Die literarische Wiederentdeckung: der hellsichtige Blick eines Intellektuellen auf die Jahre 1933-1939
»Es war vor allem nicht leicht, inmitten eines grandios aufgeblähten Machtsystems zu leben, inmitten eines geistigen Terrors, einer phantastischen Lügenhaftigkeit, innerlich abseits, bemüht, sich nicht blenden zu lassen, auch nicht von scheinbaren Vorzügen und Erfolgen.«
Hermann Stresau arbeitet als Bibliothekar in Berlin, als 1933 die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten erfolgt. In seinen Tagebüchern, die der in Amerika geborene Intellektuelle mit der Machtergreifung wieder aufnimmt, entfaltet sich ein intimes Bild der Vorkriegszeit. Ausnehmend klarsichtig schildert er, wie die neuen Machthaber mit der ihnen eigenen Mischung aus geschickt eingesetzter Propaganda, inszenierten Machtdemonstrationen, der skrupellosen Ausübung von Gewalt und einer gut organisierten Bürokratie die Herrschaft absicherten und Stück für Stück ausweiteten. Doch genauso sehr interessiert sich Stresau für sein Umfeld. Reflektiert beschreibt er das Verhalten derjenigen, die sich aus Überzeugung oder Karrieregründen dem System andienen, schildert das Mitläufertum ebenso wie die Gedanken der ihm Gleichgesinnten, die sich den neuen Verhältnissen verweigern. So entsteht ein unvergleichliches Zeitpanorama und Psychogramm der Deutschen. Die Tagebücher wurden von den Herausgebern Peter Graf und Ulrich Faure wiederentdeckt und reichen von 1933-1945. Ein zweiter Band, der die Kriegsjahre umfasst, erscheint im Herbst 2021.
Die Herausgeber Peter Graf und Ulrich Faure zur Editionsgeschichte
Die Originaltagebücher Hermann Stresaus werden gemeinsam mit seinem weiteren Nachlass im Literaturarchiv Marbach verwahrt. Es sind schmucklose schwarze Kladden, in die er handschriftlich seine Beobachtungen und Gedanken niedergeschrieben hat. Aber wer darin zu lesen beginnt, spürt sofort, dass dies keine rein privaten Aufzeichnungen sind; hier möchte jemanddie Ereignisse zwischen 1933 und 1945 für die Nachwelt festhalten und Zeugnis ablegen. Und so veröffentlichte Hermann Stresau bereits 1948 unter dem Titel »Von Jahr zu Jahr« eine Auswahl seiner Tagebuchnotizen im Berliner Minerva Verlag. Zu früh, denn so kurz nach dem Krieg stießen seine Erinnerungen auf kein großes Echo. Und vielleicht kann dieses bedeutende literarische Zeitdokument auch erst mit dem heutigen Abstand von mehr als 80 Jahren gewürdigt werden. Die vorliegende Ausgabe vereint in einem ersten Band alle Eintragungen Stresaus und kommentiert sie, auch jene, die er in seiner Erstveröffentlichung aus Platzgründen weggelassen hat.
Peter Graf, Ulrich Faure, Herbst 2020
»Es war vor allem nicht leicht, inmitten eines grandios aufgeblähten Machtsystems zu leben, inmitten eines geistigen Terrors, einer phantastischen Lügenhaftigkeit, innerlich abseits, bemüht, sich nicht blenden zu lassen, auch nicht von scheinbaren Vorzügen und Erfolgen.«
Hermann Stresau arbeitet als Bibliothekar in Berlin, als 1933 die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten erfolgt. In seinen Tagebüchern, die der in Amerika geborene Intellektuelle mit der Machtergreifung wieder aufnimmt, entfaltet sich ein intimes Bild der Vorkriegszeit. Ausnehmend klarsichtig schildert er, wie die neuen Machthaber mit der ihnen eigenen Mischung aus geschickt eingesetzter Propaganda, inszenierten Machtdemonstrationen, der skrupellosen Ausübung von Gewalt und einer gut organisierten Bürokratie die Herrschaft absicherten und Stück für Stück ausweiteten. Doch genauso sehr interessiert sich Stresau für sein Umfeld. Reflektiert beschreibt er das Verhalten derjenigen, die sich aus Überzeugung oder Karrieregründen dem System andienen, schildert das Mitläufertum ebenso wie die Gedanken der ihm Gleichgesinnten, die sich den neuen Verhältnissen verweigern. So entsteht ein unvergleichliches Zeitpanorama und Psychogramm der Deutschen. Die Tagebücher wurden von den Herausgebern Peter Graf und Ulrich Faure wiederentdeckt und reichen von 1933-1945. Ein zweiter Band, der die Kriegsjahre umfasst, erscheint im Herbst 2021.
