Vom Mittelalter bis zur Moderne - eine Geschichte der Freiheit in Deutschland
Diese umfassende Geschichte der Freiheit in Deutschland reicht vom Mittelalter bis zur Moderne. Anhand zahlreicher Beispiele aus über 600 Jahren und aus allen Regionen des Reiches - von der Ostsee bis an die Schweizer Alpen - beschreibt Peter Blickle, welche Formen der Leibeigenschaft es gab und wie es den Herrschaftsunterworfenen gelang, ihre Freiheit und mit ihr Eigentum und politische Rechte durchzusetzen - die Grundlagen der modernen Menschen- und Bürgerrechte.
Menschen zu zwingen, an einem ganz bestimmten Ort zu leben, ihre Arbeit nicht zu wechseln, nicht ohne Zustimmung zu heiraten und für einen anderen unbeschränkt Dienste zu leisten, erscheint uns in der heutigen Zeit praktisch unvorstellbar. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit herrschten verbreitet solche Verhältnisse und wurden Eigenschaft oder Leibeigenschaft genannt. Peter Blickle folgt in seiner Darstellung dem windungsreichen Weg von der Unfreiheit bis zur Verkündung der Menschenrechte in Amerika (1776) und Frankreich (1789). Dabei vermittelt er nicht nur einen Überblick über die theoretische Seite des Freiheitsdiskurses durch die Jahrhunderte, sondern illustriert auch ausführlich und anhand vieler Beispiele, wie die Leibeigenen durch Flucht und Protest, Prozesse und Freikäufe ihre Rechtsstellung Schritt für Schritt verbesserten.
Die Parole "Stadtluft macht frei" förderte den stürmischen Aufstieg der Städte und die Entstehung freier Bürger im Spätmittelalter. Der Freiheitsdiskurs der Reformationszeit begünstigte Verträge zwischen Bauern und ihren Herren, die Freizügigkeit und Eigentum für die bislang Leibeigenen schufen. Kriege und verheerende Menschenverluste im 17. Jahrhundert setzten Überlegungen über die Natur des Menschen frei, die in die Forderung nach Herstellung von Freiheit und Eigentum in der Aufklärung mündeten.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Diese umfassende Geschichte der Freiheit in Deutschland reicht vom Mittelalter bis zur Moderne. Anhand zahlreicher Beispiele aus über 600 Jahren und aus allen Regionen des Reiches - von der Ostsee bis an die Schweizer Alpen - beschreibt Peter Blickle, welche Formen der Leibeigenschaft es gab und wie es den Herrschaftsunterworfenen gelang, ihre Freiheit und mit ihr Eigentum und politische Rechte durchzusetzen - die Grundlagen der modernen Menschen- und Bürgerrechte.
Menschen zu zwingen, an einem ganz bestimmten Ort zu leben, ihre Arbeit nicht zu wechseln, nicht ohne Zustimmung zu heiraten und für einen anderen unbeschränkt Dienste zu leisten, erscheint uns in der heutigen Zeit praktisch unvorstellbar. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit herrschten verbreitet solche Verhältnisse und wurden Eigenschaft oder Leibeigenschaft genannt. Peter Blickle folgt in seiner Darstellung dem windungsreichen Weg von der Unfreiheit bis zur Verkündung der Menschenrechte in Amerika (1776) und Frankreich (1789). Dabei vermittelt er nicht nur einen Überblick über die theoretische Seite des Freiheitsdiskurses durch die Jahrhunderte, sondern illustriert auch ausführlich und anhand vieler Beispiele, wie die Leibeigenen durch Flucht und Protest, Prozesse und Freikäufe ihre Rechtsstellung Schritt für Schritt verbesserten.
