert den Nachschub an Rohstoffen, und der Fortbestand der Familie wird auf dem dünnbesiedelten Land zur Not durch Inzest geregelt. Die Dichtung als lebendiges Kleinuniversum, das sich mit allen Mitteln gegen die Leere behauptet - man muß wohl aus einem Siedlerland wie Island stammen, um die arkadische Heimat der Poesie in der herben Lebenswelt der Landwirtschaft wiederzufinden.

Hallgrímur Helgasons neuer Roman "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein" überrascht nicht nur, weil der Autor in die Rolle des Agrarökonomen schlüpft. Das sechshundert Seiten starke Werk des 1959 geborenen Comiczeichners, Künstlers und Schriftstellers bildet in jeder Hinsicht das volle Kontrastprogramm zu seinem Erfolgsroman "101 Reykjavík" (deutsch 2002). Mit seinem dekadenten Großstadthelden setzte Helgason dem naturfernen Edelgammler der neunziger Jahre darin ein Denkmal - auch wenn dieses Monument aus isländischem Vulkangestein gemeißelt war, wie der Schluß andeutete. Da nämlich setzte Helgason seinen nur mit einer Fernbedienung ausgestatteten Helden auf einem menschenleeren Lavafeld aus.

Ein in der Einöde gestrandeter Stadtmensch steht nun auch am Anfang des Nachfolgeromans "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein", abermals mit Einfallsreichtum und Feingefühl von Karl-Ludwig Wetzig übersetzt. Wer bei der letzten Lektüre von Helgasons popkulturellem Aroma angefixt wurde, für den ist der Romanbeginn allerdings ein Schock. Kein junger Hipster, sondern ein hochbetagter Herr mit eingefleischtem Haß auf die "aknepustelige Musik" der jungen Generation landet als Pflegefall ohne Gedächtnis in der kargen Graslandschaft. Der Redestil dieses aus ganz altem Holz geschnitzten Erzählers wirkt bei aller Grimmigkeit - "Kreuzdonnerwetter!" - altmodisch und ein wenig bieder.

Es dauert nicht lange, bis der im Nichts gelandete und auf einem kleinen Neusiedlerhof aufgenommene Einar Grímsson sich an seine Vergangenheit als Islands berühmtester Schriftsteller erinnert - und alsbald den Verdacht schöpft, im Höllental namens Helljardalur sein ganz persönliches Jenseits erreicht zu haben. "Die Umgebung", bemerkt der Alte hellsichtig, "wirkt so unbestimmt, als habe sie ein unfertiger Schriftsteller in einem Hotelzimmer im Ausland entworfen" - ein herkömmlicher Schriftsteller wohlgemerkt und nicht etwa ein unmotivierter Graphikdesigner, der an jenem Adventure Game bastelt, das man Leben nennt. Grímsson ist im Hades der traditionellen Schriftstellerei gelandet, die er zu Lebzeiten pflegte. Er bewohnt nun selbst jene Welt, in welcher der harte Boden der Poesie mit der Geduld eines Landwirts beackert wird, wo weitverzweigte Familiensagen gezüchtet und Einzelcharaktere in mühseliger Handarbeit gefertigt werden.

Wenn sich Hallgrímur Helgason für seinen neuen Roman den Islandpullover überzieht und den Text mit dem Duft von frischem Kuhdung und eingelegtem Hering schwängert, dann tut er das nicht zur Überraschung eines auf urbane Stoffe getrimmten Publikums. Es handelt sich auch nicht um einen zivilisationsmüden Schreiberling, der eine literarische Rückkehr zur Natur predigt. Vielmehr verkörpert der Roman eine große Huldigung an die isländische Literaturgeschichte: Dort kämpfte die weltläufige Ästhetik der Moderne stets mit dem unbeugsamen Realismus der bäuerlichen Sphäre, in welcher die gesamte Kultur des Landes wurzelt.

Schon die Hauptfigur Einar Grímsson - ein mit Moskau, Paris und Barcelona vertrauter Dandy, der sogar das schlammige Landleben im Dreiteiler bewältigt und die Bauersleute als "Gestapo in Gummischuhen" verachtet - zollt Islands einzigem Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness Tribut. Grímssons unwilliger Gastgeber wiederum, der grobschlächtige und starrsinnige Einödbauer Hrólfur, verkörpert die ganze Zwiespältigkeit des Kleinbauerntums, das Laxness mit dem Roman "Sein eigener Herr" verewigte. Tatsächlich wirkt der in seiner Familie isolierte Landmann, dessen Hof von der feindlich gesinnten Gemeinde zwangsversteigert wird, im Verlauf des Romans immer mehr wie ein Spiegelbild des einsamen Literaten. Hrólfur ist ein Agrardandy, der seine Schafe gegen die beckmesserische Kritik des neumodischen Landwirtschaftsberaters verteidigt - ganz wie Grímsson sein Lebenswerk stets gegen die Verrisse jenes avantgardistischen Literaturkritikers in Schutz nahm, der nun zur Strafe als Forelle im Dorfteich schwimmt.