Die Herausgeber Peter Graf und Ulrich Faure zur Editionsgeschichte
Die Originaltagebücher Hermann Stresaus werden gemeinsam mit seinem weiteren Nachlass im Literaturarchiv Marbach verwahrt. Es sind schmucklose schwarze Kladden, in die er handschriftlich seine Beobachtungen und Gedanken niedergeschrieben hat. Aber wer darin zu lesen beginnt, spürt sofort, dass dies keine rein privaten Aufzeichnungen sind; hier möchte jemanddie Ereignisse zwischen 1933 und 1945 für die Nachwelt festhalten und Zeugnis ablegen. Und so veröffentlichte Hermann Stresau bereits 1948 unter dem Titel »Von Jahr zu Jahr« eine Auswahl seiner Tagebuchnotizen im Berliner Minerva Verlag. Zu früh, denn so kurz nach dem Krieg stießen seine Erinnerungen auf kein großes Echo. Und vielleicht kann dieses bedeutende literarische Zeitdokument auch erst mit dem heutigen Abstand von mehr als 80 Jahren gewürdigt werden. Die vorliegende Ausgabe vereint in einem ersten Band alle Eintragungen Stresaus und kommentiert sie, auch jene, die er in seiner Erstveröffentlichung aus Platzgründen weggelassen hat.
Peter Graf, Ulrich Faure, Herbst 2020
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Knud von Harbou liest die von Peter Graf und Ulrich Faure herausgegebenen Tagebücher von Hermann Stresau mit großem Interesse. Als Aufzeichnungen eines konservativen Intellektuellen, der die NS-Herrschaft betrachtet und reflektiert, sind die Bücher für Harbou spannend, da sie widersprüchlich bleiben und bestenfalls eine Entwicklung nachzeichnen. Wie der Autor 1933 auf die NS-Propaganda noch ambivalent reagiert, letztlich aber Außenseiter bleibt, der die Einschränkung seiner Spielräume konstatiert und sich der Macht verweigert, kann der Leser laut Rezensent gut nachvollziehen. Wie sich der NS-Apparat auf den Einzelnen auswirkte, notiert Stresau mitunter "spröde", dann wieder in "starken Bildern", schreibt Harbou.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Eine große Sache: Die Tagebücher von Hermann Stresau zeigen den kritischen Blick eines Normalbürgers auf den Alltag im Dritten Reich.« Stephan Speicher, Zeit, 22. April 2021 Stephan Speicher Die Zeit 20210422
Rezensent Paul Jandl dankt den Herausgebern Peter Graf und Ulrich Faure für die Arbeit mit Hermann Stresaus Tagebüchern aus den Jahren 1933-1939. Zu erfahren ist für den Leser laut Jandl, wie ein genau beobachtender Intellektueller und Schriftsteller den Aufstieg der Nationalsozialisten erlebt. Reizvoll ist für Jandl diese Perspektive der inneren Emigration, weil der Autor so hellsichtig den Verlust der eigenen Freiheit (etwa durch die Weigerung, der SA beizutreten), den Umschlag von Auflehnung in Unterwerfung und die Ausbreitung von Hass und Angst zu beschreiben vermag. Am besten gefallen Jandl Stresaus "mikrosoziologische" Betrachtungen des Kleinbürgertums.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Die „innere
Zerstörung“
Der Intellektuelle Hermann Stresau dokumentierte
seine Ablehnung des NS-Regimes in Tagebüchern.
Ein seltener Glücksfall – trotz vieler Widersprüche
VON KNUD VON HARBOU
Von sich selbst schreibt Hermann Stresau, sein Schicksal sei „eins von Tausenden und nicht sehr interessant“. Genau das gilt es zu hinterfragen. Denn die von ihm hinterlassenen und nun vollständig edierten Aufzeichnungen über zwölf Jahre hinweg sind eines der seltenen Dokumente eines parteiunabhängigen Intellektuellen, der sich sein demokratisches Weltbild trotz immensen Drucks des NS-Apparats bewahrt hat.
