Die Ausbreitung alternativer Formen kultureller Informationsverarbeitung und Vernetzung wird gegenwärtig dadurch erschwert, daß wir uns noch immer an den Idealen und Konzepten orientieren, die in der Vergangenheit für die Beschreibung und Propagierung der Buch- und Industriekultur entwickelt wurden. Gerade die Erfolge dieser Epoche haben zu Mystifizierung geführt. Im Licht der ökologischen Kommunikationstheorie erscheinen die Ambivalenzen der einzelnen Medien und die Wechselwirkungen zwischen ihnen als Quelle der historischen Dynamik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Am Heeresgerät vergriffen
Elektrische Promiskuität als Ideal: Michael Gieseckes Evangelium der neuen Medien / Von Christoph Albrecht
Sie reißen ihnen die schützenden Hüllen vom Leib und legen sie nackt vor sich hin. Sie besudeln sie mit ihren schmierigen Besitzstempeln. In einer demütigenden bürokratischen Prozedur erfassen sie ihren Geburtsort und -jahr, ihren Namen und den ihrer Erzeuger und stellen sie in einem Katalog aus. Sie brandmarken sie mit einer Nummer. Sie stellen sie der Reihe nach auf, damit jeder, den danach gelüstet, sie befingern oder gegen eine pauschale Gebühr zu sich nach Hause mitnehmen kann. Bibliotheken, die das vornehme "Gedächtnis der Menschheit" bilden, sind Bordelle, in denen wir Unzucht mit Abwesenden oder gar Toten treiben. Bibliothekare, deren wir uns bei unserem Tun bedienen, sind die Zuhälter des Geistes, und wir sind seine lechzenden Freier.
Unsere Sünde hat einen tiefen Grund. Sie liegt in der sogenannten "Buchkultur" selbst. Lange Zeit war sie unsere natürliche Umwelt; heute erscheint sie uns als Mythos, den wir genauso entzaubern, wie die Buchkultur alles entzaubert hat, was vor ihr gewesen war. Sie ihrer schützenden Mythen zu entkleiden und sie nackt vor uns hinzustellen ist das scheinbar obszöne, aber notwendige Projekt des Medienhistorikers Michael Giesecke. Er wurde bekannt durch sein großes Werk zum "Buchdruck in der frühen Neuzeit", die detaillierte technische und sozialgeschichtliche Analyse dieses Leitmediums - gewissermaßen das Alte Testament seiner Medientheorie. Sein neues Buch ist die lang erwartete Fortsetzung. Jesus hat der Sünderin vergeben, und so darf auch die Buchkultur auf Vergebung hoffen. Aber werden auch unsere Buchpharisäer entzückt sein von den Visionen Gieseckes?
Sein Buch zerfällt in zwei Teile, die sein Titel deutlich benennt: Der eine zerstört Mythen, der andere baut Visionen. Damit ist auch der doppelte "performative Selbstwiderspruch" dieses Buchs benannt: In der Zerstörung der Mythen des Buchalltags bewährt und bewahrt es alle Stärken dieser monomedialen Kultur, zu der es gehört. Und im Entwerfen von Visionen zeigt es, wie sehr das Medium Buch eine kommunikative Einbahnstraße ist. Wie konnte sich dieses Medium überhaupt gegen alle Wahrscheinlichkeit durchsetzen? Der Buchdruck schlug durch als Medium für praktische (und im Fall Luthers ideologische) Unterweisung. Implizites Handwerkerwissen, das durch Nachahmung vom Vater auf den Sohn, vom Meister auf den Lehrling weitergegeben wurde, konnten literarisch begabte Zunftkollegen im entstehenden Buchmarkt verkaufen. Sie steigerten so ihr Ansehen und Prestige und damit ihren Marktwert. Es entstand eine neue Infrastruktur von Papiermühlen, Druckereien, Verlagen und Buchmarkt. Diese Infrastruktur prägte und standardisierte die Form öffentlichen Wissens: Ein Apotheker mußte kontextfrei, unabhängig von Zeit und Raum, die Rezepte eines Kollegen verstehen und nachvollziehen können, um das vorhandene Wissen prüfen und durch eigene Erfahrung anreichern zu können.
