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Lotte, die Tochter des belesenen Schreinermeisters Zimmer, erzählt aus dem kleinen, auf Haus und Garten beschränkten Alltag des alten umgangsscheuen Dichters.

Produktbeschreibung
Lotte, die Tochter des belesenen Schreinermeisters Zimmer, erzählt aus dem kleinen, auf Haus und Garten beschränkten Alltag des alten umgangsscheuen Dichters.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.1998

Leichte Fracht des Lebens
Nachrichten aus dem Alltag mit Friedrich Hölderlin

Als Ludwig Geiger im Jahre 1908 sein Buch "Goethe und die Seinen" veröffentlichte, schrieb er im Vorwort, es sei "selbstverständlich, daß Bäckersfrauen, Milchjungen, Theaterdiener und Bibliotheksboten" trotz ihres unbestreitbaren Umgangs mit Goethe "überhaupt nicht zur Sprache kamen". Irgendwann aber stellte auch die Literaturwissenschaft Brechts "Fragen eines lesenden Arbeiters", Fragen, die Biographen schon weitaus früher beschäftigt haben. Das schöngedruckte Bändchen aus der Friedenauer Presse mit Nachrichten von Lotte Zimmer über Hölderlin gehört in diesen Zusammenhang.

Lotte Zimmer? Sie war die 1813 geborene Tochter des Tübinger Schreinermeisters Ernst Zimmer, die nach dem Tod des Vaters 1838 die Verantwortung für den gemütskranken Dichter übernahm, der seit 1807 bei den Zimmers wohnte und verständnisvoll von ihnen betreut worden ist. Die Familie Zimmer war gehalten, mit Hölderlins Mutter und nach deren Tod 1828 mit Hölderlins in Nürtingen ansässiger Pflegschaft vierteljährlich alle Ausgaben für den Kranken abzurechnen. Hölderlins Vormund, der Oberamtspfleger Israel Gottfried Burk, hat sich für sein Mündel weder interessiert noch es jemals besucht; hingegen betrieb er mit dem beträchtlichen Vermögen des Dichters sehr lukrative Geldgeschäfte, indem er aus dem ihm anvertrauten Kapital der Nürtinger Landbevölkerung Darlehen zu fünf Prozent gewährte.

Lotte Zimmers Briefe enthalten nicht nur Abrechnungen, sondern auch Berichte über den Kranken und sein Verhalten. Hölderlin, ein im allgemeinen ruhiger und freundlicher Patient, litt gelegentlich unter Tobsuchtsanfällen, deren er sich später schämte und die er stets dem Wetter zuschrieb. Dabei flog dann das Mobiliar und gingen auch mal Fensterscheiben zu Bruch, für deren Erneuerung der Glaser 42 Kreuzer verlangte. Er "verreißt auch viel am Bettgewand, weil Er so unruhig schlaft". Jede Kleinigkeit mußte penibel abgerechnet werden, die neuen Hosenträger oder das Viertele Wein; zerrissene Hemden oder Bettwäsche waren zur Kontrolle an die Pflegschaft zu senden und die Ausgaben zu begründen. Dabei hat der bedürfnislos lebende Hölderlin kaum etwas in Anspruch genommen und war doch ein Mann, dessen finanzielles Vermögen das der Zimmers bei weitem übertraf.

Die hier in Auswahl vorgestellten Dokumente wurden zuerst 1993 von Gregor Wittkop veröffentlicht, nachdem die verschollen geglaubte Pflegschaftsakte zwei Jahre zuvor in Nürtingen entdeckt worden war. Das Nachwort dieses Büchleins macht uns auch mit dem Schicksal Lotte Zimmers bekannt, die 1879 in Tübingen starb. Im Nachlaß der fast mittellosen Frau fand sich ein kleiner Tisch, den Lotte in Ehren hielt, denn auf den "habe der Dichter Hölderlin mit der Hand geschlagen, wenn er Streit gehabt - mit seinen Gedanken", so berichtet 1859 einer der Studenten, die bei der "Jungfer Zimmer" zur Untermiete wohnten. Heute befindet sich "das Hölderlinstischle" im Besitz eines Neffen Lotte Zimmers in der vierten Generation. Als Hölderlin am Abend des 7. Juni 1843 im Beisein von Lotto Zimmer und ihrer Mutter eines sanften Todes starb, fügte Lotte ihrem Bericht über den Tod auch eine Rechnung über ihre Auslagen bei, worin selbst der Schwamm, mit dem man den Leichnam gewaschen hatte, nicht vergessen wurde: 24 Kreuzer.

Die Gedichte des schizophrenen, sich gern "Scardanelli" nennenden Dichters hat Lotte Zimmer sorgfältig verwahrt; das letzte hatte er noch wenige Tage vor dem Ende aufgezeichnet. Manche hat sie als ein kostbares Vermächtnis gehütet, andere aber leider pflichtbewußt an die Pflegschaft geschickt, wo man die Handschriften des Mündels als Plunder in den Papierkorb warf. "Hätte Lotte Zimmer", so lesen wir im Nachwort, "auf deren Rückseite nur die Kosten für zwei neue Taschentücher oder ein geflicktes Laken notiert, die Verse wären mit Sicherheit erhalten geblieben. Unbeschwert mit den Kosten des Alltags aber waren sie eine zu leichte Fracht." ECKART KLESSMANN

"Von der Realität des Lebens - Hier das Blatt". Nachrichten aus dem Alltag mit Friedrich Hölderlin, mitgeteilt von Lotte Zimmer. Nach bekannten und unbekannten Quellen zusammengestellt von Angelika Overath und Gregor Wittkop. Friedenauer Presse, Berlin 1997. 32 S., br., 16,80 DM.

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