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Lügen, Heucheln, Schmeicheln, Intrigieren ist, obwohl verpönt, alltägliche Praxis. Doch selbst ein massenhafter Mißbrauch solcher Kunstfertigkeiten hebt ihren erlaubten Gebrauch nicht auf. Arschkriecherei ist weder gut noch böse. Es kommt darauf an, zu welchem Zweck sie betrieben wird. Mit gebotener Unverblümtheit beschreibt Alphons Silbermann ein zwar allseits vertrautes, aber gänzlich 'unerforschtes' Handlungsmuster. Sein alltagssoziologisches Brevier ist ein Aufklärungsbuch im besten Sinne.

Produktbeschreibung
Lügen, Heucheln, Schmeicheln, Intrigieren ist, obwohl verpönt, alltägliche Praxis. Doch selbst ein massenhafter Mißbrauch solcher Kunstfertigkeiten hebt ihren erlaubten Gebrauch nicht auf. Arschkriecherei ist weder gut noch böse. Es kommt darauf an, zu welchem Zweck sie betrieben wird. Mit gebotener Unverblümtheit beschreibt Alphons Silbermann ein zwar allseits vertrautes, aber gänzlich 'unerforschtes' Handlungsmuster. Sein alltagssoziologisches Brevier ist ein Aufklärungsbuch im besten Sinne.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.1997

Das Herz keine Mördergrube
Alphons Silbermanns Traktat über ein Schimpfwort

Kinder und alte Herren sind zu beneiden. Sie können es sich leisten, aus ihren Herzen keine Mördergruben zu machen. Von Kindern erwartet man das heute sogar und begrüßt es als Zeichen gelungener Erziehung zum Selbstbewußtsein. Und alten Herren, schon gar wenn es sich um Elefanten vom Schlage des Alphons Silbermann handelt, also um weise Tiere, die auf ein bewegtes und ruhmreiches Leben zurückblicken können, ist sowieso alles erlaubt. Leider gibt es zu Buschs Erkenntnis "Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich's gänzlich ungeniert" nicht das akkurate Gegenteil, wie das sonst bei Sprichwörtern die Regel ist - hier wäre es nämlich am Platze.

Eine Abhandlung über die "Kunst der Arschkriecherei" dürfte den Mut jüngerer Zeitgenossen, die noch in Lohn und Brot stehen, überfordern. Wer kann es bei der allgegenwärtigen beruflichen Konkurrenz schon wagen, sich in die Karten oder ins Gemüt blicken zu lassen. Ist das unerschütterliche Keep smiling, mit dem zuerst die Stewardessen eine beliebige Schar von Flugkunden in eine brave Schar von Schulkindern im Interesse der Flugsicherheit zu verwandeln wußten, schon unter Arschkriecherei zu verbuchen?

Fragen über Fragen. Ich sage aber den Damen und anderen zarten Seelen, daß es so drastisch, wie der Titel verheißt, in Silbermanns Büchlein denn doch nicht hergeht, und das ist dann auch wieder schade. Obwohl der weise alte Elefant, geprüft als Emigrant, Jude und was weiß ich sonst noch, eigentlich nichts zu verlieren oder zu gewinnen hat, hat ihn der Mut, kaum gefaßt, doch schon verlassen.

In grauer Vorzeit - das war wohl der Auslöser dieses Traktats - mahnten seine Eltern den Jüngling Silbermann mit strengen Verweisen auf Adam Riese und Knigge, wenn es um Unordnung und schlechtes Benehmen ging. Der frühe Ärger über Knigge als sprichwörtlichen, aber ungelesenen Autor, der immer wieder zur Demütigung des Heranwachsenden herhalten mußte, hat Silbermann wohl nie verlassen, und so ergreift er die Gelegenheit zur unblutigen, nämlich zeremoniös-soziologischen Rache. Beim Blättern in der Erstausgabe des "Umgangs mit Menschen" mißfällt ihm besonders der Gestus des Sowohl-Als-auch, in dem der Freiherr seine Lebenslehren für das bürgerliche Zeitalter vortrug.

Das mehrfach umgearbeitete Buch sollte ein Vademecum für aufgeklärte Menschen sein, eine bis dato ja unbekannte Spezies, die es in einer lange noch ständisch-hierarchisch gegliederten Gesellschaft besonders schwer hatte, moralische Ansprüche an sich selbst und auf das eigene Wohl unter einen Hut zu bringen. Sie hatte ein Leben nach der Quadratur des Kreises zu führen, und entsprechend nervtötend lesen sich heute die Anleitungen des bürgerlich denkenden Freiherrn. Sie folgen alle einem Muster: Sei nicht hochmütig gegen Niedrigere, stell dein Licht aber auch nicht unter den Scheffel; bekenne dich zu deinen Ansichten, wo es am Platze ist, errege aber keinen Anstoß als Querulant und Besserwisser.