Unser positivistisches, erfahrungswissenschaftliches Weltbild, das auf antrainierten Normen zentralperspektivischer und standardsprachlicher Beschreibung von Gegenständen und der Quantifizierung aller ihrer Beziehungen beruht, ging aus diesem Prozeß hervor. Nach ein paar hundert Jahren Übung finden wir rechnenden Alphabeten es sogar "natürlich", in künstlichen Symbolwelten aus Buchstaben, Zahlen, Landkarten oder zentralperspektivischen Bildern zu navigieren und willkürlich die Bewegungen und Standpunkte fremder Leute aus anderen Räumen und Zeiten nachzuvollziehen und einzunehmen - mit dem Gefühl, genau das gleiche wahrzunehmen und zu tun wie sie, obwohl wir nur in unseren Bibliotheken und Labors sitzen und Bedienungsanleitungen für die Wirklichkeit lesen. Daß dieses Gefühl nicht trügt, sagt dem westlichen Wissenschaftsmenschen seine ungeheure materielle Überlegenheit über alle Kulturen, die sich noch nicht dem typographischen Regime unterworfen haben.
An die Stelle des typographischen Fern-Sehens, Fern-Hörens, Fern-Fühlens und so weiter treten heute neue, breitbandige, interaktive technische Medien - die selbstmörderischen Hervorbringungen eben dieser zutiefst technischen, nur zu Übungszwecken "humanistischen" Buchkultur. Als Kommunikationsmedium hat das Buch ausgedient. Es behält seine Bedeutung als Speichermedium für abstrahierte technische Informationen. Und es dient noch als schulische Formlehre, mit der bestimmte unserer kognitiven Fähigkeiten standardisiert werden wie DIN-konforme Schrauben und trainiert wie die Muskeln eines Bodybuilders oder eines Rennpferds. So dringend wir dieser standardisierten Fähigkeiten bedürfen, sowenig ausgemacht ist es jedoch, daß "Leseförderung" die effizienteste Trainingsmethode ist, wie die aussterbende Elite der Buchkultur mit Hinweis auf "Pisa" und einen angeblichen Kulturzerfall behauptet.
Den Platz dieser morbiden Kultur nehmen vorerst meist nur andere Buchabstraktionen ein, denn sinnvolle Netzwerkeffekte etwa der neuen Generation multimedialer Mobiltelefone können sich bisher nur wenige vorstellen. Zu diesen Visionären gehören jedoch immerhin etwa die Ingenieure, die sich in der vergangenen Woche in Darmstadt auf einem internationalen Symposion über "Mixed and Augmented Reality" trafen. Hier ging es einmal nicht nur um "Ballerspiele", sondern um industrienähere Anwendungen: Fernkonsultationen von Experten durch vor Ort arbeitende Service-Ingenieure, die mit ihren Datenhelmen die zu wartenden Geräte quasi informationell durchleuchten, "erweiterte Bücher" mit dreidimensionalen "Videos" und Live-Erzählern oder auch Karatetraining an den virtuellen Körpern von Großmeistern, dreidimensionale Videokonferenzen, kollaboratives Konstruieren - also ein weites Spektrum kommunikativ erweiterter, angereicherter und gemischter "Wirklichkeit".
Nachdem er mit der beinahe herkulischen Zahl von elf verschiedenen "Mythen" des Buchalltags aufgeräumt hat, läßt Giesecke die zu diesen neuen sozialen Wirklichkeiten passende interaktive Semantik aufblühen. Sie hält jedoch für uns abgeklärte Buchfetischisten ziemliche Zumutungen bereit: "Meditation, Selbstbeobachtung und -beherrschung, Einsatz von Glauben und Telepathie". Stirbt die Buchkultur nur, um neuen Mystizismen Platz zu machen? Giesecke will jedoch das Feld gerade nicht den "Esoterikern" überlassen. Er sucht auch nicht das Heil im vielleicht zentralen Mythos der Buchkultur: daß nur die Technik oder der Markt Katalysatoren des kulturellen Wandels seien. Giesecke erweitert den Begriff der Medien, der bei ihm Technik, Natur und Gesellschaft umfaßt. In manchen Passagen erscheint dem Leser Giesecke wie ein heiliger Franziskus, der selbst die Tiere, Pflanzen und Steine in seinen Begriff ökologischer Kommunikation einbezieht. Der Stoffwechsel mit der Natur, unser noch engeres Zusammenwachsen mit technischen Medien zu den "hybriden Objekten" im Sinne des französischen Techniksoziologen Bruno Latour, die Interaktion mit anderen Menschen: Alles ist Kultur, alles ist Medium, der Mensch ist "Relais".
