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Hans-Joachim BeckerVon der konfessionellen Militärstatistik zur "Judenzählung"(1916)Eine NeubewertungRezensionVor rund 100 Jahren, am 11. Oktober 1916, erging aufgrund von Klagen antisemitischer Organisationen, die sich als besorgte Bürger tarnten, vom Preußischen Kriegsministerium (KM) ein Erlass, den jüdischen Kriegsbeitrag an der Front, in der Etappe und in der Heimat statistisch zu erfassen. Diese Konfessionelle Militärstatistik hatte bald den pejorativen Spitznamen "Judenzählung" weg und wird heute gemeinhin als antisemitische Maßnahme einer auch entsprechend gesonnenen Militärführung…mehr

Produktbeschreibung
Hans-Joachim BeckerVon der konfessionellen Militärstatistik zur "Judenzählung"(1916)Eine NeubewertungRezensionVor rund 100 Jahren, am 11. Oktober 1916, erging aufgrund von Klagen antisemitischer Organisationen, die sich als besorgte Bürger tarnten, vom Preußischen Kriegsministerium (KM) ein Erlass, den jüdischen Kriegsbeitrag an der Front, in der Etappe und in der Heimat statistisch zu erfassen. Diese Konfessionelle Militärstatistik hatte bald den pejorativen Spitznamen "Judenzählung" weg und wird heute gemeinhin als antisemitische Maßnahme einer auch entsprechend gesonnenen Militärführung angesehen. Eine genauere Untersuchung zeigt jedoch, dass deren Wirkung zwar vielfach eine antisemitische war und jüdische Soldaten sich zu Recht davon betroffen fühlten, dass deren Intention jedoch eine andere war: Die Antisemiten hatten eigene Statistiken und die jüdischen Organisationen (zur eigenen Verteidigung) desgleichen. Um auf die Beschuldigungen und Behauptungen der einen oder anderen Seite nicht mit den Statistiken der jeweiligen Gegenseite antworten zu müssen, wollte das KM zu eigenen kommen. Das war der Grund für den Oktober-Erlass von 1916. Die jüdische Publizistik, jüdische Organisationen und Reichstagsabgeordnete kritisierten ihn zwar zu Recht, aber kaum einer mutmaßte dahinter eine antisemitische Intention. Wenn heute kritisiert wird, dass damals die Ergebnisse nicht veröffentlicht wurden, so wird übersehen, dass seinerzeit es praktisch ausschließlich Antisemiten waren, die diese Forderung erhoben. Die jüdische Seite forderte dagegen sie als eine singulierende Maßnahme in den Papierkorb zu versenken, zumal auch der soziologische Hintergrund zu komplex war, um in alternativen Fragestellungen erhellt zu werden. Juden waren vornehmlich eine (durchschnittlich ältere) großstädtische Bevölkerung, im Schützengraben dagegen überwog bei weitem das bäuerliche Element. Das nicht zu berücksichtigen war der strukturelle Fehler des Erlasses. Eine antisemitische Absicht dagegen steckte, wie ein eingehendes Archiv- und Dokumentenstudium belegt, anders als vielfach behauptet, nicht dahinter. Der Blick auf Deutschland wird ergänzt durch die Darstellung der Situation der Juden bei den beiden westlichen Hauptkriegsgegnern Großbritannien und Frankreich.Dr. Hans-Joachim Becker, geb. 1945 in Jever, ist Philosoph, Japanologe und Historiker. Seine Schwerpunktthemen liegen in der vergleichenden Kulturwissenschaft und der deutsch-jüdischen Geschichte. Veröffentlichungen: Die frühe Nietzsche-Rezeption in Japan, Iwao Kôyama: Das Prinzip der Entsprechung und die Ortlogik (Übersetzung aus dem Japanischen), Nietzsche und Adorno, Projekt MeinNietzsche (in Zsarb. m. dem Nietzsche-Forum München), Fichtes Idee der Nation und das Judentum, Das Judentum in der philosophischen Politik Nietzsches.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2018

Auffällige Auslassungen
Die Studie über die "Judenzählung" in der deutschen Armee ist vieles, aber keine Neubewertung

Im Oktober 1916 befahl das preußische Kriegsministerium eine "Judenzählung" in der Armee. Kaum etwas, so die gängige Meinung der Historiker, habe den latenten Antisemitismus in Armee und Gesellschaft so deutlich hervortreten lassen und das deutsch-jüdische Verhältnis so nachhaltig beeinträchtigt, wie jener Erlass, der alte Ressentiments aufgriff und neu befeuerte. Durch eine Befragung aller jüdischen Soldaten wollte dieser den "Klagen" in der Bevölkerung darüber nachgehen, "dass eine unverhältnismäßig große Anzahl wehrpflichtiger Angehöriger des israelischen Glaubens vom Heeresdienst befreit sei oder sich von diesem unter allen nur möglichen Vorwänden drücke".

Aus Sicht des Autors ist die herrschende Meinung jedoch "völlig haltlos". "Von der Intention her", so heißt es am Ende von 521 eng bedruckten Seiten, "war die Verfügung vom 11. Oktober 1916 (...) nicht antisemitisch inspiriert, wenn sie auch von der Wirkung her in Hinblick auf die deutsch-jüdischen Soldaten unsensibel und verletzend war." Und: Insgesamt falle "die Bilanz des deutsch-jüdischen Verhältnisses bis zur sog. Judenzählung sowieso, aber auch danach zumindest an der Front und an der politisch-militärischen Spitze des Kaiserreichs weit positiver aus, als im Nachhinein, d. h. nach Kriegsniederlage, nach Revolution, Besatzung, Versailles und wirtschaftlichem Zusammenbruch mit Blick auf die Machtergreifung des Nationalsozialismus geurteilt wird."