Stresau, Jahrgang 1894, wuchs in Frankfurt am Main auf, studierte ab 1912 – unterbrochen durch Kriegsdienst – Germanistik und Geschichte, jedoch ohne Abschluss. Von 1929 an arbeitete er als Bibliothekar in einer Berliner Volksbücherei, bis er dort wegen Regimekritik entlassen wurde. Nebenher versuchte er mit etwas Privatvermögen und Beiträgen vor allem für die Frankfurter Zeitung und die Neue Rundschau, aber auch als Lektor für den S. Fischer Verlag sich über Wasser zu halten. 1939 bis Kriegsende wurde er zwangsverpflichtet als Hilfsarbeiter in einem optischen Betrieb nahe Göttingen. Sein Werkverzeichnis aus diesen Jahren zeigt in dichter Reihe etwa Übersetzungen von William Faulkner, eine Studie über Joseph Conrad, den Roman „Adler über Gallien“. Zu seiner Zeit war er durchaus bekannt und gut vernetzt mit der damaligen Verlegerszene, er starb 1964. Eine Auswahl seiner Tagebücher erschien 1948, die in Vergessenheit gerieten. Sein Nachlass liegt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Erst Anfang der 2000er Jahre wurde Mitherausgeber Ulrich Faure auf Stresaus Aufzeichnungen aufmerksam, die jetzt neu ediert zweibändig vorliegen.
Stresaus Ziel war „die Anarchie der Werte“ zu dekouvrieren, denn die Zeitgenossen hätten nur die äußeren Zerstörungen wahrgenommen und nicht, dass diese „nur die Illustration der inneren Zerstörung“ sind. Das erklärt auch sein Verfahren, vielmehr das NS-System und seine Auswirkung auf den einzelnen Menschen verständlich zu machen, als sich über Einschränkungen im privaten Bereich wie etwa in Victor Klemperers Aufzeichnungen auszulassen. Ihm geht es um spröde Fakten, nur so ist ein fast beiläufiger Eintrag über die erste Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 zu verstehen. Die wahre Dimension, dass 20 000 Bücher von 140 Autoren verbrannt wurden, bleibt unerwähnt. Diese Distanziertheit bleibt erstaunlich, denn schließlich erfuhr auch Stresaus Leben in einem kleinen Berliner Vorort dramatische Einschränkungen.
Stresau findet starke Bilder für die NS-Ideologisierung aller Lebensbereiche: „Diese vom Nationalsozialismus (. . .) erfüllte Atmosphäre dringt in alle Ritzen, wie ein Giftgas, es stört die normalen geistigen Funktionen.“ Schon seit der Machtergreifung zweifelt er nicht am Ausgang dieser „jetzt anhebenden Periode der Zackigkeit, die so oft mit einer fetten oder halbseidenen Existenz verbunden ist (. . .) so was hält sich nicht“. Seine Haltung wirkt wie die eines Stoikers, jedoch nur scheinbar gelassen. In der Frühphase noch versucht er Hitler zu verstehen: „Er hat tatsächlich alles erfasst, was in dieser Zeit an ‚Bedürfnis‘ vorliegt, und er drückt es in einer Weise aus, die die Massen verstehen können. Dass das keiner so kann wie er, verleiht ihm die Überlegenheit.“ Gleichwohl blieben Stresau die Nazis „fremd wie ein exotischer Volksstamm“. An seinen akribischen Aufzeichnungen und seiner kompromisslosen Haltung spürt man die Bedrohlichkeit der Situation – er steht auch existenziell vor dem Nichts. Seine Stellung als Bibliothekar wurde gekündigt, weil er weder Parteimitglied noch SA- oder SS-Mitglied sein wollte. „Flucht ins Ausland würde die Sache vermutlich nicht besser machen, wir sind nicht mehr jung genug“, schreibt er im Juli 1933.