Die Parole "Stadtluft macht frei" förderte den stürmischen Aufstieg der Städte und die Entstehung freier Bürger im Spätmittelalter. Der Freiheitsdiskurs der Reformationszeit begünstigte Verträge zwischen Bauern und ihren Herren, die Freizügigkeit und Eigentum für die bislang Leibeigenen schufen. Kriege und verheerende Menschenverluste im 17. Jahrhundert setzten Überlegungen über die Natur des Menschen frei, die in die Forderung nach Herstellung von Freiheit und Eigentum in der Aufklärung mündeten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.2003Der Mut des gemeinen Kerls
Für Peter Blickle gibt es keine Freiheit ohne Leibeigenschaft
Lieblingsthemen haben viele deutsche Historiker. Nur noch wenige aber haben - man muß es im Siebziger-Jahre-Deutsch sagen: Anliegen. Vielleicht ist Peter Blickle sogar der letzte von ihnen. Unablässig, mit bohrendem Nachdruck hat er seit dem Bauernkriegsjubiläum 1975 dieselbe Frage verfolgt: Wo war Freiheit? In seinen vielbenutzten Büchern über die "Revolution von 1525", über "Deutsche Untertanen" (1981), "Gemeindereformation" (1985), "Unruhen in der ständischen Gesellschaft" (1988) und "Kommunalismus" (2000) hat er nach ihr geforscht und sie gefunden. Nicht im demokratischen Staat, nicht in der Aufklärung, nicht bei den Intellektuellen, sondern dort, wo kaum ein Kollege sie noch zu finden wagt: auf dem Land, in den Dörfern, beim "deutschen Bauernstand", beim "gemeinen Mann".
Rastlos haben der Berner Ordinarius, seine Frau und seine Schüler immer neue Studien vorgelegt - er allein mehr als vierzig Bücher -, den gleichen Befund wieder und wieder aus den Quellen präpariert. Fleißiger, akribischer, umfassender kann ein Forscher seine These nicht untermauern, als Peter Blickle es getan hat. Sein neues Werk setzt diese Mission fort. Wieder fragt er nach Orten und Trägern deutscher Freiheit zwischen 1300 und 1850. Wieder meint er keine erdachte, geforderte, sondern eine, die tatsächlich existierte. Wieder mündet seine detaillierte Untersuchung in eine provokante These: Die Menschenrechte waren keine amerikanische Erfindung, sondern eine deutsche, um genau zu sein: eine oberdeutsche.
Frei war, wer über seinen Leib, seine Arbeitskraft und deren Erlös verfügen konnte, wer das Recht besaß, zu leben, wo, und zu heiraten, wen er - oder sie - wollte. Im Mittelalter galt das vor allem für Adlige. Sie allerdings lernt man bei Blickle allenfalls als Feinde der Freiheit anderer kennen. Nicht für die Privilegierten schlägt sein Herz, sondern für diejenigen, die (nach dem Buchtitel von 1985) "auf dem Weg zum Heil" waren: die sich Freiheit erst erhandeln, ertrotzen, erkämpfen mußten. Die meisten Menschen waren nicht frei, sondern "eigen". Sie unterstanden einem (adligen beziehungsweise kirchlichen) Grundherrn, der ihnen "Schutz" und einen Hof zur Bewirtschaftung bot, dem sie dafür aber Dienste und Abgaben schuldeten.
Meist war diese "Eigenschaft" milde. Massenhafte Landflucht in die Städte, deren Luft binnen Jahresfrist frei machte, zwang die Herren, ihre Ansprüche immer mehr zu senken, wenn sie nicht ganz ohne Personal dastehen wollten. Mancherorts kauften die Eigenleute ihnen ihre Rechte einfach ab (wie in Uri) oder entrissen sie ihnen in siegreichen Rebellionen (wie in Appenzell), um fürderhin in freien Kommunen autonomer Hausväter zu leben. Wäre es so weiter gegangen, hätte es um 1500 keinen Adel mehr in Deutschland gegeben. Doch die Herren wehrten sich. Seit 1350 gingen sie dazu über, nur noch denjenigen Höfe zu verleihen, die sich völlig unterwarfen und schworen, niemals fortzuziehen. So wurde die Eigenschaft zur Leibeigenschaft und diese auf alle Landbewohner ausgedehnt. Die bis dahin üblichen feinen Unterschiede zwischen Eigenleuten, Zinsern, Pfahlbürgern und Wildfängen (zugereisten Auswärtigen) galten nicht mehr. Alle mußten Gehorsam schwören. Die Erbitterung wuchs.
Blickle-Leser wissen (und erfahren hier abermals), was folgte: die "Revolution von 1525", der Bauernkrieg. Er ging verloren. Trotzdem besserten sich in der Zeit danach die Bedingungen. Weil alle zu Leibeigenen nivelliert worden waren, existierte nun ein einheitlicher Verband von Untertanen, die gemeinsam gegen ihre Herren vorgehen, ihnen Verträge, Freiheits- und Eigentumsrechte abtrotzen und so gemeinsam zu Staatsbürgern werden konnten. Nur im Norden und Osten Deutschlands mißlang dies. Nach dem Dreißigjährigen Krieg erzwangen die Gutsbesitzer in Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Brandenburg eine harte Erbuntertänigkeit. Als professionelle Sanierer entließen viele einen Großteil ihrer Bauern, bürdeten den übriggebliebenen deren Pflichten und Abgaben zusätzlich auf und erhöhten so ihre persönlichen Gewinne um ein Vielfaches. Die Landbevölkerung versank in Sklaverei.
