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Die Vermessung sozialer WahrscheinlichkeitenDas Archiv meiner sozialen Wut Geschichten von der unteren Klasse, Literatur über soziale Herkunft - meist sind das Erzählungen von Aufbruch und Aufstieg. Olivier Davids Essays kreisen um diejenigen, die unten geblieben sind. Die, mit den schmerzenden Körpern, die Nachtarbeitenden, die Vergessenen - und um ihn selbst. Wie fühlt es sich an, mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesundheit den Wohlstand höherer Klassen zu bezahlen? Was bedeutet es, unten zu bleiben, damit die oberen ihren Status, ihre Macht, ihre Privilegien behalten können? Wie…mehr

Produktbeschreibung
Die Vermessung sozialer WahrscheinlichkeitenDas Archiv meiner sozialen Wut Geschichten von der unteren Klasse, Literatur über soziale Herkunft - meist sind das Erzählungen von Aufbruch und Aufstieg. Olivier Davids Essays kreisen um diejenigen, die unten geblieben sind. Die, mit den schmerzenden Körpern, die Nachtarbeitenden, die Vergessenen - und um ihn selbst. Wie fühlt es sich an, mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesundheit den Wohlstand höherer Klassen zu bezahlen? Was bedeutet es, unten zu bleiben, damit die oberen ihren Status, ihre Macht, ihre Privilegien behalten können? Wie selbstbestimmt kann die Entscheidung, allein zu bleiben sein, wenn soziale Beziehungen durch Vereinzelung, Geldmangel und eingeschränkte Teilhabe unter Druck stehen? Wie soll Geschichte weitergegeben werden, wenn es kein kollektives Gedächtnis armer Menschen gibt?"Es geht hier nicht um die Kulturalisierung von Armut, nach dem Motto: So sind sie, die Armen. Es geht um das Aufzeigen von Lebensrealitäten als Kausalketten."Olivier David beschäftigt sich anhand von Beobachtungen und Erfahrungen mit dem Einfluss von Klasse auf sein Leben - und die Leben derer, die er seine Leute nennt. In sprachgewaltigen, intimen, wütenden und dabei einfühlsamen Essays schreibt er über innere Migration, vom Fremdsein und einer blauen Angst. Und er ringt zugleich um eine Erzählweise, die den Geschichten von unten gerecht wird. "Von der namenlosen Menge" ist ein Versuch, sich selbst in die Welt einzuschreiben, denn: "Für gewöhnlich liest unsereins nicht vor Publikum aus Büchern, unsereins trägt Sicherheitsschuhe beim Arbeiten, hat Kopfhörer auf den Ohren gegen den Lärm, hat Schmerzen irgendwo, lehnt, wo er kann, gähnt, so oft es geht ..."
Autorenporträt
Olivier David, 1988 in Hamburg-Altona geboren, ist Schriftsteller und Kolumnist. Nach der Schule arbeitete er mehrere Jahre in einem Supermarkt, bevor er eine Schauspielausbildung begann. Olivier David jobbte als Kellner, Malerhelfer und Lagerarbeiter, nebenbei spielte er Theaterstücke für Kinder. Mit dreißig gelang ihm der Quereinstieg in den Journalismus. 2022 erschien sein erstes Buch "Keine Aufstiegsgeschichte - Warum Armut psychisch krank macht". Für die Tageszeitung "nd" schreibt Olivier David die Kolumne "Klassentreffen", für das Schweizer Magazin "Das Lamm" die Kolumne "David gegen Goliath".
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Olivier Davids "Von der namenlosen Menge" berichtet vom Leben armer Menschen in Deutschland und versteht sich als wütende Anklageschrift gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse. Anschaulich und bewegend, findet Rezensent Gerald Wagner, schildert David, der nach eigener Aussage selbst dem Prekariat entstammt, zum Beispiel die Auswirkungen schlecht bezahlter Arbeit auf seinen Körper und die seiner Eltern. Seine Gesellschaftstheorie ist dem Rezensenten allerdings zu deterministisch und beziehe die Bemühungen der ,herrschenden Klasse' um eine Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen - durch einen Ausbau des Sozialstaats, in der Bildungsförderung und der Arbeitsmarktpolitik - nicht ausreichend ein. Mehr Respekt für die arbeitende Klasse erwirkt sein manifestartiger Text dennoch, urteilt Wagner, und ist allein deshalb schon lesenswert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.06.2024

Verhasste Gesellschaft
Klassismus: Olivier David setzt eine Klageschrift auf

Kann ein Buch, das "über Klasse, Wut und Einsamkeit" berichten will und sich "den Unterdrückten, den Ausgebeuteten, den Vergessenen" widmet, überhaupt von Deutschland handeln? Das klingt doch eher nach der Dritten Welt, nach einer Fortsetzung von Frantz Fanons "Die Verdammten dieser Erde". Aber nicht nach dem Land von Bürgergeld, Mindestlohn und Fachkräftemangel.

