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Anders als die Künstler der westlichen Avantgardebewegungen interessierten sich die russischen Futuristen sehr für die nationale kulturelle Tradition. Vor allem in der altrussischen Ikone erkannten sie eine "Wesensverwandtschaft" zu ihren eigenen ästhetischen Zielen. Diese Faszination für die mittelalterliche Sakralmalerei gründete sich auf Parallelen in der Formensprache und mehr noch auf deren spirituelles Bildkonzept in Abgrenzung zur westlich-neuzeitlichen Abbildungstheorie. So wie die Ikone als mystische Verkörperung eines geistigen Gehalts dem Menschen sinnlich erfaßbar ist, verstanden…mehr

Produktbeschreibung
Anders als die Künstler der westlichen Avantgardebewegungen interessierten sich die russischen Futuristen sehr für die nationale kulturelle Tradition. Vor allem in der altrussischen Ikone erkannten sie eine "Wesensverwandtschaft" zu ihren eigenen ästhetischen Zielen. Diese Faszination für die mittelalterliche Sakralmalerei gründete sich auf Parallelen in der Formensprache und mehr noch auf deren spirituelles Bildkonzept in Abgrenzung zur westlich-neuzeitlichen Abbildungstheorie. So wie die Ikone als mystische Verkörperung eines geistigen Gehalts dem Menschen sinnlich erfaßbar ist, verstanden Künstler der russischen Avantgarde wie z. B. Malewitsch ihre Werke als transzendente Schöpfungen, die nicht die diesseitige, sondern die intelligible Welt darstellen. Andere wie etwa Tatlin und Rodtschenko säkularisierten das Konzept der Ikone und betonten den Eigenwert der künstlerischen Materialien anstelle ihres Darstellungswertes. Mit präzisen Bild- und Textanalysen erläutert die Autorin die W andlung in der Rezeption der altrussischen Ikone im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Autonomisierungs- und Ästhetisierungsprozeß sowie die Varianten, in denen Künstler der russischen Avantgarde bewußt an die Ikonenmalerei anknüpften.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.1998

Der Ikone die Krone
Verena Krieger erklärt die russische Avantgarde auf russische Art / Von Hans-Peter Riese

Über die russische Avantgarde ist viel geschrieben worden. Aber erst in jüngeren Untersuchungen befaßt sich die westliche Literatur ausführlicher mit den russischen Traditionen, die von den revolutionären Künstlern im ersten Viertel unseres Jahrhunderts aufgegriffen wurden. Bislang herrschte eine Sichtweise vor, die im wesentlichen von Werner Haftmanns Edition der Schriften von Kasimir Malewitsch zu Beginn der sechziger Jahre geprägt worden ist. Es gab nur wenig Quellen zum Thema, da die Archive in der Sowjetunion nicht zugänglich waren und die Beteiligten, soweit sie nicht in den Westen emigriert waren, sich nur spärlich äußerten. Deshalb beruhte unsere Kenntnis der russischen Avantgarde weitgehend auf einem Konvolut von Schriften Malewitschs, das dieser nach seiner Rückkehr von seiner einzigen Auslandsreise Ende der zwanziger Jahre in Berlin zurückgelassen hatte. Es wurde ergänzt durch jene Bilder, die nach seiner Abreise ebenfalls in Berlin verblieben waren und schließlich ins Amsterdamer Stedelijk Museum gelangten.

Der Versuch der nahtlosen Integration der russischen Avantgardekunst in den Kontext der westlichen Kunstgeschichte provoziert indes seit einiger Zeit immer stärkeren Widerspruch. Je mehr russische Archivmaterialien ausgewertet werden, desto deutlicher zeigt sich, daß neben der Rezeption der westlichen Zeitstile vom Impressionismus bis zum Kubismus und Futurismus vor allem die Auseinandersetzung mit der eigenen bildnerischen Tradition, also mit der Ikone, eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Zwar gibt es im Westen schon seit längerem Dokumentationen dieser Debatten, aber sie blieben weitgehend der Rezeption von Spezialisten vorbehalten. Im allgemeinen Bewußtsein ordnet sich die russische Avantgarde weiterhin in den Kontext der avantgardistischen Bewegungen vor allem in Frankreich, Italien und Deutschland ein, also des Kubismus, des Futurismus und des Bauhauses. In diesen Zusammenhängen wird sie auch immer wieder in Überblicksausstellungen gezeigt und in Katalogen beschrieben.