Das Modell dieses ökologischen Miteinanders sind für Giesecke nicht der Markt oder interaktive technische Medien, sondern das Gespräch, die interaktionsintensive Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Neu ist nur, daß technische Medien heute diese Kommunikationsformen teilweise in der vollen "Bandbreite" aller Sinneskanäle technisieren. Alles tritt mit allem verlustfrei und ohne Umweg über die typographischen Abstraktionen miteinander in Beziehung. Dies schärft unsere Sensibilität für soziale Beziehungen, für jenen Bereich der Wirklichkeit, der jenseits des buchkulturellen Fokus auf "Objektivität" und hierarchische Organisation liegt. Die Bedeutung des Gesprächs wächst. Und ähnlich wie die Technik der interaktionsfreien Buchkommunikation in der frühen Neuzeit das praktische, technische Wissen förderte, so begünstigen die interaktionsintensiven neuen Medien das therapeutische, sozialtechnische Wissen. Und dieser Umstand erklärt schließlich auch, warum Giesecke so viele Anleihen in der Managementliteratur macht und sich ihr im manchmal mystifizierenden Jargon, in den "Powerpoint"-kompatiblen Diagrammen, Tabellen und Aufzählungen, selbst anverwandelt. Sein Buch kann man auch als Reklamebroschüre lesen, wie sie in der Beraterbranche üblich ist: gespickt mit neuen Kunstwörtern für neue Phänomene, die einen immer neuen Beratungsbedarf gleichzeitig suggerieren und selbst hervorbringen. Beratung ist eine der großen Wachstumsbranchen. Ähnlich wie dem praktischen Wissen der Frühneuzeit gelingt es ihr, ihre Nachfrage selbst zu erzeugen.
Warum sollte "interpersonelle Informationsverarbeitung" einfacher sein als technische, fragt Giesecke. Was neben den klassischen kognitiven und praktischen Fähigkeiten in den betrieblichen Fortbildungsprogrammen seit Jahren eine wichtige Rolle spielt, geht deshalb auch bereits in die Standards der öffentlichen Bildungssysteme ein: Verbesserung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, Moderieren und Visualisieren, Teamarbeit und Konfliktbewältigung. Giesecke beansprucht mit seinem Werk, die durch ihre Fixierung auf die Technik bedingte Stagnation der Medientheorie aufzulösen. Jenen quasi alttestamentlichen Medientheoretikern wie etwa Friedrich Kittler, die in aller Kommunikation einen "Mißbrauch von Heeresgerät" und im Krieg den zornigen Vater aller Dinge sehen, stellt Giesecke sein Beraterevangelium zur Seite. Für ihn ist "die Liebe, das Bedürfnis nach Nähe und Bewahrung", die Mutter aller gruppendynamischen Prozesse. Elektrische Promiskuität statt Papierfetischismus lautet die frohe Botschaft des ökologischen Sozialtechnikers.
Michael Giesecke: "Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft". Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie. Mit einer CD-ROM mit dem Volltext des Buches sowie weiteren Aufsätzen und Materialien. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 457 S., br., 17,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elektrische Promiskuität als Ideal: Michael Gieseckes Evangelium der neuen Medien / Von Christoph Albrecht
Sie reißen ihnen die schützenden Hüllen vom Leib und legen sie nackt vor sich hin. Sie besudeln sie mit ihren schmierigen Besitzstempeln. In einer demütigenden bürokratischen Prozedur erfassen sie ihren Geburtsort und -jahr, ihren Namen und den ihrer Erzeuger und stellen sie in einem Katalog aus. Sie brandmarken sie mit einer Nummer. Sie stellen sie der Reihe nach auf, damit jeder, den danach gelüstet, sie befingern oder gegen eine pauschale Gebühr zu sich nach Hause mitnehmen kann. Bibliotheken, die das vornehme "Gedächtnis der Menschheit" bilden, sind Bordelle, in denen wir Unzucht mit Abwesenden oder gar Toten treiben. Bibliothekare, deren wir uns bei unserem Tun bedienen, sind die Zuhälter des Geistes, und wir sind seine lechzenden Freier.
