»Von Caligari zu Hitler« ist bis heute eines der bekanntesten Bücher Siegfried Kracauers und ein Klassiker der Filmsoziologie. Im französischen Exil geplant, in den 1940er Jahren in den USA geschrieben, ist es nicht nur Kracauers erstes Buch über den Film, sondern auch sein erster Auftritt als Wissenschaftler und Intellektueller in der amerikanischen Öffentlichkeit. Das Buch, das Kracauer selbst einmal als »eine Art Biographie unserer Generation« bezeichnete, behandelt nach Vorüberlegungen zu den Jahren 1895 bis 1918, in denen er unter anderem die Entstehung der UFA rekapituliert, den deutschen Film der Zwischenkriegszeit bis 1933. In der festen Überzeugung, daß »die Filme einer Nation ihre Mentalität unvermittelter als andere künstlerische Medien« zu erkennen geben, dienen diese ihm als Reflexionsfläche, auf der psychologische, insbesondere autoritäre Dispositionen der deutschen Bevölkerung sichtbar werden, die auf den Nationalsozialismus vorausweisen. Die neue Ausgabe präsentiert »Von Caligari zu Hitler« sowie die Teilstudie »Propaganda und der Nazikriegsfilm« in überarbeiteter und korrigierter Übersetzung. Der von Kracauer selbst zusammengestellte Abbildungsteil illustriert seine Thesen, die Anmerkungen der Herausgeberin beleuchten den Entstehungs- und Arbeitszusammenhang der Texte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2012Im Kinodunkel gewann die fatale Zukunft Gestalt
Rückblick auf die Vorspiele eines kommenden Untergangs: Die neue Werkausgabe von Siegfried Kracauer schließt mit zwei Bänden zu Filmgeschichte und Propaganda-Analyse.
Werkausgaben haben ihre eigene Chronologie. Den Anfang der im Suhrkamp Verlag erschienenen Werke von Siegfried Kracauer, nur acht Jahre ist es her, bildeten die Bände 6 und 9, betitelt "Kleine Schriften zum Film", sowie "Frühe Schriften aus dem Nachlass". Und diese Ausgabe beschließen nun die Bände 2.1 und 2.2: Weitestgehend enthalten sie Bücher und Studien, die der Autor in seiner neuen Heimat, den Vereinigten Staaten, im ersten Nachkriegsjahrzehnt geschrieben hat. Der eigentliche Band 1 wiederum, die veröffentlichten und die einst unveröffentlichten Sachbuchtexte der zwanziger Jahre, kam irgendwann dazwischen. Doch die früheste Publikation Kracauers ist in keinem der Bände erfasst: die Dissertation von 1915 über die Schmiedekunst. Geboten erscheint somit ein Nachtragsband, der diese Frühschrift präsentiert - zumal Kracauers lebenslange Aufmerksamkeit auf das Ornament und Detail sowie auf Fertigungstechniken sich zuallererst in seiner Erörterung schmiedeeiserner Arbeiten zeigte.
Die vorliegende Werkausgabe Siegfried Kracauers begann gleichsam mit einer (im musikalischen Wortsinn) Exposition, die den Leser von Buchseite zu Buchseite durch zunehmend analytische Argumentation überwältigte. Denn auf über eineinhalbtausend Seiten vermochten die "kleinen Schriften zum Film" bis zur Erschöpfung vor Augen zu führen, was die alltägliche Basis der Theoriebildung des Autors ausgemacht hatte. Der dreiteilige Band versammelt achthundert, größtenteils der Vergessenheit in Archiven entrissene Artikel, die nicht nur zeigen, welchem cineastischen Mittelmaß, welcher Durchschnittsware, ja sogar welchem "Dreck", wie er schreibt, der Filmkritiker Kracauer von 1921 bis 1933 im Auftrag der "Frankfurter Zeitung" tagtäglich und abendlich vor den Kinoleinwänden ausgesetzt war. Sondern zugleich repräsentieren sie das Anschauungsmaterial, aus dessen Kenntnis Kracauer später seine Thesen über die ideologischen Zusammenhänge von Prädisposition des Publikums und Determination durch die Kulturindustrie entwickeln wird.
