Keinem, auch nicht Lucie, der schönen Klassenbesten, darf der dreizehnjährige Daniel sagen, wohin sein Vater ihn gleich bringen wird: nach Westberlin. Dort soll er das Gymnasium besuchen, weil das zu Hause, in der mitteldeutschen Kleinstadt, nicht möglich ist. Der neue Schuldirektor und der Pfarrer warnen vor Besuchen in der Heimatstadt: »Es sei zu gefährlich, sagten sie, weil ich heimlich nach Westberlin gegangen sei. Ich hatte die Republik verraten und stand auf der Liste.« Mit den Mitteln einer fiktiven Autobiographie erzählt Christoph Hein von einer Jugend in der DDR der fünfziger Jahre.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997Fort mit der Taschenguillotine
Christoph Hein schreibt ein Meisterwerk nicht nur der Tantenkunde / Von Peter von Matt
Was ist das Geheimnis dieser Prosa? Man steht der Einfachheit von Christoph Heins neuer Art zu erzählen lange Zeit fast hilflos gegenüber. Schreibt hier einer aus dem neunzehnten Jahrhundert? Dieses trockene Registrieren der eigenen frühen Jahre, Ding neben Ding, Figur neben Figur, Ereignis neben Ereignis, es erinnert an die Autobiographien, wie sie einst von angesehenen Persönlichkeiten angefertigt wurden, meist auf Anforderung von höherer Seite hin, damit die Öffentlichkeit auch etwas über Kindheit und Jugend des geschätzten Mannes erfahre. So hat Grillparzer mit 62 Jahren sein Leben zu erzählen begonnen, spröd, genau, mehr als der Herr Archivdirektor denn als der berühmte Dramatiker, und hat in dieser ornamentlosen Sprache einen Text geschaffen, der unbewegt wie ein Monolith aus der beschwingten Erzählerei seiner Epoche herausragt.
Ob Christoph Hein solche halbverschollenen Diktionen aus dem letzten Jahrhundert künstlerisch planvoll aufgreift oder aus anderen Gründen in ihre Nähe kommt, ist schwer zu sagen. In seinem letzten Buch, "Exekution eines Kalbes" von 1994, hat er sich in unterschiedlichen Erzähltönen geübt, hat sich bald Kleists Anekdotensprache genähert, bald der artifiziellen Volkstümlichkeit von Brechts "Kalendergeschichten", und nicht immer ist er dabei der Gefahr des Kunstgewerblichen ganz entkommen. Von solchen Spielen ist die neue Arbeit weit entfernt. Wenn man beim Lesen nach Vorbildern sucht, geschieht es nicht, weil man den Autor zu ertappen glaubt. Die gelassene Überlegenheit der Erzählrede schlägt einen so in Bann, daß man unwillkürlich nach Vergleichen Ausschau hält, um einen Standpunkt zu gewinnen. Die Art des Beobachtens und des Benennens, die Blickführung und das Gefälle der Sätze, alles mutet uralt vertraut und ganz neu an. Eine Sprache voller Echos läßt sich vernehmen wie zum ersten Mal.
Das liegt sicher auch am Stoff. Der Stoff ist die eigene Kindheit, und zwar, wie eh und je, mit der unausrottbaren Familienfauna von Eltern und Großeltern, Geschwistern und Tanten, mit Lehrern, Mitschülern und den ersten angestarrten, angeglühten Mädchen. Ist das nicht bekannt bis zum Überdruß? Läßt sich auf diesem Feld noch irgend etwas ernten? Was kann eine Autobiographie heute mehr sein als eine Selbsttherapie zur Klärung der eigenen Identität, nützlich für den, der sie schreibt, aber nicht eben unerläßlich für die weitere Öffentlichkeit?
Denn nicht einmal einen politischen Lebensbericht legt Christoph Hein vor. Dies zumindest wäre zu erwarten gewesen: daß das eigene Leben zum Gericht wird zum Beispiel über die DDR, wo der Autor bis 1958 und von 1961 an wieder gelebt hat. Oder daß es zum Gericht wird über die Bundesrepublik. Oder über den Sozialismus oder den Kapitalismus, den Nationalismus oder die Umweltzerstörung, das Patriarchat oder den Literaturbetrieb, die Erziehung oder was auch immer. Schriftsteller sind in der Regel unglaublich kreativ, wenn es darum geht, Angeklagte vor ihren Schreibtisch zu zitieren und sich selbst zur moralischen Instanz zu machen. Nichts tun sie lieber, als beim Schreiben die Perücke der englischen Richter aufzusetzen und unter ihr hervor jene funkelnden Richterblicke in die Welt zu senden, die man aus so vielen Filmen kennt - poeta index. Gerade die Autobiographie eignet sich vorzüglich zu solchen Inszenierungen. Das jugendliche Ich erscheint dann als Opfer brutaler Mächte, das Erzählen wird zum Tribunal, und die Empörung der Leserschaft spricht das Urteil.