Einar Grímsson spielt im epischen Kosmos der Dorfwelt - die sich um Kuckuckskinder britischer Soldaten, Mißbrauchserlebnisse, erschossene Deckhengste oder vom Automechaniker durchgeführte Abtreibungen dreht - die Doppelrolle des Beobachters und Schöpfers. Besonders für Eivís, die junge Tochter des Hauses, und ihren Vater Hrólfur entwickelt er einfühlsamstes Verständnis. Kein Wunder, denn schließlich befindet er sich im prallen Schlüsselroman seines eigenen Lebens und hat in jedem Detail einen biographischen Einsatz hinterlegt: Die schroffe Physiognomie des Bauern stammt ursprünglich von einem New Yorker Obdachlosen, und der Nagel im Gebälk des Schornsteinhauses gehört eigentlich in ein Hotelzimmer in Amalfi.

So versteckt Helgason auf der Hochheide und am Fjord kunstvoll die Puzzlestücke einer ganzen Schriftstellerbiographie des zwanzigsten Jahrhunderts - von der frühen Moskau-Reise mit einer Abordnung der Kommunistischen Partei Islands über glückliche und unglückliche Lieb- und Vaterschaften bis hin zu den literaturtheoretischen Grabenkämpfen der letzten Jahrzehnte. Helgason nutzt Island als verkleinerte Weltkarte, in der sich ein ganzes Säkulum spiegelt. Manchmal drohen die zahlreichen Metaebenen der Geschichte auch unter der Last zu brechen. Doch immer wieder scheint unter der narratologischen und historischen Fracht des Romans die simple Poesie der isländischen Landschaft auf, die von Helgason wie ein offenes Buch gelesen wird: "Das Gedächtnis ist wie ein Moor. Es verschluckt die schweren Dinge und hebt die kleinen und schönen: Überall steht weißes Wollgras. Wer aber versucht, einen alten Eisenkessel oder einen Traktor zu heben, wird selbst untergehen."

Wie der zu Anfang greisenhafte Held mit jeder Seite jünger wird und am Ende sogar seine Manneskraft wiedererlangt, so schwindet auch der kauzige Tonfall allmählich, um einem assoziativen und zeitgemäßen Stil zu weichen. Erst gegen Ende fährt Helgason auch als grandioser Ironiker volles Tempo. Sogar sein alter Großstadtfreak taucht als Karikatur - "mit Kaugummi im Maul, Klapperschlangenmusik in den Ohren, Pornofilmen vor den Augen, Wunderdrogen in den Adern und einem idiotischen Grinsen auf den Lippen" - wieder auf. Trotzdem kommt der Leser reicher von diesem ausgedehnten Aufenthalt in den steinigen Ursprungslanden des Erzählens zurück. Schließlich stammen von dort auch die urbanen Legenden.

Hallgrímur Helgason: "Vom zweifelhaften Vergnügen, tot zu sein". Roman. Aus dem Isländischen übersetzt von Karl-Ludwig Wetzig. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005. 616 S., geb., 24,50 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"Rezensent Andreas Rosenfelder, noch angefixt vom popkulturellen Aroma von Hallgrimur Helgasons letztem Roman, muss sich erst an die Tatsache gewöhnen, dass ihm als Protagonist jetzt statt eines jungen Hipsters ein hochbetagter Herr gegenüber tritt. Doch schnell versteht und schätzt er dann den Roman als große Huldigung an die isländische Literaturgeschichte, in der Helgason ihn schließlich auch als großer Ironiker ausgesprochen beeindrucken kann. Bereits in der Hauptfigur, einem Greis ohne Gedächtnis, der sich in der Einöde eine Bauernhofes langsam an seine Vergangenheit als Schriftsteller erinnert, zollt Helgason nach Ansicht des Rezensenten Islands einzigem Literaturnobelpreisträger Halldor Laxness Tribut. Aber auch sonst findet Rosenfelder im ganzen Buch "auf der Hochheide und am Fjord" kunstvoll die Puzzleteile einer ganzen Schriftstellerbiografie des zwanzigsten Jahrhunderts versteckt. Helgason nutzt Island aus seiner Sicht als verkleinerte Weltkarte, in der er das letzte Jahrhundert sich spiegeln lasse. Nur manchmal drohen aus der Sicht des Rezensenten die zahlreichen Metaebenen der Geschichte unter der Last zu brechen. Doch immer wieder scheint dann zu seiner Beglückung unter "der narratologischen und historischen Fracht" des Romans die Poesie der isländischen Landschaft auf, in der Helgason wie in einem offenen Buch lese. Seite für Seite wird für Ritter auch der Held des Buches immer jünger, weicht dessen Anfangs kauziger Tonfall einem assoziativen und zeitgemäßen Stil. Auch die Übersetzung bekommt für ihren Einfallsreichtum und ihr Feingefühl sehr gute Noten.

© Perlentaucher Medien GmbH"
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