Spätsommer. Eine Hochhaussiedlung, irgendwo in Italien. Ein zehnjähriges Mädchen, Martina, in einem blauen Kleid und roten Boots, steht vor einem riesigen Maisfeld und singt vor sich hin. Durch ihren selbstvergessenen Blick, der die Welt mit einem verträumten Staunen betrachtet, gerät der Leser in die Geschichte eines beunruhigenden Geheimnisses. Am Ende des Schuljahres, in der kurzen und endlosen Zeit eines Sommers, spielt eine Gruppe von Kindern zwischen den gelben Maisfeldern der Emilia Romagna verbotene Spiele, die immer extremer werden. Weit entfernt von den Blicken der Erwachsenen passiert Aufregendes und Schreckliches, es gibt Neugier und Lust, und dann Schmerz, Ekel und blankes Entsetzen. Erzählt wird aus der Perspektive von Martina, Greta, Luca, Matteo und dem schon 15jährigen Mirko, dem Anführer der Gruppe.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.1998Zufälliger Tod einer Zehnjährigen
Simona Vinci beschreibt eine Kindertragödie
Simona Vincis Roman "Von den Kindern weiß man nichts" erzählt in Rückblenden davon, wie fünf Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren in einem verlassenen Schuppen Pornohefte anschauen und das Dargestellte nachspielen. Die Hefte werden "härter", die Spiele auch; sie steigern sich bis zu sadistischem Sex und enden mit dem Tod eines der Mädchen. Voyeure kommen bei der Lektüre nicht auf ihre Kosten; die Autorin ist sehr bemüht darum, den Eindruck zu vermeiden, das entsetzliche Geschehen werde reißerisch umgesetzt. Sie erzählt aus der Perspektive der Kinder; ihre Sätze sind knapp und nüchtern. Simona Vinci will nicht erklären, nicht moralisieren und nicht psychologisieren; daß unter der Führung eines Vierzehnjährigen eine Zehnjährige mehr aus Versehen zu Tode gequält wird, soll in seiner Unfaßbarkeit so stehenbleiben. Der Ansatz ist plausibel, aber er wird zugleich zu radikal und nicht radikal genug umgesetzt.
Zum einen treibt die Autorin die Isolation der Kindergruppe zu weit. Deren Leben findet, wenigstens im Roman, fast nur im Schuppen statt; nur schemenhaft taucht die Hochhaussiedlung am Rande eines riesigen Feldes auf, irgendwo in der Emilia Romagna, nur beiläufig ist von der Schule, beschäftigten Eltern und dem laufenden Fernseher die Rede. So schafft Simona Vinci, indem sie ihre kindlichen Protagonisten aus ihrem sozialen Umfeld schneidet, die Atmosphäre einer Versuchsanordnung. Zum anderen gelingt es ihr nicht, die Perspektive kindlichen Erlebens beizubehalten: Referierend-kommentierende Passagen ("Es waren Erfahrungen, die verbanden und gleichzeitig trennten"), Erwachsenenvokabular (wie "Varianten" und "Positionen"), ein banales Erklärungssignal (der Anführer hat schon als Kind "immer alles kaputtgemacht") und die Allerweltskategorie des "Bösen" sind Fremdkörper im strengen sprachlichen Raum. Simona Vinci ist der Gefahr, das Thema Kindesmißbrauch literarisch zu mißbrauchen, entgangen. Dafür ist sie ins andere Extrem gefallen: Sie verharrt in einer Art Beobachtungs- und Beschreibungsstarre. Von den Kindern weiß man immer noch nichts. MARTIN EBEL
Simona Vinci: "Von den Kindern weiß man nichts". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Petra Kaiser und Peter Klöss. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 184 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Simona Vinci beschreibt eine Kindertragödie
Simona Vincis Roman "Von den Kindern weiß man nichts" erzählt in Rückblenden davon, wie fünf Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren in einem verlassenen Schuppen Pornohefte anschauen und das Dargestellte nachspielen. Die Hefte werden "härter", die Spiele auch; sie steigern sich bis zu sadistischem Sex und enden mit dem Tod eines der Mädchen. Voyeure kommen bei der Lektüre nicht auf ihre Kosten; die Autorin ist sehr bemüht darum, den Eindruck zu vermeiden, das entsetzliche Geschehen werde reißerisch umgesetzt. Sie erzählt aus der Perspektive der Kinder; ihre Sätze sind knapp und nüchtern. Simona Vinci will nicht erklären, nicht moralisieren und nicht psychologisieren; daß unter der Führung eines Vierzehnjährigen eine Zehnjährige mehr aus Versehen zu Tode gequält wird, soll in seiner Unfaßbarkeit so stehenbleiben. Der Ansatz ist plausibel, aber er wird zugleich zu radikal und nicht radikal genug umgesetzt.
Zum einen treibt die Autorin die Isolation der Kindergruppe zu weit. Deren Leben findet, wenigstens im Roman, fast nur im Schuppen statt; nur schemenhaft taucht die Hochhaussiedlung am Rande eines riesigen Feldes auf, irgendwo in der Emilia Romagna, nur beiläufig ist von der Schule, beschäftigten Eltern und dem laufenden Fernseher die Rede. So schafft Simona Vinci, indem sie ihre kindlichen Protagonisten aus ihrem sozialen Umfeld schneidet, die Atmosphäre einer Versuchsanordnung. Zum anderen gelingt es ihr nicht, die Perspektive kindlichen Erlebens beizubehalten: Referierend-kommentierende Passagen ("Es waren Erfahrungen, die verbanden und gleichzeitig trennten"), Erwachsenenvokabular (wie "Varianten" und "Positionen"), ein banales Erklärungssignal (der Anführer hat schon als Kind "immer alles kaputtgemacht") und die Allerweltskategorie des "Bösen" sind Fremdkörper im strengen sprachlichen Raum. Simona Vinci ist der Gefahr, das Thema Kindesmißbrauch literarisch zu mißbrauchen, entgangen. Dafür ist sie ins andere Extrem gefallen: Sie verharrt in einer Art Beobachtungs- und Beschreibungsstarre. Von den Kindern weiß man immer noch nichts. MARTIN EBEL
Simona Vinci: "Von den Kindern weiß man nichts". Roman. Aus dem Italienischen übersetzt von Petra Kaiser und Peter Klöss. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998. 184 S., geb., 29,80 DM.
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