Unsere Sünde hat einen tiefen Grund. Sie liegt in der sogenannten "Buchkultur" selbst. Lange Zeit war sie unsere natürliche Umwelt; heute erscheint sie uns als Mythos, den wir genauso entzaubern, wie die Buchkultur alles entzaubert hat, was vor ihr gewesen war. Sie ihrer schützenden Mythen zu entkleiden und sie nackt vor uns hinzustellen ist das scheinbar obszöne, aber notwendige Projekt des Medienhistorikers Michael Giesecke. Er wurde bekannt durch sein großes Werk zum "Buchdruck in der frühen Neuzeit", die detaillierte technische und sozialgeschichtliche Analyse dieses Leitmediums - gewissermaßen das Alte Testament seiner Medientheorie. Sein neues Buch ist die lang erwartete Fortsetzung. Jesus hat der Sünderin vergeben, und so darf auch die Buchkultur auf Vergebung hoffen. Aber werden auch unsere Buchpharisäer entzückt sein von den Visionen Gieseckes?
Sein Buch zerfällt in zwei Teile, die sein Titel deutlich benennt: Der eine zerstört Mythen, der andere baut Visionen. Damit ist auch der doppelte "performative Selbstwiderspruch" dieses Buchs benannt: In der Zerstörung der Mythen des Buchalltags bewährt und bewahrt es alle Stärken dieser monomedialen Kultur, zu der es gehört. Und im Entwerfen von Visionen zeigt es, wie sehr das Medium Buch eine kommunikative Einbahnstraße ist. Wie konnte sich dieses Medium überhaupt gegen alle Wahrscheinlichkeit durchsetzen? Der Buchdruck schlug durch als Medium für praktische (und im Fall Luthers ideologische) Unterweisung. Implizites Handwerkerwissen, das durch Nachahmung vom Vater auf den Sohn, vom Meister auf den Lehrling weitergegeben wurde, konnten literarisch begabte Zunftkollegen im entstehenden Buchmarkt verkaufen. Sie steigerten so ihr Ansehen und Prestige und damit ihren Marktwert. Es entstand eine neue Infrastruktur von Papiermühlen, Druckereien, Verlagen und Buchmarkt. Diese Infrastruktur prägte und standardisierte die Form öffentlichen Wissens: Ein Apotheker mußte kontextfrei, unabhängig von Zeit und Raum, die Rezepte eines Kollegen verstehen und nachvollziehen können, um das vorhandene Wissen prüfen und durch eigene Erfahrung anreichern zu können.
Unser positivistisches, erfahrungswissenschaftliches Weltbild, das auf antrainierten Normen zentralperspektivischer und standardsprachlicher Beschreibung von Gegenständen und der Quantifizierung aller ihrer Beziehungen beruht, ging aus diesem Prozeß hervor. Nach ein paar hundert Jahren Übung finden wir rechnenden Alphabeten es sogar "natürlich", in künstlichen Symbolwelten aus Buchstaben, Zahlen, Landkarten oder zentralperspektivischen Bildern zu navigieren und willkürlich die Bewegungen und Standpunkte fremder Leute aus anderen Räumen und Zeiten nachzuvollziehen und einzunehmen - mit dem Gefühl, genau das gleiche wahrzunehmen und zu tun wie sie, obwohl wir nur in unseren Bibliotheken und Labors sitzen und Bedienungsanleitungen für die Wirklichkeit lesen. Daß dieses Gefühl nicht trügt, sagt dem westlichen Wissenschaftsmenschen seine ungeheure materielle Überlegenheit über alle Kulturen, die sich noch nicht dem typographischen Regime unterworfen haben.