Hein aber hält nicht Gericht. Vielleicht liegt hier das seltsam Unerwartete dieses Buches, seine lautlose Kühnheit. Dieser Erzähler ist gerecht, ohne zu richten. Keine Perücke nirgends. Das erinnert an alte Erzählkultur und berührt doch ungewohnt und neu. Der ruhige Blick auf Dinge und Menschen verbindet ein klares Wissen um Recht und Unrecht mit dem Verzicht auf alles Verdammen und Bestrafen, und dies gibt sich so selbstverständlich, daß man erst viel später merkt, welche humane Leistung es verkörpert. Von Seite zu Seite läßt sich verfolgen, wie aufregend Gerechtigkeit sein kann und wie banal sich ihr gegenüber das apodiktische Verurteilen ausnimmt. Die Zeit der Taschenguillotinen auf jedem literarischen Schreibtisch, hübsch arrangiert zwischen Aschenbecher, Duden und Kaffeetasse, scheint vorbei.
Aus dieser Gerechtigkeit, die sich der Differenz zum Rechthaben bewußt ist, entspringen auch die kunstreichen Umständlichkeiten des Beschreibens, deren ästhetischem Reiz man beim Lesen zunehmend verfällt. Weil es keine Vorentscheide gibt über Wert und Unwert der Dinge, wird alles mit der gleichen Sorgfalt berichtet und geschildert. Hein scheut sich nicht, den Weihnachtsabend in der Familie abzuhandeln, obwohl das schon unendlich viele getan haben. Auch im Literarischen akzeptiert er keine Vorentscheide.
Wenn er erzählt, wie der Vater die Feier leitet, kann man studieren, wie hintergründig die Gerechtigkeit des Erzählers ist: "Vater rief uns zu sich. Wir mußten uns vor dem Weihnachtsbaum aufstellen, den er am Nachmittag allein geschmückt hatte, und ein Weihnachtslied singen. Zuerst hatten wir das Lied zu singen und dann den Bibeltext zu hören, da, wie Vater sagte, Weihnachten das Fest von Christi Geburt und das Schenken nicht die Hauptsache sei. Wir Großen schauten unverwandt in die Kerzen, nur die drei Kleinen hielten es nicht aus und blickten sich während des Liedes und beim Bibeltext immer wieder zu dem langen Tisch mit den Geschenken um; Vater legte ihnen dann die Hand auf den Kopf und drehte ihn sanft zurück. Und erst nachdem wir uns alle ein gesegnetes Weihnachtsfest gewünscht hatten, durften wir zu den Geschenken gehen und mit ihnen spielen."
Wie hier Banalität zu Kunst wird! Das eine schlägt förmlich in das andere um bei dem einzigen Satz, in dem der Vater seinen Kindern den Kopf "sanft zurückdreht". Mit diesem Augenblick ist auch die Banalität vorher nicht mehr bloß banal. Sie erscheint als unheimliches Zugleich von Zwang und Freiheit, Ritual und Dressur. Und doch steht keineswegs fest, ob das Ritual diese Dressur nicht wert ist.
Hein schreckt vor Weihnachtsbäumen so wenig zurück wie vor alten Tanten. Abgedroschen kann für ihn nicht die Sache sein, nur was daraus gemacht wird. Deshalb gelingt ihm mit der Tante Magdalena eine der zauberhaftesten Tanten der tantenreichen deutschen Literatur, ein Meisterwerk der Tantenkunde, unvergleichlich als Person, die vor unsern Augen lebt, und als künstlerische Leistung, die sie leben läßt und schließlich zu einem ergreifenden Sinnbild der Menschlichkeit in einem unmenschlichen Jahrhundert macht. Wer sich etwas zugute kommen lassen will, der lese das Buch auf diese außerordentliche Tante hin.