Um diese Thesen zu belegen, beschreibt der Verfasser das deutsch-jüdische Verhältnis vor und während des Krieges. Hinzu kommen noch zwei Anhänge, die sich mit Falkenhayns Verhinderung eines Judenpogroms in Palästina und der "Judenfrage im Frieden mit Rumänien" sowie mit "Hindenburg, die Machtergreifung und die deutschen Juden" befassen.

Grundtenor der Darstellung, deren innerer Zusammenhang nicht immer schlüssig ist, ist, dass der Antisemitismus im Kaiserreich vor 1914 an Boden verloren habe. Auch der "behauptete Antisemitismus im preußischen Offizierskorps" erscheint ihm vor 1914 eher ein "literarisches Produkt" als Realität gewesen zu sein. Der Enthusiasmus, mit dem die Juden in den Krieg gezogen seien, die Kriegsbriefe jüdischer Soldaten und ihrer Rabbiner im Feld, die Artikel jüdischer Zeitungen, zahllose biographische und autobiographische Berichte sowie die lange undenkbare Aufnahme jüdischer Soldaten ins preußische Offizierkorps und die Verleihung hoher Orden an Juden seien Belege für einen Wandel.

Vor diesem Hintergrund sei der Erlass des Kriegsministeriums einfach der legitime Versuch gewesen, "mittels einer objektiven Zählung durch das Ministerium sich am überzeugendsten den Unterstellungen der Antisemiten (zu) erwehren (...), um die zeitraubende und entnervende und vor allem den Burgfrieden kontinuierlich störende Diskussion ein für alle Mal zu beenden". Leider sei dem Kriegsminister nicht klar gewesen, "wie sehr er damit die Ehre der deutschen Juden verletzen musste." Alles also eine Ungeschicklichkeit? Alle bisherigen Interpretationen grundfalsch?

Wenn die Darstellung tatsächlich das wäre, was man von einer sachlichen und vorurteilsfreien "Neubewertung" erwarten müsste, dann könnte man verleitet sein, dem Autor zuzustimmen. Bei näherem Hinsehen überkommen den Rezensenten doch Zweifel: Auffallend ist zunächst die Aggressivität, mit der der Autor Historikern und Journalisten begegnet, die anderer Meinung sind. Es gibt kaum einen Absatz, kaum eine Fußnote ohne Invektiven und moralisierende Urteile. Auffallend sind auch die Auslassungen: So behauptet der Autor einerseits, der Alldeutsche Verband habe kaum Einfluss gehabt. Als er dann aber das unsägliche, anonym erschienene Buch von dessen Vorsitzenden Heinrich Claß, "Wenn ich Kaiser wär'" (1912), behandelt, verschweigt er die darin enthaltenen furchtbaren Passagen über die Juden. Und so sehr er Briefe jüdischer Soldaten schätzt, die voller Patriotismus ihre Kriegserlebnisse schildern, so wenig aussagekräftig sind für ihn jene der Kritiker, die von vielen Historikern als Belege für ihre Thesen angeführt werden. Von "überdehnten Interpretationen" ist dann die Rede, oder es wird Zeitzeugen unterstellt, ihren Aufzeichnungen erst im Nachhinein die kritischen Töne beigemischt zu haben. Besonders auffällig ist freilich, dass die Genese des Erlasses sehr blass bleibt, wichtige Besprechungen im Vorfeld nicht thematisiert werden. Ist es hingegen nicht besonders erklärungsbedürftig, dass es überhaupt dazu kam, wenn immer wieder behauptet wird, dass die antisemitischen Verbände eigentlich nur wenig Einfluss gehabt hätten? Kann man die Äußerungen des Vertreters des Kriegsministeriums, v. Wrisberg, über den harmlosen Charakter des Erlasses wirklich für bare Münze nehmen, wenn es vorher heißt, dieser habe im Jahr zuvor erst nach einer kaiserlichen Ordre zugelassen, jüdische Soldaten auch gegen den Willen des jeweiligen Offizierskorps zu Offizieren zu machen? Seltsam relativierend muten schließlich die Vergleiche zwischen der Behandlung der Juden im Reich und auf Seiten der Alliierten an.

Wer nach Erklärungen für diese Merkwürdigkeiten sucht, stellt an vielen Stellen schnell fest, dass der Verfasser einem längst überholten Bild von Preußen nachhängt. Dieses verdiene jedoch ein "angemessenes Verständnis". Sein positives Urteil über die Rolle Hindenburgs 1933/34 ist dafür ein Beispiel. Hindenburg hat sicherlich manchen Juden noch geschützt oder auch die jüdischen Frontkämpfer mit dem Ehrenkreuz geehrt; dass er aber Hitler und die Errichtung der Diktatur sowie damit den Weg in den Holocaust erst ermöglicht hat, ist unbestreitbar.

Zieht man aus diesen Beobachtungen die Summe, dann ist festzustellen, dass der Verfasser zwar viele neue Quellen vorgelegt hat, dem Anspruch auf eine überzeugende "Neubewertung" aber nicht gerecht geworden ist. Dieses Thema ist viel zu heikel, um emotional behandelt zu werden.

MICHAEL EPKENHANS

Hans-Joachim Becker: Von der konfessionellen Militärstatistik zur "Judenzählung" (1916). Eine Neubewertung.

Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2017. 588 S., 65,- [Euro].

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