Einen inneren Freiraum schafft er sich gewissermaßen durch Sublimation, er liest sich quer durch die ganze Weltliteratur. Trotz einschneidender Eingriffe in den Kulturbetrieb wie die Auflösung aller Organisationen nicht-nationalsozialistischer Tendenz, bleibt in seinen Einträgen die literarische Erörterung dominant. Den NS-Protagonisten bescheinigt er, von Kunst keine Ahnung zu haben. Die „Macht der Propaganda“ verfolgt er zwar genau, insbesondere die Reden von Goebbels, versucht sie aber zu ignorieren. Hitlers Rhetorik hingegen sei nur „lächerlich, grauenvoll und rührend in einem, nur ein im Innersten verzweifeltes Volk kann dies für Größe halten“. Seine eigene Situation umschreibt er 1934 noch mit „persönlich geschieht uns nichts“. Eine Zäsur indes kündigt sich im Frühjahr 1936 an: „Auf Dauer aber scheint der Krieg unvermeidlich.“
1938 sieht Stresau Tabus zusammenbrechen, „die Vernichtungskampagne (gegen die Juden) beginnt“, Hetze und Hass werden Normalität, Hitlers „pathologisches Innenleben“ sprengt mit breiter Zustimmung alle Grenzen. Nüchtern konstatiert er die Besetzung der Tschechoslowakei als glatten Bruch des Völkerrechts, bezweifelt den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion und den „Gegenangriff“ auf Polen. Man fragt sich, wo Stresau seine regimekritischen Aufzeichnungen eigentlich verbarg? Dass er unter Beobachtung stand, wusste er, und das Risiko war ihm bewusst. Doch von einer direkten Einschüchterung ist nichts bekannt. Im Gegenteil, Peter Suhrkamp konnte ihm noch Ende des Jahres ein Angebot machen, als Lektor bei S. Fischer zu arbeiten (was aber bereits im Herbst 1939 beendet wurde, weil „wir mit englischer und amerikanischer Literatur nichts mehr machen können“).
Mit Stresaus Übersiedlung nach Göttingen einher geht auch der massive Druck der Kriegseinwirkungen auf sein Privatleben, das „Einrichten in scheinbarer Normalität des Krieges“. Selbst die erkennbare Aufhebung des Rechtsstaatsprinzips ist ihm nur eine Zeile wert. Immer behält er zu den Abläufen Distanz. Nur indirekt erwähnt er die Judenmorde durch die Einsatzgruppen in Polen. Mehr als ein direkter Regimewiderstand ist bei ihm ein Zweifeln erkennbar. Der Überfall auf die Sowjetunion findet keine angemessene Beachtung, „die russische Wehrmacht taugt anscheinend nicht viel, und wenn das so weitergeht, wird sie zusammenbrechen“, doch nur vier Tage später gerät er ins Grübeln.
Auffällig ist, dass Stresau, wie um sich zu vergewissern, nunmehr den Kriegsverlauf genau protokolliert. Den Krieg will er nicht verlieren, eher ihn gewinnen, „uns jedenfalls behaupten und uns unserer verrückt gewordenen Führerbande entledigen“. Wohlgemerkt, er schreibt „verrückt“, nicht verbrecherisch. So gesehen artikuliert er sich auch nicht in einem engeren Sinn politisch, was aber seine Einschätzung nicht mindert. Durch das Nebeneinander von Innenansicht und Auswertung aller Nachrichten, die ihm zur Verfügung standen, schafft er auch so ein überzeugendes Bild dieses verbrecherischen NS-Systems. Die von ihm gesammelten (und geschickt in den Text der beiden Bände montierten) Zeitungsausschnitte verstärken den Eindruck.
Immer enger werden die privaten Spielräume, immer intensiver spürt er die Ausweglosigkeit. Der totale Staat als höchste Instanz ist jetzt „organisierte Natur“, doch „die Jahre der Nazis (sind) gezählt (. . .), weil sie Amerika nicht besiegen werden können“. So verharrt Stresau zwischen beiden Positionen, hofft aber statt der „elenden Garnitur“ der Nazis auf das „wahre Ideal eines Staatsmannes“ wie des portugiesischen Diktators Salazar.