Als Kontrapunkt setzt Hein die Sexualität. Die erste Begegnung mit dem Eros ist ein unabdingbares Element aller Autobiographien. So wie jede erzählte Kindheit auf den dramatischen Moment ihres Endes hinstrebt, welches bald als der Verlust des Paradieses hingestellt wird, bald als ein Ereignis existentieller Befreiung, so verbindet sich mit diesem Prozeß zwingend die Konfrontation mit der eigenen Sexualität. Sie wirft das Kind in eine Einsamkeit, von der es bisher noch nichts wußte. Denn mit den Autoritäten der Familie kann es darüber nicht reden, ja, es besitzt überhaupt noch keine taugliche Sprache für das, was da aus der Welt und aus ihm selbst heraus auftaucht, schön oder ungestalt.
Mit der Wirklichkeit der Sexualität, die sich zuerst nur in seltsam wilden Einzelheiten zeigt, begegnet dem Kind die kommende neue Identität, sein Eigenstes also, als noch Äußeres und Fremdes. Vom schreibenden Mann, der schreibenden Frau wird hier alles gefordert, was sie an Kunst, Sensibilität und Weisheit besitzen. Der alte Erzähltrick der Autobiographien, das erzählte Kinder-Ich zu ironisieren und die Leser auf dessen Kosten zu unterhalten, reicht bei diesem Gegenstand nicht aus. Das Thema wird zum unerbittlichen Test, an dem sich der Rang der einzelnen Lebensbeschreibung ablesen läßt.
Christoph Heins Grundhaltung einer Gerechtigkeit, die nicht richtet, schließt die wohlfeile Ironisierung des Kindes von vornherein aus. Der spezifische Blick aber, der sich aus dieser Grundhaltung ergibt, verlangt rücksichtslos Offenheit. Nichts, was einst gesehen wurde, darf einem Erzählverbot unterliegen. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Weihnachtsbaum und dem nackten Körper einer Frau. So werden die Kapitel, in denen der Junge in der DDR der fünfziger Jahre auf den konkreten Eros trifft, zu Höhepunkten des Buches.
Das unbewegte Registrieren, das an sich schon von eigentümlicher Sinnlichkeit ist, gewinnt hier eine doppelte Intensität. Der Blick des überraschten Kindes, der Blick des erwachsenen Erzählers und der Blick der Lesenden verflechten sich seltsam, als der Junge, am Teich im Grase liegend, unverhofft erwacht und die Freundin seines Freundes über sich sieht: "Ich schreckte hoch, als mich Wassertropfen besprühten. Jochen und Pille standen neben mir und schüttelten sich das Wasser aus den Haaren. Direkt vor meinem Kopf waren Pilles Beine. Ich bewegte mich vorsichtig und sah an ihr hoch. Ich sah ihre Schenkel, die rötlichen Schamhaare, den Bauch und die roten Spitzen ihrer Brüste. An den Schamhaaren liefen Wassertropfen langsam entlang. Wenn ein Tropfen herabfiel, richtete sich das Haar auf, um gleich danach vom nächsten Wassertropfen wieder an die Haut gedrückt zu werden. Ich blickte, ohne zu atmen, auf ihre Schamhaare und bemühte mich, den Kopf nicht zu bewegen. Ich tat, als würde ich in den Wald starren, und ließ keinen Blick von dem Dreieck über ihren Schenkeln. Es war so schön, daß mir ganz schlecht wurde."
Das ist weder unschuldig noch obszön. Es ist ohne Lüsternheit, aber nicht ohne Begehren. Als verstünde es sich von selbst, bewegt sich der Text außerhalb der geläufigen Deutungsmuster. Er deckt sich mit keiner vorgegebenen psychologischen oder literarischen Perspektive auf den schönen Leib. Er prahlt nicht mit Gewagtheit und operiert nicht mit Tiefsinn. Nur ganz leise gibt sich das Erwachen im Gras auch als symbolischer Vorgang zu erkennen, und das niederfließende Wasser erinnert behutsam an alte Geschichten von der auftauchenden Schönheit.
Das Buch liest sich mühelos und drängt seine Kunst niemandem auf. Man kann die überlegte Komposition, die im Ganzen waltet, leicht übersehen und mag in der novellenhaften Verdichtung der einzelnen Kapitel nichts weiter als das Anekdotische bemerken. Christoph Hein nimmt das in Kauf, aus Höflichkeit vielleicht, vielleicht aber auch aus dem gelassenen Stolz eines Autors, der weiß, was er kann.