Die "namenlose Menge" aber, deren Angehörigen Olivier David in seinem Buch einen Namen geben möchte, sind die Armen in diesem Land. David entstammt selbst dieser Menge, und da beschreibt einer seine Kaputtheit, seinen von der Arbeit zerschundenen, kranken, müden Körper. Und die Körper seiner Eltern, seiner Freunde, seiner Klasse. Ja, schaut hin, das hat mein Schicksal aus mir gemacht! Und aus all den anderen meiner Klasse. David setzt sein ganzes literarisches Können ein, diese Schmerzen nachempfinden zu lassen.

Aber das genügte ihm nicht. Er wollte - wie die meisten dieser Bücher zum "Klassismus" - auch eine Gesellschaftstheorie vorlegen, eine Anklage und ein politisches Manifest. Und da begeht er einen Fehler, der exemplarisch ist für dieses Genre: Er ist überzeugt davon, unsere Gesellschaft als eine unveränderliche Weltordnung zu beschreiben, als einen blinden Zufallsgenerator der "Ohnmacht" besserer und schlechterer Schicksale. Der Fatalismus scheint ein unverzichtbarer Teil dieser Welt zu sein.

Aber eigentlich war diese Art von gesellschaftskritischer Literatur schon bei Charles Dickens ein Stück weiter. Und David schadet seinem Anliegen damit auch, denn es nähme der Authentizität und Würde seiner Stimme nichts, wenn er auf den platten Determinismus seiner Gesellschaftskritik verzichten würde. "Erst", doziert David, "nimmt die herrschende Klasse einem die Mittel zu einem würdevollen Leben", dann diskreditiere die kulturelle Fraktion derselben Klasse die Intensität der Gefühle, die ob dieses Verlustes aufstiegen. Die Gesellschaft mache ihn selbst für das Unvermögen, nicht von der Stelle zu kommen, verantwortlich.

Ist das wirklich so? Macht sich nicht eher die Gesellschaft selbst dafür verantwortlich beziehungsweise ihre Institutionen, wie insbesondere die Schulen? Und antwortet sie darauf etwa nicht mit dem Ausbau des Sozialstaats, der Bildungsförderung, der Arbeitsmarktpolitik? David tut so, als stünde in den Programmen der Parteien der "herrschenden Klasse" der Satz, die Armen seien an ihrer Armut ja wohl selbst schuld. Die innerhalb der "herrschenden Klasse" heftig debattierte Frage ist doch vielmehr, warum es in Deutschland trotz eines öffentlichen Sozialbudgets von rund 1,12 Billionen Euro pro Jahr unbestritten immer noch Armut gibt. Natürlich fallen die Antworten darauf unterschiedlich aus. Aber das Wort Schicksal findet man nur in Büchern wie diesem, das sich erstaunlicherweise für solche vermittelnden Institutionen wie eben den Sozialstaat oder den zweiten Bildungsweg, für Bafög oder kostenlose öffentliche Bibliotheken nicht interessiert.

Das alles gehört für David einfach zum "System, das uns verstümmelt, entfremdet, bedroht und ermordet". Er hasse dieses System, lässt er den Leser zum Ende wissen, und wirft damit die Frage auf, an wen sich dieses Buch eigentlich richtet. Das eigene Milieu Davids liest nicht. Und die, die lesen, gehören zu der ihm verhassten Klasse, die laut diesem Buch die Schicksalsgenossen des Autors unterdrückt und ausbeutet oder einfach vergisst.

Eine Literatur der Armut, wütet David, brauche "Sätze so scharf wie Messerstiche zwischen die Rippenbögen bürgerlicher Moral". Die Angehörigen der bürgerlichen Klasse kommen da mit der Erhöhung des Mindestlohns, fordern mehr frühkindliche Sprachförderung und bessere Schulen in sozialen Brennpunkten - und Olivier David wetzt schon das Messer im Kampf um die klassenlose Gesellschaft. Den Umsturz wird aber auch er nicht mehr literarisch herbeischreiben können. Mehr Respekt für die arbeitende Klasse schon. Wer Hass predigt, wird dagegen eher Kopfschütteln ernten. GERALD WAGNER

Olivier David: "Von der namenlosen Menge". Über Klasse, Wut & Einsamkeit.

Haymon Verlag, Innsbruck 2024. 176 S., geb.,

22,90 Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
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