Die magistrale Durchführung (erneut im musikalischen Sinn) erlebte die Werkausgabe dann bereits ein Jahr später, mit dem Erscheinen von Band 3. Auf den ersten Blick verhieß dieser keine Überraschung. Die "Theorie des Films", die er beinhaltet, ist die vom Verfasser noch autorisierte und seit 1964 hierzulande gut zugängliche Übersetzung seines letzten, auf Englisch verfassten Buchs: die "Theorie des Films" mit ihrem vielzitierten Untertitel "Die Errettung der äußeren Wirklichkeit". Aber der Anhang der Edition eröffnet eine neue Perspektive: Er bietet auf nahezu dreihundert Seiten eine Transkription von drei Notizheften aus den Jahren 1940/41, in denen Kracauer bereits eine erste Ästhetik des Films entworfen hatte, während er und seine Frau Lili lange Monate in Marseille auf eine Möglichkeit zur Flucht in die Vereinigten Staaten warteten. Die Marseiller Hefte waren alles andere als eine Filmtheorie nach Auschwitz. Sie standen noch vor dem ontologischen Zweifel, den Theodor W. Adorno einmal in einem Brief an Kracauer anmeldete, dass nämlich der "Komplex, für den das Wort Auschwitz einsteht, im Bild schlechterdings nicht mehr zu bewältigen" sei. Der Marseiller Entwurf stand noch für eine karnevalistische Sicht der Dinge, wo das Filmbild, selbst das einer Totenkirmes, noch die Erwartung an Heiterkeit und Ausgelassenheit zu erfüllen versprach.
Das Finale der Werkausgabe hat zunächst ein wenig von einer Reprise. Die beiden Bände paaren Filmgeschichte mit Propaganda-Analyse. Es sind Gegenstände, mit denen der Autor kraft seiner Arbeit als Kritiker vertraut war oder die ihm zusehends zu einem auch politisch motivierten Anliegen wurden: So erklärte Kracauer am 9. November 1936 - auf den Tag genau zwei Jahre vor den organisierten antisemitischen Plünderungen und nächtlichen Brandstiftungen in Deutschland -, zu seinem "Programm" gehöre seit längerem "eine Arbeit über Propaganda und das Problem der heutigen Massen". Zugleich aber machen die knapp zwanzig in den zwei Bänden versammelten Texte den entscheidenden Wendepunkt im Leben und Schaffen Kracauers einsichtig: das Wahrnehmen der "letzten Chance", wie er Adorno kurz vor seiner Abfahrt nach Amerika schrieb, "die ich nicht verspielen darf, sonst ist alles vorbei". Dies galt sowohl geographisch, historisch und thematisch wie auch hinsichtlich der Entscheidung des Autors für eine andere Sprache und Form als die seiner publizistischen Arbeiten der zwanziger und dreißiger Jahre.
Siegfried und Lili Kracauer waren aus Marseille, über Port Bou und Lissabon kommend, im April 1941 in New York eingetroffen, nach der "dunkelsten Zeit dunkler acht Jahre", deren Schilderung, wie Kracauer in einem Brief an Max Horkheimer behauptete, "Kafka in den Schatten zu stellen" vermöchte. Doch Kracauer schreibt keine autobiographische Darstellung, keine Memoiren. Vielmehr ist sein Recherchieren und Schreiben fortan einer Reihe von Forschungsaufträgen verpflichtet, deren kommunikationswissenschaftliche Ausrichtung nicht selten im Interesse der Analyse, der Abwehr und wohl auch der Anwendung psychologischer Kriegsführung steht.