Christoph Hein: "Von allem Anfang an". Roman. AufbauVerlag, Berlin 1997.
198 S., geb., 32,-DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Christoph Hein schreibt ein Meisterwerk nicht nur der Tantenkunde / Von Peter von Matt
Was ist das Geheimnis dieser Prosa? Man steht der Einfachheit von Christoph Heins neuer Art zu erzählen lange Zeit fast hilflos gegenüber. Schreibt hier einer aus dem neunzehnten Jahrhundert? Dieses trockene Registrieren der eigenen frühen Jahre, Ding neben Ding, Figur neben Figur, Ereignis neben Ereignis, es erinnert an die Autobiographien, wie sie einst von angesehenen Persönlichkeiten angefertigt wurden, meist auf Anforderung von höherer Seite hin, damit die Öffentlichkeit auch etwas über Kindheit und Jugend des geschätzten Mannes erfahre. So hat Grillparzer mit 62 Jahren sein Leben zu erzählen begonnen, spröd, genau, mehr als der Herr Archivdirektor denn als der berühmte Dramatiker, und hat in dieser ornamentlosen Sprache einen Text geschaffen, der unbewegt wie ein Monolith aus der beschwingten Erzählerei seiner Epoche herausragt.
Ob Christoph Hein solche halbverschollenen Diktionen aus dem letzten Jahrhundert künstlerisch planvoll aufgreift oder aus anderen Gründen in ihre Nähe kommt, ist schwer zu sagen. In seinem letzten Buch, "Exekution eines Kalbes" von 1994, hat er sich in unterschiedlichen Erzähltönen geübt, hat sich bald Kleists Anekdotensprache genähert, bald der artifiziellen Volkstümlichkeit von Brechts "Kalendergeschichten", und nicht immer ist er dabei der Gefahr des Kunstgewerblichen ganz entkommen. Von solchen Spielen ist die neue Arbeit weit entfernt. Wenn man beim Lesen nach Vorbildern sucht, geschieht es nicht, weil man den Autor zu ertappen glaubt. Die gelassene Überlegenheit der Erzählrede schlägt einen so in Bann, daß man unwillkürlich nach Vergleichen Ausschau hält, um einen Standpunkt zu gewinnen. Die Art des Beobachtens und des Benennens, die Blickführung und das Gefälle der Sätze, alles mutet uralt vertraut und ganz neu an. Eine Sprache voller Echos läßt sich vernehmen wie zum ersten Mal.
Das liegt sicher auch am Stoff. Der Stoff ist die eigene Kindheit, und zwar, wie eh und je, mit der unausrottbaren Familienfauna von Eltern und Großeltern, Geschwistern und Tanten, mit Lehrern, Mitschülern und den ersten angestarrten, angeglühten Mädchen. Ist das nicht bekannt bis zum Überdruß? Läßt sich auf diesem Feld noch irgend etwas ernten? Was kann eine Autobiographie heute mehr sein als eine Selbsttherapie zur Klärung der eigenen Identität, nützlich für den, der sie schreibt, aber nicht eben unerläßlich für die weitere Öffentlichkeit?
Denn nicht einmal einen politischen Lebensbericht legt Christoph Hein vor. Dies zumindest wäre zu erwarten gewesen: daß das eigene Leben zum Gericht wird zum Beispiel über die DDR, wo der Autor bis 1958 und von 1961 an wieder gelebt hat. Oder daß es zum Gericht wird über die Bundesrepublik. Oder über den Sozialismus oder den Kapitalismus, den Nationalismus oder die Umweltzerstörung, das Patriarchat oder den Literaturbetrieb, die Erziehung oder was auch immer. Schriftsteller sind in der Regel unglaublich kreativ, wenn es darum geht, Angeklagte vor ihren Schreibtisch zu zitieren und sich selbst zur moralischen Instanz zu machen. Nichts tun sie lieber, als beim Schreiben die Perücke der englischen Richter aufzusetzen und unter ihr hervor jene funkelnden Richterblicke in die Welt zu senden, die man aus so vielen Filmen kennt - poeta index. Gerade die Autobiographie eignet sich vorzüglich zu solchen Inszenierungen. Das jugendliche Ich erscheint dann als Opfer brutaler Mächte, das Erzählen wird zum Tribunal, und die Empörung der Leserschaft spricht das Urteil.