Hier hält ein Bildungsbürger über fast 4500 Tage seine Eindrücke über die Zeit des Dritten Reichs fest. Sie sind deswegen so bemerkenswert, weil sie so widersprüchlich sind: anfangs reagiert dieser hochgebildete Literat noch ambivalent auf die Ideologie der NS-Propaganda bis hin zu sprachlichen Übernahmen. Doch bald begann er mit dem Schreibprozess das von Hannah Arendt so benannte „Wahrlügen“ des NS-Apparats zu kompensieren. Keine Illusionen machte er sich, aus seiner Außenseiterposition das Machtgefüge, dem er sich komplett verweigerte, auch nur irgendwie zu beeinflussen. Die Herausgeber verweisen zurecht darauf, dass Stresau „aus einer Haltung heraus (schreibt), die zwischen 1933 und 1945 nur sehr wenige in Deutschland für sich in Anspruch nehmen konnten“. Aber genau das macht den Reiz der Reflexionen dieses konservativen Intellektuellen aus.
Eine erstaunliche Distanziertheit
prägt das Tagebuch, das mehr
als 1000 Seiten umfasst
Stresau verweigerte sich
den Machthabern, aber er
dachte wohl nie an Widerstand
Hermann Stresau:
Von den Nazis trennt mich eine Welt. Tagebücher aus der inneren Emigration 1933–1939. Hrsg. von Peter Graf und Ulrich Faure. Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2021.
439 Seiten, 24 Euro.
Hermann Stresau:
Als lebe man nur unter Vorbehalt. Tagebücher aus den Kriegsjahren 1939–1945. Hrsg. von Peter Graf und Ulrich Faure. Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2021.
589 Seiten, 28 Euro.
„Diese vom Nationalsozialismus erfüllte Atmosphäre dringt in alle Ritzen, wie ein Giftgas“, schreibt Hermann Stresau. Der überwältigenden Propaganda des NS-Regimes (oben rechts, Aufruf zum „Anschluss“ Österreichs 1938) erlag er nicht. Am Ende blieben Trümmer und Traumata statt der Endsieg (unten rechts).
Fotos: DLA Marbach, Scherl/Sz Photo, dpa
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Zerstörung“
Der Intellektuelle Hermann Stresau dokumentierte
seine Ablehnung des NS-Regimes in Tagebüchern.
Ein seltener Glücksfall – trotz vieler Widersprüche
VON KNUD VON HARBOU
Von sich selbst schreibt Hermann Stresau, sein Schicksal sei „eins von Tausenden und nicht sehr interessant“. Genau das gilt es zu hinterfragen. Denn die von ihm hinterlassenen und nun vollständig edierten Aufzeichnungen über zwölf Jahre hinweg sind eines der seltenen Dokumente eines parteiunabhängigen Intellektuellen, der sich sein demokratisches Weltbild trotz immensen Drucks des NS-Apparats bewahrt hat.
Stresau, Jahrgang 1894, wuchs in Frankfurt am Main auf, studierte ab 1912 – unterbrochen durch Kriegsdienst – Germanistik und Geschichte, jedoch ohne Abschluss. Von 1929 an arbeitete er als Bibliothekar in einer Berliner Volksbücherei, bis er dort wegen Regimekritik entlassen wurde. Nebenher versuchte er mit etwas Privatvermögen und Beiträgen vor allem für die Frankfurter Zeitung und die Neue Rundschau, aber auch als Lektor für den S. Fischer Verlag sich über Wasser zu halten. 1939 bis Kriegsende wurde er zwangsverpflichtet als Hilfsarbeiter in einem optischen Betrieb nahe Göttingen. Sein Werkverzeichnis aus diesen Jahren zeigt in dichter Reihe etwa Übersetzungen von William Faulkner, eine Studie über Joseph Conrad, den Roman „Adler über Gallien“. Zu seiner Zeit war er durchaus bekannt und gut vernetzt mit der damaligen Verlegerszene, er starb 1964. Eine Auswahl seiner Tagebücher erschien 1948, die in Vergessenheit gerieten. Sein Nachlass liegt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Erst Anfang der 2000er Jahre wurde Mitherausgeber Ulrich Faure auf Stresaus Aufzeichnungen aufmerksam, die jetzt neu ediert zweibändig vorliegen.