Für die Filmabteilung des Museum of Modern Art in New York schreibt Kracauer 1942 eine Studie über "Propaganda und Nazikriegsfilm"; daran anknüpfend 1943 eine ausführliche Analyse über die nationalsozialistische Wochenschau ("Die Eroberung Europas auf der Leinwand"), diesmal für einen institutionellen Auftraggeber, der sich ebenso präzise wie kryptisch "Experimentelle Abteilung zur Erforschung der Kommunikation in Kriegszeiten" nennt. Später, nach dem Ende des Weltkrieges, als für die staatlichen Einrichtungen der Vereinigten Staaten nicht mehr Deutschland, sondern die UdSSR in den Fokus von Spionage, Propaganda-Abwehr und der Erkundung potentieller ideologischer Einflussgebiete rückt, verfasst Kracauer zusammen mit einem ehemaligen Mitarbeiter der CIA ein ganzes Buch mit dem Titel "Satellitenmentalität". Dessen Aufgabenstellung ist es, im Dienste des Außenministeriums anhand einer Vielzahl von Interviews mit Flüchtlingen aus Ostmitteleuropa (den sogenannten Satellitenstaaten Moskaus) die Stimmungslage der dortigen Bevölkerung im Kalten Krieg und deren Erwartungen an die westliche Politik einzuschätzen.
Der Autor, wie ihn die jetzt zugänglich gemachten Texte zu erkennen geben - der Gesamttitel des Bandes 2.2 lautet "Studien zu Massenmedien und Propaganda" -, ist dem Leser vielleicht gar nicht einmal fremd. Denn auch dasjenige Buch, das mit dem Band 2.1 der Werke wieder vorgelegt wird, hat den inneren Zusammenhang von Ideologie und mentalen Veranlagungen einer Bevölkerung zum Gegenstand: "From Caligari to Hitler", 1946 in New York abgeschlossen, 1947 in Princeton erschienen und seither Dreh- und Angelpunkt der Rezeption von Kracauers Werk.
Tatsächlich erschließt sich hier in der Zusammenschau eine nachgerade strategische Konsequenz. Diese große und einflussreiche Studie zur Geschichte des deutschen Films, an der Kracauer während seiner ersten fünf Jahre auf der anderen Seite des Atlantiks gearbeitet hat, erweist sich nicht nur als Summa seiner vielen Erfahrungen als Rezensent. Sie ist auch die Konstruktion eines teleologischen Bildes von Deutschland und den Deutschen, das sich in die Erfordernis fügt, aus der Perspektive der Vereinigten Staaten die deutschen Entwicklungen der Wilhelminischen und der Weimarer Zeit möglichst umgreifend in die Politik und Kultur Hitler-Deutschlands hinüberführen und dort kulminieren zu sehen. Nicht umsonst, wie der Filmhistoriker Leonardo Quaresima im Vorwort zu der neuesten englischen Ausgabe des "Caligari" feststellt, kommt es in zahlreichen amerikanischen Veröffentlichungen der Kriegs- und der ersten Nachkriegsjahre zu einem inflationären Gebrauch von Begriffen und Wörtern wie "pre-Facism" und "proto-Nazism", von "vision" oder "premonition".
Letzteres kennzeichnet auch den Schlusssatz von "From Caligari to Hitler", einem Buch, das Kracauer nicht nur umständehalber, sondern mit allem auktorialen Ehrgeiz auf Englisch schrieb. Von "the dark premonitions of a final doom" ist zuletzt dort die Rede - "düstere Vorahnungen des Endes und Untergangs" heißt es in der ersten, in weiten Teilen unzulässig gekürzten deutschen Ausgabe von 1958. Karsten Witte und Ruth Baumgarten, die die lange Zeit kanonische Edition von 1979 besorgten, sprechen daraufhin von einer "Götterdämmerung". Die jetzt vorgelegte Übersetzung hingegen, die überwiegend ihrer Vorgängerin folgt, aber gelegentlich exaktere und häufig auch sterilere Wendungen findet, bevorzugt die Rede vom "endgültigen Untergang".
Dass mit dem Schlusswort vom "final doom" im englischen Wortlaut zugleich das Jüngste Gericht antreten sollte, wird indes kaum berücksichtigt. Trifft sich doch hier die teleologische mit einer heilsgeschichtlichen Dimension. Offenbar vermochte der Analytiker Siegfried Kracauer seiner abgrundtief pessimistischen Sicht auf die Psyche der deutschen Wirklichkeit einen erlösenden Funken abzugewinnen.
HENDRIK FEINDT
Siegfried Kracauer: "Von Caligari zu Hitler". Eine psychologische Geschichte des deutschen Films.
Werke in neun Bänden. Band 2.1 hrsg. v. Sabine Biebl. 574 S., geb., 54,- [Euro].