Hein aber hält nicht Gericht. Vielleicht liegt hier das seltsam Unerwartete dieses Buches, seine lautlose Kühnheit. Dieser Erzähler ist gerecht, ohne zu richten. Keine Perücke nirgends. Das erinnert an alte Erzählkultur und berührt doch ungewohnt und neu. Der ruhige Blick auf Dinge und Menschen verbindet ein klares Wissen um Recht und Unrecht mit dem Verzicht auf alles Verdammen und Bestrafen, und dies gibt sich so selbstverständlich, daß man erst viel später merkt, welche humane Leistung es verkörpert. Von Seite zu Seite läßt sich verfolgen, wie aufregend Gerechtigkeit sein kann und wie banal sich ihr gegenüber das apodiktische Verurteilen ausnimmt. Die Zeit der Taschenguillotinen auf jedem literarischen Schreibtisch, hübsch arrangiert zwischen Aschenbecher, Duden und Kaffeetasse, scheint vorbei.
Aus dieser Gerechtigkeit, die sich der Differenz zum Rechthaben bewußt ist, entspringen auch die kunstreichen Umständlichkeiten des Beschreibens, deren ästhetischem Reiz man beim Lesen zunehmend verfällt. Weil es keine Vorentscheide gibt über Wert und Unwert der Dinge, wird alles mit der gleichen Sorgfalt berichtet und geschildert. Hein scheut sich nicht, den Weihnachtsabend in der Familie abzuhandeln, obwohl das schon unendlich viele getan haben. Auch im Literarischen akzeptiert er keine Vorentscheide.
Wenn er erzählt, wie der Vater die Feier leitet, kann man studieren, wie hintergründig die Gerechtigkeit des Erzählers ist: "Vater rief uns zu sich. Wir mußten uns vor dem Weihnachtsbaum aufstellen, den er am Nachmittag allein geschmückt hatte, und ein Weihnachtslied singen. Zuerst hatten wir das Lied zu singen und dann den Bibeltext zu hören, da, wie Vater sagte, Weihnachten das Fest von Christi Geburt und das Schenken nicht die Hauptsache sei. Wir Großen schauten unverwandt in die Kerzen, nur die drei Kleinen hielten es nicht aus und blickten sich während des Liedes und beim Bibeltext immer wieder zu dem langen Tisch mit den Geschenken um; Vater legte ihnen dann die Hand auf den Kopf und drehte ihn sanft zurück. Und erst nachdem wir uns alle ein gesegnetes Weihnachtsfest gewünscht hatten, durften wir zu den Geschenken gehen und mit ihnen spielen."
Wie hier Banalität zu Kunst wird! Das eine schlägt förmlich in das andere um bei dem einzigen Satz, in dem der Vater seinen Kindern den Kopf "sanft zurückdreht". Mit diesem Augenblick ist auch die Banalität vorher nicht mehr bloß banal. Sie erscheint als unheimliches Zugleich von Zwang und Freiheit, Ritual und Dressur. Und doch steht keineswegs fest, ob das Ritual diese Dressur nicht wert ist.
Hein schreckt vor Weihnachtsbäumen so wenig zurück wie vor alten Tanten. Abgedroschen kann für ihn nicht die Sache sein, nur was daraus gemacht wird. Deshalb gelingt ihm mit der Tante Magdalena eine der zauberhaftesten Tanten der tantenreichen deutschen Literatur, ein Meisterwerk der Tantenkunde, unvergleichlich als Person, die vor unsern Augen lebt, und als künstlerische Leistung, die sie leben läßt und schließlich zu einem ergreifenden Sinnbild der Menschlichkeit in einem unmenschlichen Jahrhundert macht. Wer sich etwas zugute kommen lassen will, der lese das Buch auf diese außerordentliche Tante hin.
Als Kontrapunkt setzt Hein die Sexualität. Die erste Begegnung mit dem Eros ist ein unabdingbares Element aller Autobiographien. So wie jede erzählte Kindheit auf den dramatischen Moment ihres Endes hinstrebt, welches bald als der Verlust des Paradieses hingestellt wird, bald als ein Ereignis existentieller Befreiung, so verbindet sich mit diesem Prozeß zwingend die Konfrontation mit der eigenen Sexualität. Sie wirft das Kind in eine Einsamkeit, von der es bisher noch nichts wußte. Denn mit den Autoritäten der Familie kann es darüber nicht reden, ja, es besitzt überhaupt noch keine taugliche Sprache für das, was da aus der Welt und aus ihm selbst heraus auftaucht, schön oder ungestalt.