Wer sich wie Silbermann die Mühe macht, den Knigge noch einmal zu prüfen, könnte von dem Versuch, das moralische Individuum mit gesellschaftlichen Zwängen zu versöhnen, vielleicht eine Brücke zur Gegenwart und zum Spätwerk Foucaults schlagen. Sein Abschied vom Systemdenken und sein Rückgriff auf die Lebensdiätetik der Antike zeigen, daß wir es hier mit einer zeitlosen Klemme für alle zu tun haben, auch wenn die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen wir uns winden müssen, ganz andere sind als im achtzehnten Jahrhundert.

Je länger man Silbermanns zivile Rache verfolgt, desto mehr weiterführende Fragen kristallisieren sich im Kopf des Lesers. Ist die Arschkriecherei mit all ihren Verbindungen zur Lüge, Heuchelei und Intrige wirklich noch ein Übel unserer Zeit, oder war sie nicht spätestens mit dem Wilhelminismus als Handlungsstrategie desavouiert? Um Beispiele zu finden, die seine krasse Begriffsbildung rechtfertigen, muß Silbermann dann ja auch weit in der Zeit zurückgehen. Ein Bild von Hieronymus Bosch ziert das Cover, und die Literatur ist durch eine apokryphe Passage aus Goethes "Faust" vertreten, mit der uns erst penible Philologen bekannt gemacht haben. Spätere Beispiele, etwa Paul Klees Zeichnungen von den zwei "Herren, einander in höherer Stellung vermutend", gehören zum Genre der Bürokratiekritik, in dem A. Paul Weber durchaus bedenklich reüssierte, weil er nämlich besser auf der Klaviatur des kleinbürgerlichen Ressentiments als auf dem der treffenden und schmerzhaften Satire zu spielen verstand.

Kurzum, die Kunst der Arschkriecherei und ihre Virtuosen existieren nur noch als Klischee und als Schimpfwort in Fällen extremer Hilflosigkeit. Sie ist keine zeitlose Kunst, sondern gebunden an einen Herrschaftstyp, der Macht durch den Ausschluß und die Erniedrigung der vielen zugunsten der wenigen gewann. Mit ihr obsolet geworden ist aber auch ihr literarisch vielfach glorifiziertes Gegenbild, der "Stolz vor Fürstenthronen", der kantisch inspirierte Kohlhaasianismus mit der Tendenz, zum Märtyrer eines Prinzips zu werden. Beides haben wir hinter uns.

Das soll nicht heißen, daß wir in der besten aller Zeiten leben - keine Zeit hat das je von sich geglaubt. Wenigstens unterhaltsam und interessant sind aber doch die steten Veränderungen. Als Dame fällt es mir natürlich schwer, die Arschkriecherei abzuhandeln, wenn auch kritisch. Fast noch mehr schmerzt es mich, daß ich gezwungen bin - schon um meine Furchtlosigkeit vor Elefanten unter Beweis zu stellen -, eine diagnostische Alternative vorzuschlagen, die gegen den Verdacht der Zimperlichkeit gefeit ist.

Nun, die Kunst der Gegenwart - wir verdanken sie den Massenmedien, der antiautoritären Erziehung, dem blühenden Dienstleistungsgewerbe und der Demokratie - ist die Kunst des Sackkraulens. In Klees Zeichnung ist sie vielleicht schon angedeutet: Es ist eine Kunst, die unter Gleichen geübt wird. Natürlich verfolgt jeder seine Interessen weiterhin, aber doch gut versteckt hinter einer Fassade von Höflichkeit, persönlicher Anteilnahme und Schmeichelei. Kein Einkauf im Supermarkt ohne den Austausch von Glück- und Segenswünschen, mit denen Kunden und Kassiererinnen einander in einen schönen Feierabend oder ins Wochenende entlassen.

Zahllose Firmen haben sich darauf spezialisiert, die Kunst des Sackkraulens zu unterrichten. Dort lernt man, wie man mit Kunden, Chefs und Konkurrenten fertig wird. Weil es aber alle lernen müssen und alle wissen, daß es alle lernen, ist gegen diese Kunst nichts einzuwenden. Gewiß, so wenig wie das Arschkriechen ist das Sackkraulen eine Tugend, aber - man sehe das einer Dame nach - schon am Schein ist viel gelegen. KATHARINA RUTSCHKY

Alphons Silbermann: "Von der Kunst der Arschkriecherei". Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 1997. 192 S., Abb., geb., 36,- DM.

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