"Studien zu Massenmedien und Propaganda".
Werke in neun Bänden. Bd. 2.2. hrsg. von Christian Fleck und Bernd Stiegler. 896 S., geb., 74,- [Euro]. Beide im Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rückblick auf die Vorspiele eines kommenden Untergangs: Die neue Werkausgabe von Siegfried Kracauer schließt mit zwei Bänden zu Filmgeschichte und Propaganda-Analyse.
Werkausgaben haben ihre eigene Chronologie. Den Anfang der im Suhrkamp Verlag erschienenen Werke von Siegfried Kracauer, nur acht Jahre ist es her, bildeten die Bände 6 und 9, betitelt "Kleine Schriften zum Film", sowie "Frühe Schriften aus dem Nachlass". Und diese Ausgabe beschließen nun die Bände 2.1 und 2.2: Weitestgehend enthalten sie Bücher und Studien, die der Autor in seiner neuen Heimat, den Vereinigten Staaten, im ersten Nachkriegsjahrzehnt geschrieben hat. Der eigentliche Band 1 wiederum, die veröffentlichten und die einst unveröffentlichten Sachbuchtexte der zwanziger Jahre, kam irgendwann dazwischen. Doch die früheste Publikation Kracauers ist in keinem der Bände erfasst: die Dissertation von 1915 über die Schmiedekunst. Geboten erscheint somit ein Nachtragsband, der diese Frühschrift präsentiert - zumal Kracauers lebenslange Aufmerksamkeit auf das Ornament und Detail sowie auf Fertigungstechniken sich zuallererst in seiner Erörterung schmiedeeiserner Arbeiten zeigte.
Die vorliegende Werkausgabe Siegfried Kracauers begann gleichsam mit einer (im musikalischen Wortsinn) Exposition, die den Leser von Buchseite zu Buchseite durch zunehmend analytische Argumentation überwältigte. Denn auf über eineinhalbtausend Seiten vermochten die "kleinen Schriften zum Film" bis zur Erschöpfung vor Augen zu führen, was die alltägliche Basis der Theoriebildung des Autors ausgemacht hatte. Der dreiteilige Band versammelt achthundert, größtenteils der Vergessenheit in Archiven entrissene Artikel, die nicht nur zeigen, welchem cineastischen Mittelmaß, welcher Durchschnittsware, ja sogar welchem "Dreck", wie er schreibt, der Filmkritiker Kracauer von 1921 bis 1933 im Auftrag der "Frankfurter Zeitung" tagtäglich und abendlich vor den Kinoleinwänden ausgesetzt war. Sondern zugleich repräsentieren sie das Anschauungsmaterial, aus dessen Kenntnis Kracauer später seine Thesen über die ideologischen Zusammenhänge von Prädisposition des Publikums und Determination durch die Kulturindustrie entwickeln wird.
Die magistrale Durchführung (erneut im musikalischen Sinn) erlebte die Werkausgabe dann bereits ein Jahr später, mit dem Erscheinen von Band 3. Auf den ersten Blick verhieß dieser keine Überraschung. Die "Theorie des Films", die er beinhaltet, ist die vom Verfasser noch autorisierte und seit 1964 hierzulande gut zugängliche Übersetzung seines letzten, auf Englisch verfassten Buchs: die "Theorie des Films" mit ihrem vielzitierten Untertitel "Die Errettung der äußeren Wirklichkeit". Aber der Anhang der Edition eröffnet eine neue Perspektive: Er bietet auf nahezu dreihundert Seiten eine Transkription von drei Notizheften aus den Jahren 1940/41, in denen Kracauer bereits eine erste Ästhetik des Films entworfen hatte, während er und seine Frau Lili lange Monate in Marseille auf eine Möglichkeit zur Flucht in die Vereinigten Staaten warteten. Die Marseiller Hefte waren alles andere als eine Filmtheorie nach Auschwitz. Sie standen noch vor dem ontologischen Zweifel, den Theodor W. Adorno einmal in einem Brief an Kracauer anmeldete, dass nämlich der "Komplex, für den das Wort Auschwitz einsteht, im Bild schlechterdings nicht mehr zu bewältigen" sei. Der Marseiller Entwurf stand noch für eine karnevalistische Sicht der Dinge, wo das Filmbild, selbst das einer Totenkirmes, noch die Erwartung an Heiterkeit und Ausgelassenheit zu erfüllen versprach.