Mit der Wirklichkeit der Sexualität, die sich zuerst nur in seltsam wilden Einzelheiten zeigt, begegnet dem Kind die kommende neue Identität, sein Eigenstes also, als noch Äußeres und Fremdes. Vom schreibenden Mann, der schreibenden Frau wird hier alles gefordert, was sie an Kunst, Sensibilität und Weisheit besitzen. Der alte Erzähltrick der Autobiographien, das erzählte Kinder-Ich zu ironisieren und die Leser auf dessen Kosten zu unterhalten, reicht bei diesem Gegenstand nicht aus. Das Thema wird zum unerbittlichen Test, an dem sich der Rang der einzelnen Lebensbeschreibung ablesen läßt.
Christoph Heins Grundhaltung einer Gerechtigkeit, die nicht richtet, schließt die wohlfeile Ironisierung des Kindes von vornherein aus. Der spezifische Blick aber, der sich aus dieser Grundhaltung ergibt, verlangt rücksichtslos Offenheit. Nichts, was einst gesehen wurde, darf einem Erzählverbot unterliegen. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Weihnachtsbaum und dem nackten Körper einer Frau. So werden die Kapitel, in denen der Junge in der DDR der fünfziger Jahre auf den konkreten Eros trifft, zu Höhepunkten des Buches.
Das unbewegte Registrieren, das an sich schon von eigentümlicher Sinnlichkeit ist, gewinnt hier eine doppelte Intensität. Der Blick des überraschten Kindes, der Blick des erwachsenen Erzählers und der Blick der Lesenden verflechten sich seltsam, als der Junge, am Teich im Grase liegend, unverhofft erwacht und die Freundin seines Freundes über sich sieht: "Ich schreckte hoch, als mich Wassertropfen besprühten. Jochen und Pille standen neben mir und schüttelten sich das Wasser aus den Haaren. Direkt vor meinem Kopf waren Pilles Beine. Ich bewegte mich vorsichtig und sah an ihr hoch. Ich sah ihre Schenkel, die rötlichen Schamhaare, den Bauch und die roten Spitzen ihrer Brüste. An den Schamhaaren liefen Wassertropfen langsam entlang. Wenn ein Tropfen herabfiel, richtete sich das Haar auf, um gleich danach vom nächsten Wassertropfen wieder an die Haut gedrückt zu werden. Ich blickte, ohne zu atmen, auf ihre Schamhaare und bemühte mich, den Kopf nicht zu bewegen. Ich tat, als würde ich in den Wald starren, und ließ keinen Blick von dem Dreieck über ihren Schenkeln. Es war so schön, daß mir ganz schlecht wurde."
Das ist weder unschuldig noch obszön. Es ist ohne Lüsternheit, aber nicht ohne Begehren. Als verstünde es sich von selbst, bewegt sich der Text außerhalb der geläufigen Deutungsmuster. Er deckt sich mit keiner vorgegebenen psychologischen oder literarischen Perspektive auf den schönen Leib. Er prahlt nicht mit Gewagtheit und operiert nicht mit Tiefsinn. Nur ganz leise gibt sich das Erwachen im Gras auch als symbolischer Vorgang zu erkennen, und das niederfließende Wasser erinnert behutsam an alte Geschichten von der auftauchenden Schönheit.
Das Buch liest sich mühelos und drängt seine Kunst niemandem auf. Man kann die überlegte Komposition, die im Ganzen waltet, leicht übersehen und mag in der novellenhaften Verdichtung der einzelnen Kapitel nichts weiter als das Anekdotische bemerken. Christoph Hein nimmt das in Kauf, aus Höflichkeit vielleicht, vielleicht aber auch aus dem gelassenen Stolz eines Autors, der weiß, was er kann.
Christoph Hein: "Von allem Anfang an". Roman. AufbauVerlag, Berlin 1997.
198 S., geb., 32,-DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
'Eine imponierende literarische Leistung. Erzählt in einem ganz gelösten Deutsch, mit fabelhaft natürlichen Dialogen, das gibt es selten in der zeitgenössischen deutschen Literatur.' Marcel Reich-Ranicki