Stresaus Ziel war „die Anarchie der Werte“ zu dekouvrieren, denn die Zeitgenossen hätten nur die äußeren Zerstörungen wahrgenommen und nicht, dass diese „nur die Illustration der inneren Zerstörung“ sind. Das erklärt auch sein Verfahren, vielmehr das NS-System und seine Auswirkung auf den einzelnen Menschen verständlich zu machen, als sich über Einschränkungen im privaten Bereich wie etwa in Victor Klemperers Aufzeichnungen auszulassen. Ihm geht es um spröde Fakten, nur so ist ein fast beiläufiger Eintrag über die erste Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 zu verstehen. Die wahre Dimension, dass 20 000 Bücher von 140 Autoren verbrannt wurden, bleibt unerwähnt. Diese Distanziertheit bleibt erstaunlich, denn schließlich erfuhr auch Stresaus Leben in einem kleinen Berliner Vorort dramatische Einschränkungen.
Stresau findet starke Bilder für die NS-Ideologisierung aller Lebensbereiche: „Diese vom Nationalsozialismus (. . .) erfüllte Atmosphäre dringt in alle Ritzen, wie ein Giftgas, es stört die normalen geistigen Funktionen.“ Schon seit der Machtergreifung zweifelt er nicht am Ausgang dieser „jetzt anhebenden Periode der Zackigkeit, die so oft mit einer fetten oder halbseidenen Existenz verbunden ist (. . .) so was hält sich nicht“. Seine Haltung wirkt wie die eines Stoikers, jedoch nur scheinbar gelassen. In der Frühphase noch versucht er Hitler zu verstehen: „Er hat tatsächlich alles erfasst, was in dieser Zeit an ‚Bedürfnis‘ vorliegt, und er drückt es in einer Weise aus, die die Massen verstehen können. Dass das keiner so kann wie er, verleiht ihm die Überlegenheit.“ Gleichwohl blieben Stresau die Nazis „fremd wie ein exotischer Volksstamm“. An seinen akribischen Aufzeichnungen und seiner kompromisslosen Haltung spürt man die Bedrohlichkeit der Situation – er steht auch existenziell vor dem Nichts. Seine Stellung als Bibliothekar wurde gekündigt, weil er weder Parteimitglied noch SA- oder SS-Mitglied sein wollte. „Flucht ins Ausland würde die Sache vermutlich nicht besser machen, wir sind nicht mehr jung genug“, schreibt er im Juli 1933.
Einen inneren Freiraum schafft er sich gewissermaßen durch Sublimation, er liest sich quer durch die ganze Weltliteratur. Trotz einschneidender Eingriffe in den Kulturbetrieb wie die Auflösung aller Organisationen nicht-nationalsozialistischer Tendenz, bleibt in seinen Einträgen die literarische Erörterung dominant. Den NS-Protagonisten bescheinigt er, von Kunst keine Ahnung zu haben. Die „Macht der Propaganda“ verfolgt er zwar genau, insbesondere die Reden von Goebbels, versucht sie aber zu ignorieren. Hitlers Rhetorik hingegen sei nur „lächerlich, grauenvoll und rührend in einem, nur ein im Innersten verzweifeltes Volk kann dies für Größe halten“. Seine eigene Situation umschreibt er 1934 noch mit „persönlich geschieht uns nichts“. Eine Zäsur indes kündigt sich im Frühjahr 1936 an: „Auf Dauer aber scheint der Krieg unvermeidlich.“
1938 sieht Stresau Tabus zusammenbrechen, „die Vernichtungskampagne (gegen die Juden) beginnt“, Hetze und Hass werden Normalität, Hitlers „pathologisches Innenleben“ sprengt mit breiter Zustimmung alle Grenzen. Nüchtern konstatiert er die Besetzung der Tschechoslowakei als glatten Bruch des Völkerrechts, bezweifelt den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion und den „Gegenangriff“ auf Polen. Man fragt sich, wo Stresau seine regimekritischen Aufzeichnungen eigentlich verbarg? Dass er unter Beobachtung stand, wusste er, und das Risiko war ihm bewusst. Doch von einer direkten Einschüchterung ist nichts bekannt. Im Gegenteil, Peter Suhrkamp konnte ihm noch Ende des Jahres ein Angebot machen, als Lektor bei S. Fischer zu arbeiten (was aber bereits im Herbst 1939 beendet wurde, weil „wir mit englischer und amerikanischer Literatur nichts mehr machen können“).