Das Finale der Werkausgabe hat zunächst ein wenig von einer Reprise. Die beiden Bände paaren Filmgeschichte mit Propaganda-Analyse. Es sind Gegenstände, mit denen der Autor kraft seiner Arbeit als Kritiker vertraut war oder die ihm zusehends zu einem auch politisch motivierten Anliegen wurden: So erklärte Kracauer am 9. November 1936 - auf den Tag genau zwei Jahre vor den organisierten antisemitischen Plünderungen und nächtlichen Brandstiftungen in Deutschland -, zu seinem "Programm" gehöre seit längerem "eine Arbeit über Propaganda und das Problem der heutigen Massen". Zugleich aber machen die knapp zwanzig in den zwei Bänden versammelten Texte den entscheidenden Wendepunkt im Leben und Schaffen Kracauers einsichtig: das Wahrnehmen der "letzten Chance", wie er Adorno kurz vor seiner Abfahrt nach Amerika schrieb, "die ich nicht verspielen darf, sonst ist alles vorbei". Dies galt sowohl geographisch, historisch und thematisch wie auch hinsichtlich der Entscheidung des Autors für eine andere Sprache und Form als die seiner publizistischen Arbeiten der zwanziger und dreißiger Jahre.
Siegfried und Lili Kracauer waren aus Marseille, über Port Bou und Lissabon kommend, im April 1941 in New York eingetroffen, nach der "dunkelsten Zeit dunkler acht Jahre", deren Schilderung, wie Kracauer in einem Brief an Max Horkheimer behauptete, "Kafka in den Schatten zu stellen" vermöchte. Doch Kracauer schreibt keine autobiographische Darstellung, keine Memoiren. Vielmehr ist sein Recherchieren und Schreiben fortan einer Reihe von Forschungsaufträgen verpflichtet, deren kommunikationswissenschaftliche Ausrichtung nicht selten im Interesse der Analyse, der Abwehr und wohl auch der Anwendung psychologischer Kriegsführung steht.
Für die Filmabteilung des Museum of Modern Art in New York schreibt Kracauer 1942 eine Studie über "Propaganda und Nazikriegsfilm"; daran anknüpfend 1943 eine ausführliche Analyse über die nationalsozialistische Wochenschau ("Die Eroberung Europas auf der Leinwand"), diesmal für einen institutionellen Auftraggeber, der sich ebenso präzise wie kryptisch "Experimentelle Abteilung zur Erforschung der Kommunikation in Kriegszeiten" nennt. Später, nach dem Ende des Weltkrieges, als für die staatlichen Einrichtungen der Vereinigten Staaten nicht mehr Deutschland, sondern die UdSSR in den Fokus von Spionage, Propaganda-Abwehr und der Erkundung potentieller ideologischer Einflussgebiete rückt, verfasst Kracauer zusammen mit einem ehemaligen Mitarbeiter der CIA ein ganzes Buch mit dem Titel "Satellitenmentalität". Dessen Aufgabenstellung ist es, im Dienste des Außenministeriums anhand einer Vielzahl von Interviews mit Flüchtlingen aus Ostmitteleuropa (den sogenannten Satellitenstaaten Moskaus) die Stimmungslage der dortigen Bevölkerung im Kalten Krieg und deren Erwartungen an die westliche Politik einzuschätzen.
Der Autor, wie ihn die jetzt zugänglich gemachten Texte zu erkennen geben - der Gesamttitel des Bandes 2.2 lautet "Studien zu Massenmedien und Propaganda" -, ist dem Leser vielleicht gar nicht einmal fremd. Denn auch dasjenige Buch, das mit dem Band 2.1 der Werke wieder vorgelegt wird, hat den inneren Zusammenhang von Ideologie und mentalen Veranlagungen einer Bevölkerung zum Gegenstand: "From Caligari to Hitler", 1946 in New York abgeschlossen, 1947 in Princeton erschienen und seither Dreh- und Angelpunkt der Rezeption von Kracauers Werk.