So also verlief die Geschichte der Freiheit in Deutschland: hegelianisch-dialektisch. Die Freiheit mußte erst unterliegen, um Gemeingut werden zu können - Asche für Phönix (hätte Jürgen Kuczynski gesagt), eine für den deutschen "Haus"-Gebrauch aufbereitete Tocqueville-These. Dabei verhehlt Blickle sein Gegenwartsinteresse nicht. Die "Universalisierbarkeit" der Menschen- und Bürgerrechte, erklärt er, wachse, "wenn man sie aus einer vorgängigen Unfreiheit dialektisch hervorgehen läßt, anstatt sie an eine westeuropäische bürgerliche Aufklärung zu koppeln".
Aus moralischer Absicht konstruiert er die Geschichte der Freiheit als Mythos ihrer selbst. Denn er weiß, was seine Fachkollegen einwenden werden: Gab es denn "Freiheit" in der Vormoderne? War sie nicht schlechthin undenkbar in einer Gesellschaft, die es für gottgegeben und selbstverständlich hielt, daß jedem Stand je eigene, je besondere "Freiheiten" zukämen? Blickle, wiewohl ein diskreter Verehrer Otto Brunners, mag das nicht hören. In den Archivdokumenten jedenfalls, erwidert er, sei nie von verschiedenen Freiheiten die Rede, immer nur von "Freiheit als solcher". So erörtert er die je konkreten, real existierenden Rechtsformen zeitgenössischer Freiheit zwar in fein verästelten Einzeluntersuchungen. Dahinter aber, so suggeriert er seinen Lesern, stand bereits die moderne, universale Vision von Freiheit - eine sonderbare Ambivalenz, die nicht wenig zur Provokationskraft des Buches beiträgt.
Die gleiche Konstruktion bewirkt, daß Leibeigenschaft in einem überraschend positiven Licht erscheint. Keine Willkür und Sklaverei sei sie gewesen, betont Blickle, sondern ein Vertragsverhältnis, das durch einen Eid konstituiert und durch die Übertragung von Grundbesitz an den Leibeigenen bestätigt wurde. So selbstverständlich sei dies den Zeitgenossen gewesen, daß sie noch im neunzehnten Jahrhundert Freiheit, Eigentum und Vertrag untrennbar zusammengedacht hätten. Unwillkürlich hätten sie sich Freiheit als eine Leibeigenschaft vorgestellt, die sich selbst gehört.
Ein amerikanisches Modell? Noch ein Widerspruch: die Unabhängigkeitserklärung, sagt Blickle, gehe, wie die meisten aufgeklärten Vertragstheorien, auf das Naturrecht des Samuel Pufendorf von 1672/73 zurück. Dessen Kern aber sei ein Gutachten gewesen, das der Heidelberger Professor 1665 über den in der Kurpfalz üblichen Konnex von Vertrag und Leibeigenschaft verfaßt habe. So brächten die westeuropäischen Menschenrechte nur auf den Begriff, was im deutschen Südwesten längst politische Wirklichkeit gewesen sei - eine Wirklichkeit, die der "gemeine Mann" durch Mut und Zähigkeit erkämpft hatte. Daß der gelehrte Kampf um dieses Thema weitergeht, dafür dürfte Peter Blickle, der unbeugsame Streiter, mit seinem neuen Buch gesorgt haben.
GERRIT WALTHER
Peter Blickle: "Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten". Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland. Verlag C. H. Beck, München 2003. 426 S., 7 Abb., geb., 36,90 [Euro].
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Für Peter Blickle gibt es keine Freiheit ohne Leibeigenschaft
Lieblingsthemen haben viele deutsche Historiker. Nur noch wenige aber haben - man muß es im Siebziger-Jahre-Deutsch sagen: Anliegen. Vielleicht ist Peter Blickle sogar der letzte von ihnen. Unablässig, mit bohrendem Nachdruck hat er seit dem Bauernkriegsjubiläum 1975 dieselbe Frage verfolgt: Wo war Freiheit? In seinen vielbenutzten Büchern über die "Revolution von 1525", über "Deutsche Untertanen" (1981), "Gemeindereformation" (1985), "Unruhen in der ständischen Gesellschaft" (1988) und "Kommunalismus" (2000) hat er nach ihr geforscht und sie gefunden. Nicht im demokratischen Staat, nicht in der Aufklärung, nicht bei den Intellektuellen, sondern dort, wo kaum ein Kollege sie noch zu finden wagt: auf dem Land, in den Dörfern, beim "deutschen Bauernstand", beim "gemeinen Mann".