Das dürfte vorderhand auch so bleiben, obwohl nun eine Studie erschienen ist, deren Thesen geeignet sind, diese Sicht radikal zu verändern. Der Titel der Untersuchung von Verena Krieger ist Programm: In ihrem Buch "Von der Ikone zur Utopie" beschreibt sie keinen widersprüchlichen kunsthistorischen Prozeß, sondern fast eine historische Zwangsläufigkeit. Tatsächlich sind viele Elemente der russischen Avantgarde ohne den Hintergrund der "ostchristlichen Bildertheologie" und ihrer Bildkonzepte gar nicht zu verstehen. Der an der Renaissance geschulte Blick westlicher Kunsthistoriker ordne, so eine der Thesen des Buches, die entscheidenden Impulse für die russische Avantgarde falsch ein. Verena Krieger arbeitet heraus, daß vor allem der Symbolcharakter der Ikone, "das heißt ihr Status als Inkarnation eines metaphysischen Gehalts", von den Avantgardisten aufgegriffen und in einem modernen - selbstverständlich nicht christlichen - Verständnis weiterentwickelt wurde.

Zwei Tendenzen hat Verena Krieger dabei unterschieden: Aus den Traditionen der neoplatonischen Interpretationsschule, die vor allem von russischen Religionsphilosophen des neunzehnten Jahrhunderts vertreten wurde, schöpften vorwiegend die an metaphysischen Konzepten interessierten Suprematisten, die an Stelle des Göttlichen ihr absolutes Künstlertum setzten. Ihnen gegenüber stehen die Konstruktivisten und Utilitaristen, wie Lissitzky und Rodtschenko, die sich in erster Linie an den Konstruktionsprinzipien der Ikone, also an ihren materiellen und handwerklichen Traditionen orientieren. Die Einbeziehung der philosophischen und religionsphilosophischen Debatten des neunzehnten Jahrhunderts in Rußland, die großen Einfluß auf die Avantgarde-Künstler ausgeübt haben, stellt das größte Verdienst dieser kultur- und kunsthistorischen Untersuchung dar.

Vor allem in den Schriften von Kasimir Malewitsch finden sich zahlreiche bisher nicht entschlüsselte Hinweise auf die Rezeption philosophischer und religionsphilosophischer Schriften und Auseinandersetzungen. So ist denn auch der spezifische Utopismus der russischen Avantgarde - der einmal das Mißtrauen eines Werner Haftmann hervorrief - ein Charakteristikum der russischen Gesellschaft, das man in diesen Debatten theoretisch begründet findet.

Verena Krieger weist überzeugend nach, daß die wichtigen Raum- und Zeitkonzepte der russischen Avantgarde sich unmittelbar der Rezeption der Ikonenmalerei verdanken. Allerdings überspannt die Autorin ihre These, wenn sie die gesamte Kunst der Avantgarde im Hinblick auf ihre Beziehung zur Ikonenmalerei betrachtet. Insbesondere die Charakterisierung von Wladimir Tatlin als Künstler, der nahezu ausschließlich an den Konstruktionsprinzipien und der Materialität der Ikone orientiert gewesen sei, überzeugt nicht wirklich. Die Untersuchung leidet zuweilen daran, daß das einmal entwickelte Denkmodell offenbar unter allen Umständen bis an sein logisches Ende geführt, das heißt bis in die Strukturen eines Kunstwerkes verlängert wird. Dabei geht gelegentlich der übergreifende - und ganz überzeugende - Grundansatz verloren.

Für Spezialisten bietet das Buch, das im Umfeld des Bochumer Graduierten-Kollegs "Kulturelles Bewußtsein und sozialer Wandel in Rußland und der Sowjetunion im zwanzigsten Jahrhundert" erarbeitet worden ist, eine Fülle von Hinweisen auf zum Teil schwer zugängliche Sekundärliteratur, die sorgfältig durchgearbeitet worden ist. Da verzeiht man der Autorin leichten Herzens auch stilistische Eigenwilligkeiten als eine Marotte, die in der "Frauen AnStiftung", die die Arbeit bezuschußt hat, wohl als politisch korrekt angesehen wird. Wenn es zum Beispiel durchgehend "KünstlerInnen" heißt, mag damit zwar zu Recht auch auf den hohen Anteil von Frauen in der russischen Avantgarde hingewiesen werden, aber diese emanzipatorische Formel hat wohl doch nur sehr wenig mit den tatsächlichen Realitäten im revolutionären Rußland der zwanziger Jahre zu tun.

Verena Krieger: "Von der Ikone zur Utopie". Kunstkonzepte der russischen Avantgarde. Böhlau Verlag, Köln 1998. 259 S., Abb., geb., 88,- DM.

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