An die Stelle des typographischen Fern-Sehens, Fern-Hörens, Fern-Fühlens und so weiter treten heute neue, breitbandige, interaktive technische Medien - die selbstmörderischen Hervorbringungen eben dieser zutiefst technischen, nur zu Übungszwecken "humanistischen" Buchkultur. Als Kommunikationsmedium hat das Buch ausgedient. Es behält seine Bedeutung als Speichermedium für abstrahierte technische Informationen. Und es dient noch als schulische Formlehre, mit der bestimmte unserer kognitiven Fähigkeiten standardisiert werden wie DIN-konforme Schrauben und trainiert wie die Muskeln eines Bodybuilders oder eines Rennpferds. So dringend wir dieser standardisierten Fähigkeiten bedürfen, sowenig ausgemacht ist es jedoch, daß "Leseförderung" die effizienteste Trainingsmethode ist, wie die aussterbende Elite der Buchkultur mit Hinweis auf "Pisa" und einen angeblichen Kulturzerfall behauptet.
Den Platz dieser morbiden Kultur nehmen vorerst meist nur andere Buchabstraktionen ein, denn sinnvolle Netzwerkeffekte etwa der neuen Generation multimedialer Mobiltelefone können sich bisher nur wenige vorstellen. Zu diesen Visionären gehören jedoch immerhin etwa die Ingenieure, die sich in der vergangenen Woche in Darmstadt auf einem internationalen Symposion über "Mixed and Augmented Reality" trafen. Hier ging es einmal nicht nur um "Ballerspiele", sondern um industrienähere Anwendungen: Fernkonsultationen von Experten durch vor Ort arbeitende Service-Ingenieure, die mit ihren Datenhelmen die zu wartenden Geräte quasi informationell durchleuchten, "erweiterte Bücher" mit dreidimensionalen "Videos" und Live-Erzählern oder auch Karatetraining an den virtuellen Körpern von Großmeistern, dreidimensionale Videokonferenzen, kollaboratives Konstruieren - also ein weites Spektrum kommunikativ erweiterter, angereicherter und gemischter "Wirklichkeit".
Nachdem er mit der beinahe herkulischen Zahl von elf verschiedenen "Mythen" des Buchalltags aufgeräumt hat, läßt Giesecke die zu diesen neuen sozialen Wirklichkeiten passende interaktive Semantik aufblühen. Sie hält jedoch für uns abgeklärte Buchfetischisten ziemliche Zumutungen bereit: "Meditation, Selbstbeobachtung und -beherrschung, Einsatz von Glauben und Telepathie". Stirbt die Buchkultur nur, um neuen Mystizismen Platz zu machen? Giesecke will jedoch das Feld gerade nicht den "Esoterikern" überlassen. Er sucht auch nicht das Heil im vielleicht zentralen Mythos der Buchkultur: daß nur die Technik oder der Markt Katalysatoren des kulturellen Wandels seien. Giesecke erweitert den Begriff der Medien, der bei ihm Technik, Natur und Gesellschaft umfaßt. In manchen Passagen erscheint dem Leser Giesecke wie ein heiliger Franziskus, der selbst die Tiere, Pflanzen und Steine in seinen Begriff ökologischer Kommunikation einbezieht. Der Stoffwechsel mit der Natur, unser noch engeres Zusammenwachsen mit technischen Medien zu den "hybriden Objekten" im Sinne des französischen Techniksoziologen Bruno Latour, die Interaktion mit anderen Menschen: Alles ist Kultur, alles ist Medium, der Mensch ist "Relais".
Das Modell dieses ökologischen Miteinanders sind für Giesecke nicht der Markt oder interaktive technische Medien, sondern das Gespräch, die interaktionsintensive Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Neu ist nur, daß technische Medien heute diese Kommunikationsformen teilweise in der vollen "Bandbreite" aller Sinneskanäle technisieren. Alles tritt mit allem verlustfrei und ohne Umweg über die typographischen Abstraktionen miteinander in Beziehung. Dies schärft unsere Sensibilität für soziale Beziehungen, für jenen Bereich der Wirklichkeit, der jenseits des buchkulturellen Fokus auf "Objektivität" und hierarchische Organisation liegt. Die Bedeutung des Gesprächs wächst. Und ähnlich wie die Technik der interaktionsfreien Buchkommunikation in der frühen Neuzeit das praktische, technische Wissen förderte, so begünstigen die interaktionsintensiven neuen Medien das therapeutische, sozialtechnische Wissen. Und dieser Umstand erklärt schließlich auch, warum Giesecke so viele Anleihen in der Managementliteratur macht und sich ihr im manchmal mystifizierenden Jargon, in den "Powerpoint"-kompatiblen Diagrammen, Tabellen und Aufzählungen, selbst anverwandelt. Sein Buch kann man auch als Reklamebroschüre lesen, wie sie in der Beraterbranche üblich ist: gespickt mit neuen Kunstwörtern für neue Phänomene, die einen immer neuen Beratungsbedarf gleichzeitig suggerieren und selbst hervorbringen. Beratung ist eine der großen Wachstumsbranchen. Ähnlich wie dem praktischen Wissen der Frühneuzeit gelingt es ihr, ihre Nachfrage selbst zu erzeugen.
Warum sollte "interpersonelle Informationsverarbeitung" einfacher sein als technische, fragt Giesecke. Was neben den klassischen kognitiven und praktischen Fähigkeiten in den betrieblichen Fortbildungsprogrammen seit Jahren eine wichtige Rolle spielt, geht deshalb auch bereits in die Standards der öffentlichen Bildungssysteme ein: Verbesserung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, Moderieren und Visualisieren, Teamarbeit und Konfliktbewältigung. Giesecke beansprucht mit seinem Werk, die durch ihre Fixierung auf die Technik bedingte Stagnation der Medientheorie aufzulösen. Jenen quasi alttestamentlichen Medientheoretikern wie etwa Friedrich Kittler, die in aller Kommunikation einen "Mißbrauch von Heeresgerät" und im Krieg den zornigen Vater aller Dinge sehen, stellt Giesecke sein Beraterevangelium zur Seite. Für ihn ist "die Liebe, das Bedürfnis nach Nähe und Bewahrung", die Mutter aller gruppendynamischen Prozesse. Elektrische Promiskuität statt Papierfetischismus lautet die frohe Botschaft des ökologischen Sozialtechnikers.
Michael Giesecke: "Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft". Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie. Mit einer CD-ROM mit dem Volltext des Buches sowie weiteren Aufsätzen und Materialien. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 457 S., br., 17,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Vor zehn Jahren hat Michael Giesecke mit einer großen Studie über den Buchdruck in der Neuzeit ein Standardwerk vorgelegt, an dessen Thesen er in seinem neusten Buch anknüpft, erklärt Rezensentin Caroline Pross. Die Hauptthese Gieseckes laute, dass technologische Wandlungen auch kulturelle Wahrnehmungs-, Denk- und Kommunikationsmuster verändern. In der ersten Hälfte des neuen Buches rekapituliere der Autor noch einmal die Kommunikationsarten und Wissensformen, die das Buchzeitalter auszeichneten: die auditive und taktile Wahrnehmung trat zugunsten der visuellen Wahrnehmung zurück, resümiert Pross. Gerade das ändert sich nun wieder, erläutert sie Gieseckes Gedankengang: bei den elektronischen Medien würden Formen der interaktiven Wissensorganisation aufgewertet, die dialogischen Charakter hätten. Neben dem Sehen spiele außerdem das synchrone Hören wieder eine verstärkte Rolle. Die mentalen Folgen dieses technologischen Umbruchs hält Giesecke für mindestens ebenso schwerwiegend wie die Einführung des Buchdrucks, berichtet Pross. Der Autor rate deshalb, sich an Übergangsobjekte zu halten wie er selbst eines vorgelegt hat: zu dem Buch gibt es eine CD-Rom, die zusätzliches Bildmaterial, Grafiken, Links und Faksimiles alter Handschriften enthält.
© Perlentaucher Medien GmbH
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