Mit Stresaus Übersiedlung nach Göttingen einher geht auch der massive Druck der Kriegseinwirkungen auf sein Privatleben, das „Einrichten in scheinbarer Normalität des Krieges“. Selbst die erkennbare Aufhebung des Rechtsstaatsprinzips ist ihm nur eine Zeile wert. Immer behält er zu den Abläufen Distanz. Nur indirekt erwähnt er die Judenmorde durch die Einsatzgruppen in Polen. Mehr als ein direkter Regimewiderstand ist bei ihm ein Zweifeln erkennbar. Der Überfall auf die Sowjetunion findet keine angemessene Beachtung, „die russische Wehrmacht taugt anscheinend nicht viel, und wenn das so weitergeht, wird sie zusammenbrechen“, doch nur vier Tage später gerät er ins Grübeln.
Auffällig ist, dass Stresau, wie um sich zu vergewissern, nunmehr den Kriegsverlauf genau protokolliert. Den Krieg will er nicht verlieren, eher ihn gewinnen, „uns jedenfalls behaupten und uns unserer verrückt gewordenen Führerbande entledigen“. Wohlgemerkt, er schreibt „verrückt“, nicht verbrecherisch. So gesehen artikuliert er sich auch nicht in einem engeren Sinn politisch, was aber seine Einschätzung nicht mindert. Durch das Nebeneinander von Innenansicht und Auswertung aller Nachrichten, die ihm zur Verfügung standen, schafft er auch so ein überzeugendes Bild dieses verbrecherischen NS-Systems. Die von ihm gesammelten (und geschickt in den Text der beiden Bände montierten) Zeitungsausschnitte verstärken den Eindruck.
Immer enger werden die privaten Spielräume, immer intensiver spürt er die Ausweglosigkeit. Der totale Staat als höchste Instanz ist jetzt „organisierte Natur“, doch „die Jahre der Nazis (sind) gezählt (. . .), weil sie Amerika nicht besiegen werden können“. So verharrt Stresau zwischen beiden Positionen, hofft aber statt der „elenden Garnitur“ der Nazis auf das „wahre Ideal eines Staatsmannes“ wie des portugiesischen Diktators Salazar.
Hier hält ein Bildungsbürger über fast 4500 Tage seine Eindrücke über die Zeit des Dritten Reichs fest. Sie sind deswegen so bemerkenswert, weil sie so widersprüchlich sind: anfangs reagiert dieser hochgebildete Literat noch ambivalent auf die Ideologie der NS-Propaganda bis hin zu sprachlichen Übernahmen. Doch bald begann er mit dem Schreibprozess das von Hannah Arendt so benannte „Wahrlügen“ des NS-Apparats zu kompensieren. Keine Illusionen machte er sich, aus seiner Außenseiterposition das Machtgefüge, dem er sich komplett verweigerte, auch nur irgendwie zu beeinflussen. Die Herausgeber verweisen zurecht darauf, dass Stresau „aus einer Haltung heraus (schreibt), die zwischen 1933 und 1945 nur sehr wenige in Deutschland für sich in Anspruch nehmen konnten“. Aber genau das macht den Reiz der Reflexionen dieses konservativen Intellektuellen aus.
Eine erstaunliche Distanziertheit
prägt das Tagebuch, das mehr
als 1000 Seiten umfasst
Stresau verweigerte sich
den Machthabern, aber er
dachte wohl nie an Widerstand
Hermann Stresau:
Von den Nazis trennt mich eine Welt. Tagebücher aus der inneren Emigration 1933–1939. Hrsg. von Peter Graf und Ulrich Faure. Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2021.
439 Seiten, 24 Euro.
Hermann Stresau:
Als lebe man nur unter Vorbehalt. Tagebücher aus den Kriegsjahren 1939–1945. Hrsg. von Peter Graf und Ulrich Faure. Verlag Klett-Cotta,
Stuttgart 2021.
589 Seiten, 28 Euro.
„Diese vom Nationalsozialismus erfüllte Atmosphäre dringt in alle Ritzen, wie ein Giftgas“, schreibt Hermann Stresau. Der überwältigenden Propaganda des NS-Regimes (oben rechts, Aufruf zum „Anschluss“ Österreichs 1938) erlag er nicht. Am Ende blieben Trümmer und Traumata statt der Endsieg (unten rechts).
Fotos: DLA Marbach, Scherl/Sz Photo, dpa
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