Rastlos haben der Berner Ordinarius, seine Frau und seine Schüler immer neue Studien vorgelegt - er allein mehr als vierzig Bücher -, den gleichen Befund wieder und wieder aus den Quellen präpariert. Fleißiger, akribischer, umfassender kann ein Forscher seine These nicht untermauern, als Peter Blickle es getan hat. Sein neues Werk setzt diese Mission fort. Wieder fragt er nach Orten und Trägern deutscher Freiheit zwischen 1300 und 1850. Wieder meint er keine erdachte, geforderte, sondern eine, die tatsächlich existierte. Wieder mündet seine detaillierte Untersuchung in eine provokante These: Die Menschenrechte waren keine amerikanische Erfindung, sondern eine deutsche, um genau zu sein: eine oberdeutsche.
Frei war, wer über seinen Leib, seine Arbeitskraft und deren Erlös verfügen konnte, wer das Recht besaß, zu leben, wo, und zu heiraten, wen er - oder sie - wollte. Im Mittelalter galt das vor allem für Adlige. Sie allerdings lernt man bei Blickle allenfalls als Feinde der Freiheit anderer kennen. Nicht für die Privilegierten schlägt sein Herz, sondern für diejenigen, die (nach dem Buchtitel von 1985) "auf dem Weg zum Heil" waren: die sich Freiheit erst erhandeln, ertrotzen, erkämpfen mußten. Die meisten Menschen waren nicht frei, sondern "eigen". Sie unterstanden einem (adligen beziehungsweise kirchlichen) Grundherrn, der ihnen "Schutz" und einen Hof zur Bewirtschaftung bot, dem sie dafür aber Dienste und Abgaben schuldeten.
Meist war diese "Eigenschaft" milde. Massenhafte Landflucht in die Städte, deren Luft binnen Jahresfrist frei machte, zwang die Herren, ihre Ansprüche immer mehr zu senken, wenn sie nicht ganz ohne Personal dastehen wollten. Mancherorts kauften die Eigenleute ihnen ihre Rechte einfach ab (wie in Uri) oder entrissen sie ihnen in siegreichen Rebellionen (wie in Appenzell), um fürderhin in freien Kommunen autonomer Hausväter zu leben. Wäre es so weiter gegangen, hätte es um 1500 keinen Adel mehr in Deutschland gegeben. Doch die Herren wehrten sich. Seit 1350 gingen sie dazu über, nur noch denjenigen Höfe zu verleihen, die sich völlig unterwarfen und schworen, niemals fortzuziehen. So wurde die Eigenschaft zur Leibeigenschaft und diese auf alle Landbewohner ausgedehnt. Die bis dahin üblichen feinen Unterschiede zwischen Eigenleuten, Zinsern, Pfahlbürgern und Wildfängen (zugereisten Auswärtigen) galten nicht mehr. Alle mußten Gehorsam schwören. Die Erbitterung wuchs.
Blickle-Leser wissen (und erfahren hier abermals), was folgte: die "Revolution von 1525", der Bauernkrieg. Er ging verloren. Trotzdem besserten sich in der Zeit danach die Bedingungen. Weil alle zu Leibeigenen nivelliert worden waren, existierte nun ein einheitlicher Verband von Untertanen, die gemeinsam gegen ihre Herren vorgehen, ihnen Verträge, Freiheits- und Eigentumsrechte abtrotzen und so gemeinsam zu Staatsbürgern werden konnten. Nur im Norden und Osten Deutschlands mißlang dies. Nach dem Dreißigjährigen Krieg erzwangen die Gutsbesitzer in Schleswig-Holstein, Mecklenburg und Brandenburg eine harte Erbuntertänigkeit. Als professionelle Sanierer entließen viele einen Großteil ihrer Bauern, bürdeten den übriggebliebenen deren Pflichten und Abgaben zusätzlich auf und erhöhten so ihre persönlichen Gewinne um ein Vielfaches. Die Landbevölkerung versank in Sklaverei.
So also verlief die Geschichte der Freiheit in Deutschland: hegelianisch-dialektisch. Die Freiheit mußte erst unterliegen, um Gemeingut werden zu können - Asche für Phönix (hätte Jürgen Kuczynski gesagt), eine für den deutschen "Haus"-Gebrauch aufbereitete Tocqueville-These. Dabei verhehlt Blickle sein Gegenwartsinteresse nicht. Die "Universalisierbarkeit" der Menschen- und Bürgerrechte, erklärt er, wachse, "wenn man sie aus einer vorgängigen Unfreiheit dialektisch hervorgehen läßt, anstatt sie an eine westeuropäische bürgerliche Aufklärung zu koppeln".
Aus moralischer Absicht konstruiert er die Geschichte der Freiheit als Mythos ihrer selbst. Denn er weiß, was seine Fachkollegen einwenden werden: Gab es denn "Freiheit" in der Vormoderne? War sie nicht schlechthin undenkbar in einer Gesellschaft, die es für gottgegeben und selbstverständlich hielt, daß jedem Stand je eigene, je besondere "Freiheiten" zukämen? Blickle, wiewohl ein diskreter Verehrer Otto Brunners, mag das nicht hören. In den Archivdokumenten jedenfalls, erwidert er, sei nie von verschiedenen Freiheiten die Rede, immer nur von "Freiheit als solcher". So erörtert er die je konkreten, real existierenden Rechtsformen zeitgenössischer Freiheit zwar in fein verästelten Einzeluntersuchungen. Dahinter aber, so suggeriert er seinen Lesern, stand bereits die moderne, universale Vision von Freiheit - eine sonderbare Ambivalenz, die nicht wenig zur Provokationskraft des Buches beiträgt.
Die gleiche Konstruktion bewirkt, daß Leibeigenschaft in einem überraschend positiven Licht erscheint. Keine Willkür und Sklaverei sei sie gewesen, betont Blickle, sondern ein Vertragsverhältnis, das durch einen Eid konstituiert und durch die Übertragung von Grundbesitz an den Leibeigenen bestätigt wurde. So selbstverständlich sei dies den Zeitgenossen gewesen, daß sie noch im neunzehnten Jahrhundert Freiheit, Eigentum und Vertrag untrennbar zusammengedacht hätten. Unwillkürlich hätten sie sich Freiheit als eine Leibeigenschaft vorgestellt, die sich selbst gehört.
Ein amerikanisches Modell? Noch ein Widerspruch: die Unabhängigkeitserklärung, sagt Blickle, gehe, wie die meisten aufgeklärten Vertragstheorien, auf das Naturrecht des Samuel Pufendorf von 1672/73 zurück. Dessen Kern aber sei ein Gutachten gewesen, das der Heidelberger Professor 1665 über den in der Kurpfalz üblichen Konnex von Vertrag und Leibeigenschaft verfaßt habe. So brächten die westeuropäischen Menschenrechte nur auf den Begriff, was im deutschen Südwesten längst politische Wirklichkeit gewesen sei - eine Wirklichkeit, die der "gemeine Mann" durch Mut und Zähigkeit erkämpft hatte. Daß der gelehrte Kampf um dieses Thema weitergeht, dafür dürfte Peter Blickle, der unbeugsame Streiter, mit seinem neuen Buch gesorgt haben.
GERRIT WALTHER
Peter Blickle: "Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten". Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland. Verlag C. H. Beck, München 2003. 426 S., 7 Abb., geb., 36,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Peter Blickle ist unbeugsam, konstatiert Gerrit Walter anerkennend. Denn ein weiteres Mal versuche der Historiker, die historische Forschergemeinde und die Leser davon zu überzeugen, dass die Idee der Freiheit nicht der Aufklärung entstammt, sondern dem Kampf der deutschen Bauern gegen die negativen Bedingungen ihrer Existenz, die "Eigenschaft" beziehungsweise "Leibeigenschaft". Die Idee der Freiheit sei kein Produkt hochfliegender Gedanken gewesen, sondern habe sich dialektisch aus der konkreten Unfreiheit ergeben, der die deutsche Bauernschaft vom Adelsstand unterworfen war - aus dem zähen Kampf um vertragliche Besserstellung. Mit der Formulierung von Menschenrechten in der amerikanischen Verfassung sei nur auf den begrifflichen Punkt gebracht worden, "was im deutschen Südwesten längst politische Wirklichkeit gewesen sei". Damit, schreibt Rezensent Walter, erscheint "die Leibeigenschaft in einem überraschend positiven Licht", nämlich als notwendiger Kontext der Herausbildung von Freiheit als schließlich universalem Wert. Die kontroverse Debatte jedenfalls sei Blickle sicher.
© Perlentaucher Medien GmbH
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