Tatsächlich erschließt sich hier in der Zusammenschau eine nachgerade strategische Konsequenz. Diese große und einflussreiche Studie zur Geschichte des deutschen Films, an der Kracauer während seiner ersten fünf Jahre auf der anderen Seite des Atlantiks gearbeitet hat, erweist sich nicht nur als Summa seiner vielen Erfahrungen als Rezensent. Sie ist auch die Konstruktion eines teleologischen Bildes von Deutschland und den Deutschen, das sich in die Erfordernis fügt, aus der Perspektive der Vereinigten Staaten die deutschen Entwicklungen der Wilhelminischen und der Weimarer Zeit möglichst umgreifend in die Politik und Kultur Hitler-Deutschlands hinüberführen und dort kulminieren zu sehen. Nicht umsonst, wie der Filmhistoriker Leonardo Quaresima im Vorwort zu der neuesten englischen Ausgabe des "Caligari" feststellt, kommt es in zahlreichen amerikanischen Veröffentlichungen der Kriegs- und der ersten Nachkriegsjahre zu einem inflationären Gebrauch von Begriffen und Wörtern wie "pre-Facism" und "proto-Nazism", von "vision" oder "premonition".
Letzteres kennzeichnet auch den Schlusssatz von "From Caligari to Hitler", einem Buch, das Kracauer nicht nur umständehalber, sondern mit allem auktorialen Ehrgeiz auf Englisch schrieb. Von "the dark premonitions of a final doom" ist zuletzt dort die Rede - "düstere Vorahnungen des Endes und Untergangs" heißt es in der ersten, in weiten Teilen unzulässig gekürzten deutschen Ausgabe von 1958. Karsten Witte und Ruth Baumgarten, die die lange Zeit kanonische Edition von 1979 besorgten, sprechen daraufhin von einer "Götterdämmerung". Die jetzt vorgelegte Übersetzung hingegen, die überwiegend ihrer Vorgängerin folgt, aber gelegentlich exaktere und häufig auch sterilere Wendungen findet, bevorzugt die Rede vom "endgültigen Untergang".
Dass mit dem Schlusswort vom "final doom" im englischen Wortlaut zugleich das Jüngste Gericht antreten sollte, wird indes kaum berücksichtigt. Trifft sich doch hier die teleologische mit einer heilsgeschichtlichen Dimension. Offenbar vermochte der Analytiker Siegfried Kracauer seiner abgrundtief pessimistischen Sicht auf die Psyche der deutschen Wirklichkeit einen erlösenden Funken abzugewinnen.
HENDRIK FEINDT
Siegfried Kracauer: "Von Caligari zu Hitler". Eine psychologische Geschichte des deutschen Films.
Werke in neun Bänden. Band 2.1 hrsg. v. Sabine Biebl. 574 S., geb., 54,- [Euro].
"Studien zu Massenmedien und Propaganda".
Werke in neun Bänden. Bd. 2.2. hrsg. von Christian Fleck und Bernd Stiegler. 896 S., geb., 74,- [Euro]. Beide im Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Stefan Dornuf legt die Vorzüge dieser Werkausgabe von Siegfried Kracauers "From Caligari to Hitler" schon am Titel dar: "Von Caligari zu Hitler". In einer älteren Übersetzung war das englische "to" mit dem deutschen, zeitlichen "bis" ersetzt und überhaupt einiges verfälscht oder weggelassen worden, berichtet der Rezensent. Er vermutet, die Beschönigung der beabsichtigten Bezugnahme auf die kausalen Zusammenhänge war der "fröhlichen Restauration der Adenauer-Ära" geschuldet. Doch gerade die Abhängigkeiten und Wechselwirkungen sind es, die Kracauers Blick auf Film als gesellschaftliches Phänomen ausmachen, erklärt Dornuf: "Kino als Manifestation eines kollektiven Unbewussten, das es ideologiekritisch zu dechiffrieren gelte". Die Auseinandersetzungen des Autors mit Filmen wie Fritz Langs "Nibelungen" oder "Metropolis" sind als Teil der neuen Werkausgabe in ihren richtigen Kontext gerückt, lobt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH