Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung - die Megatrends des beginnenden 21. Jahrhunderts prägen auch unsere Gesellschaft. Vor dem Hintergrund tiefgreifender wissenschaftlicher, technischer und soziologischer Umwälzungen drängen sich politisch brisante Fragen auf: Driftet unsere Gesellschaft auseinander oder kann sie ihren Zusammenhalt wahren? Wie lassen sich die gestiegenen Anforderungen an Bildung und Weiterbildung besser erfüllen? Bietet die Gesellschaft der Zukunft den Menschen mehr Chancen als früher oder birgt sie letztlich doch mehr Risiken in sich? Wie können vorhandene Potentiale des Gemeinsinns besser erschlossen und neue Grundlagen für soziales Miteinander gefunden werden? Autorinnen und Autoren wie Benjamin Barber, Bärbel Bohley, Norbert Bolz, Wolfgang Frühwald, Robert Leicht, Annette Schavan, Erwin Teufel und Norbert Walter schildern aus unterschiedlichen Perspektiven ihre Sicht der Dinge in einer notwendigen und spannenden gesellschaftlichen Debatte.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2001Solidarische Räuber
Politiker reden über die Risikogesellschaft und machen Vorschläge für ein intaktes Gemeinwesen
Zu kaum einem Themenkreis sind in den vergangenen Jahren mehr Bücher veröffentlicht worden als zur „Globalisierung” und zur „Risikogesellschaft”. In dem von Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel herausgegebenen Sammelband „Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft” soll nach den Worten des Herausgebers jedoch „weniger über den Zustand der Gesellschaft als vielmehr über den richtigen Weg in ihre Zukunft” diskutiert werden. So kommen nicht nur Theoretiker zu Wort, sondern auch Politiker, zu deren Aufgaben es ja gehört, die negativen Folgen dieses gesellschaftlichen Umbruchs, soweit möglich, abzufedern.
Der Band enthält die Beiträge zu einem Kongress, auf dem die Arbeitsergebnisse der „Zukunftskommission Gesellschaft 2000” des Landes Baden-Württemberg erörtert worden waren. Mit den thematischen Schwerpunkten Wissen und Kultur, Jugend sowie bürgerschaftliches Engagement befassen sich unter anderen die Kommissionsmitglieder Aleida Assmann, Hans Bertram und Hans Lenk; weitere Aufsätze stammen von Norbert Bolz, Wolfgang Bonß, Robert Leicht, Benjamin Barber und dem Volkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter.
Wolfgang Frühwald, langjähriger Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Leiter der Zukunftskommission, ist mit deren Erkenntnissen offenbar recht zufrieden: Die Kommission habe zu ihrer „eigenen Überraschung eine solche Fülle von Bindungskräften, von Idealismus, Gemeinsinn und sozialem Engagement” gefunden, dass der vielfach befürchtete Zerfall der Gesellschaft offenbar nicht zu erwarten sei. Die Bereitschaft, sich zu engagieren, habe „eher zu- als abgenommen”; angesichts der hohen Mobilität der Bürger müsse die Politik jedoch dazu übergehen, verstärkt auch projektorientierte, kurzfristige Formen der Bürgerarbeit zu fördern.
Nun könnte man erwarten, dass derlei Erkenntnisgewinn sich auch in den Beiträgen der Politiker aus dem Südwesten widerspiegelt. Doch wird der Leser des ansonsten recht interessanten Bandes in dieser Hinsicht enttäuscht: Die Skala der Aufsätze der Volksvertreter reicht vom Eigenlob über Leerformeln bis hin zum kulturpessimistischen Klagelied. So freut sich die Tübinger SPD-Oberbürgermeisterin Brigitte Russ-Scherer darüber, wie toll es mit der Bürgerbeteiligung in Tübingen klappt. Nach der Lektüre der Ausführungen von Erwin Teufel und Sozialminister Friedhelm Repnik ist man hingegen so klug wie zuvor.
Zu viele Freiheiten
Nicht sehr originell sind auch die Ansichten des jugendpolitischen Sprechers der CDU-Fraktion, Georg Wacker, der das Versagen der Familien bei der Wertevermittlung an die Jugend beklagt und meint, diese hätte heute zu viele Freiheiten und „zu wenige verbindliche Orientierungsmuster”. Und Winfried Kretschmann von den Grünen lamentiert: „Das Leben besteht nun einmal zu 80 Prozent aus Trivialitäten. Und wenn schon eine konservative Kultusministerin meint, Schule müsse ,Spaß machen‘, dann stimmt irgend etwas nicht mehr. ”
Zur Ehrenrettung der politischen Klasse taugt einzig der Aufsatz der Bildungsministerin und stellvertretenden Vorsitzenden der Bundes-CDU, Annette Schavan, über die „Ambivalenzen der Moderne”. Dem Hohelied ihrer Kollegen auf Solidarität und Selbstverantwortung stellt sie entgegen, dass zwischen diesen beiden Tugenden ein Spannungsverhältnis bestehe und dass sie außerdem, jeweils für sich genommen, noch keinen positiven Wert darstellten: Schließlich handele auch ein ausgemachter Egoist selbstverantwortlich, und die Mitglieder einer Räuberbande verhielten sich untereinander solidarisch. Auch in die „wohlfeile Klage über einen angeblichen Werteverlust der Jugend” möchte Schavan nicht einstimmen. Die Gesellschaft fordere zwar „das Einhalten von Werten in Sonntagsreden”, im Alltag herrschten jedoch Flexibilität, Mobilität und Gewinnstreben: Wieder ein Spannungsverhältnis, diesmal „zwischen dem gesellschaftspolitisch erwünschten und dem ökonomisch Machbaren”, vulgo Fressen und Moral. Auf den „Weg in ihre Zukunft” gibt Schavan der Gesellschaft daher keine einfache Antwort mit, sondern eine schwierige Frage: „Was ist es uns wert, in einem intakten Gemeinwesen zu leben?”
Für manchen ist das vielleicht bitter: Konflikte müssen, bevor man sie beilegen kann, bisweilen erst einmal ausgetragen werden. Angesichts der Ausführungen ihrer Kollegen bietet Schavans Beitrag aber wenigstens einen Trost: Die Zukunft der Gesellschaft, und das liegt ja auch irgendwie in der Natur der Sache, bleibt offen.
SEBASTIAN BERGER
ERWIN TEUFEL (Hrsg. ): Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001. 304 Seiten, 12 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Politiker reden über die Risikogesellschaft und machen Vorschläge für ein intaktes Gemeinwesen
Zu kaum einem Themenkreis sind in den vergangenen Jahren mehr Bücher veröffentlicht worden als zur „Globalisierung” und zur „Risikogesellschaft”. In dem von Baden-Württembergs Ministerpräsident Erwin Teufel herausgegebenen Sammelband „Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft” soll nach den Worten des Herausgebers jedoch „weniger über den Zustand der Gesellschaft als vielmehr über den richtigen Weg in ihre Zukunft” diskutiert werden. So kommen nicht nur Theoretiker zu Wort, sondern auch Politiker, zu deren Aufgaben es ja gehört, die negativen Folgen dieses gesellschaftlichen Umbruchs, soweit möglich, abzufedern.
Der Band enthält die Beiträge zu einem Kongress, auf dem die Arbeitsergebnisse der „Zukunftskommission Gesellschaft 2000” des Landes Baden-Württemberg erörtert worden waren. Mit den thematischen Schwerpunkten Wissen und Kultur, Jugend sowie bürgerschaftliches Engagement befassen sich unter anderen die Kommissionsmitglieder Aleida Assmann, Hans Bertram und Hans Lenk; weitere Aufsätze stammen von Norbert Bolz, Wolfgang Bonß, Robert Leicht, Benjamin Barber und dem Volkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter.
Wolfgang Frühwald, langjähriger Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Leiter der Zukunftskommission, ist mit deren Erkenntnissen offenbar recht zufrieden: Die Kommission habe zu ihrer „eigenen Überraschung eine solche Fülle von Bindungskräften, von Idealismus, Gemeinsinn und sozialem Engagement” gefunden, dass der vielfach befürchtete Zerfall der Gesellschaft offenbar nicht zu erwarten sei. Die Bereitschaft, sich zu engagieren, habe „eher zu- als abgenommen”; angesichts der hohen Mobilität der Bürger müsse die Politik jedoch dazu übergehen, verstärkt auch projektorientierte, kurzfristige Formen der Bürgerarbeit zu fördern.
Nun könnte man erwarten, dass derlei Erkenntnisgewinn sich auch in den Beiträgen der Politiker aus dem Südwesten widerspiegelt. Doch wird der Leser des ansonsten recht interessanten Bandes in dieser Hinsicht enttäuscht: Die Skala der Aufsätze der Volksvertreter reicht vom Eigenlob über Leerformeln bis hin zum kulturpessimistischen Klagelied. So freut sich die Tübinger SPD-Oberbürgermeisterin Brigitte Russ-Scherer darüber, wie toll es mit der Bürgerbeteiligung in Tübingen klappt. Nach der Lektüre der Ausführungen von Erwin Teufel und Sozialminister Friedhelm Repnik ist man hingegen so klug wie zuvor.
Zu viele Freiheiten
Nicht sehr originell sind auch die Ansichten des jugendpolitischen Sprechers der CDU-Fraktion, Georg Wacker, der das Versagen der Familien bei der Wertevermittlung an die Jugend beklagt und meint, diese hätte heute zu viele Freiheiten und „zu wenige verbindliche Orientierungsmuster”. Und Winfried Kretschmann von den Grünen lamentiert: „Das Leben besteht nun einmal zu 80 Prozent aus Trivialitäten. Und wenn schon eine konservative Kultusministerin meint, Schule müsse ,Spaß machen‘, dann stimmt irgend etwas nicht mehr. ”
Zur Ehrenrettung der politischen Klasse taugt einzig der Aufsatz der Bildungsministerin und stellvertretenden Vorsitzenden der Bundes-CDU, Annette Schavan, über die „Ambivalenzen der Moderne”. Dem Hohelied ihrer Kollegen auf Solidarität und Selbstverantwortung stellt sie entgegen, dass zwischen diesen beiden Tugenden ein Spannungsverhältnis bestehe und dass sie außerdem, jeweils für sich genommen, noch keinen positiven Wert darstellten: Schließlich handele auch ein ausgemachter Egoist selbstverantwortlich, und die Mitglieder einer Räuberbande verhielten sich untereinander solidarisch. Auch in die „wohlfeile Klage über einen angeblichen Werteverlust der Jugend” möchte Schavan nicht einstimmen. Die Gesellschaft fordere zwar „das Einhalten von Werten in Sonntagsreden”, im Alltag herrschten jedoch Flexibilität, Mobilität und Gewinnstreben: Wieder ein Spannungsverhältnis, diesmal „zwischen dem gesellschaftspolitisch erwünschten und dem ökonomisch Machbaren”, vulgo Fressen und Moral. Auf den „Weg in ihre Zukunft” gibt Schavan der Gesellschaft daher keine einfache Antwort mit, sondern eine schwierige Frage: „Was ist es uns wert, in einem intakten Gemeinwesen zu leben?”
Für manchen ist das vielleicht bitter: Konflikte müssen, bevor man sie beilegen kann, bisweilen erst einmal ausgetragen werden. Angesichts der Ausführungen ihrer Kollegen bietet Schavans Beitrag aber wenigstens einen Trost: Die Zukunft der Gesellschaft, und das liegt ja auch irgendwie in der Natur der Sache, bleibt offen.
SEBASTIAN BERGER
ERWIN TEUFEL (Hrsg. ): Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001. 304 Seiten, 12 Mark.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.03.2001Die Zukunft wohnt im Bauwagen
Daß Wahlkampf in Baden-Württemberg ist, wäre ohne den Angriff des amtierenden Ministerpräsidenten Erwin Teufel auf die Berliner Doppelspitze wohl unbemerkt geblieben. So aber sorgte seine Zurechtweisung für Aufregung und erneuerte das Nachdenken darüber, ob auch eine Parteiführung gewaltenteilend organisiert sein sollte: Nicht umsonst, so wußte man, hatte sich Hänschen Rosenthal bei seinen Luftsprüngen des Ausrufs "Das ist Doppelspitze" wohlweislich enthalten. Erwin Teufel selbst ist ein Doppelbeschluß nicht grundsätzlich fremd, wie sein Zangenangriff auf die Zukunft zeigt. Im Herbst 1999 veröffentlichte eine von ihm zwei Jahre zuvor eingesetzte "Zukunftskommission Gesellschaft 2000" ihren Bericht, der unter dem Titel "Solidarität und Selbstverantwortung - Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft" durchaus erbaulich ausfiel. Die etwa dreißigköpfige Kommission kämpfte dabei mit dem Problem, sich wie eine Kinderhorde auf einen einheitlichen Wunschzettel einigen zu müssen. So wurden sorgfältig Begriffe gesammelt und aus den Zutaten ein glatter Teig geknetet, der das Herz der Chancengesellschaft hefeartig aufgehen ließ.
Die Zukunftskommission - ein Begriff, der mit seiner Mischung aus Abenteuer und Sitzfleisch nach der ähnlich lautenden "Vergnügungssteuer" klingt - war zur Aufhebung aller Gegensätze entschlossen und erkannte, der Bürger sei am solidarischsten allein. In den Worten Erwin Teufels: "Wer eigenverantwortlich handelt, handelt immer auch solidarisch, weil er die Allgemeinheit entlastet." Der Sinn ist klar: Wer sein Bier alleine trinkt, macht sich ums Allgemeinwohl verdient, denn er vereitelt fremden Leberschaden. Sogar Henry Kissinger wurde die Streitschlichtungsschrift ins ferne Amerika gesandt, wofür er sich mit der sibyllinischen Antwort bedankte, in seinem Leben habe er mindestens an "ein oder zwei Kommissionen" teilgenommen und wisse um die "erregende Befriedigung", wenn am Ende ein Harmoniepapier dabei herauskomme. Nach diesem ersten Schlag der Kommission mitten ins Nervengeflecht einer respektvoll erschütterten Gesellschaft folgt nun - gewissermaßen als Doppelhaken - ein zweiter. Die Kommission lud Kommentatoren ihres Papiers zu einem Kongreß nach Mannheim, dessen Referate jetzt nachzulesen sind ("Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft". Hrsg. von Erwin Teufel. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001. 304 S., br., 23,90 DM).
Versammelt wurde, was Rang oder Namen und immer eine schon vielfach publizierte Meinung hat: Norbert Bolz etwa, ohne den die Zukunft keine wäre. Sein Rezept für "postmoderne Lebensführung" lautet, ganz den Maschinen und Institutionen zu vertrauen, weil beide ohne Selbstreflexion auskämen - ein Schelm, wer Gleiches über ihn denkt. Der ganze Band ist eine gepflegte Parforcejagd durch Allgemeinplätze. Robert Leicht plädiert dafür, niemals das Individuum aus den Augen zu verlieren; Aleida Assmann sorgt sich um das kulturelle Gedächtnis und memoriert deshalb wohl nicht zum letzten Mal ihre eigenen Arbeiten; Norbert Walter beweist, daß "Globalisierung" und "Geborgenheit" nicht nur im Alphabet gut zusammenpassen. So geht es mit Hüh und Hott durchs Parolengelände, bis die Zukunft erlegt ist.
Auch dem Landesherrn gelingen schöne Sätze, ohne die man nicht wüßte, warum man sich schon jetzt "auf die Zukunft freuen" sollte: "Wir suchen einen Platz für uns hier in unserer Stadt und nicht anderswo, notfalls in einem selbsthergerichteten Bauwagen - dann sind das deutliche Anzeichen dafür, daß die Menschen zuerst in ihrer unmittelbaren Nähe nach Miteinander suchen." In einem Bauwagen und nicht anderswo erleben wir also das glücklichste Miteinander, was Subventionen für Endemol wahrscheinlich macht. Auch "Pioniere einer solidarischen Gesellschaft" malt Teufel an die Wand, verpflanzte Begriffsreste einer untergegangenen Ostkultur.
Das alles wäre unerheblich und als politische Rede keine weitere wert - wenn man den ganzen überflüssigen Unsinn nicht in der schönen "edition suhrkamp" nachlesen müßte. Inmitten all der hellen Köpfe, die - zwischen Barthes und Habermas - der Reihe ihre Regenbogenfarbe verliehen haben, wirkt dieser doch etwas arg flach. Gerne hätte man gehört, das Landesamt für politische Bildung hätte sich der Aufsätze publizistisch angenommen und ihnen in einer der hauseigenen legendären Schriftenreihe ein nestwarmes und solidarisches Zuhause gegeben. In der anderen Nachbarschaft aber machen sie einen unfroh, und man erinnert sich wehmütig an die apokryphe Einsicht eines antiken Weisen: Das Denken verträgt keine Mischkalkulation.
THOMAS WIRTZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Daß Wahlkampf in Baden-Württemberg ist, wäre ohne den Angriff des amtierenden Ministerpräsidenten Erwin Teufel auf die Berliner Doppelspitze wohl unbemerkt geblieben. So aber sorgte seine Zurechtweisung für Aufregung und erneuerte das Nachdenken darüber, ob auch eine Parteiführung gewaltenteilend organisiert sein sollte: Nicht umsonst, so wußte man, hatte sich Hänschen Rosenthal bei seinen Luftsprüngen des Ausrufs "Das ist Doppelspitze" wohlweislich enthalten. Erwin Teufel selbst ist ein Doppelbeschluß nicht grundsätzlich fremd, wie sein Zangenangriff auf die Zukunft zeigt. Im Herbst 1999 veröffentlichte eine von ihm zwei Jahre zuvor eingesetzte "Zukunftskommission Gesellschaft 2000" ihren Bericht, der unter dem Titel "Solidarität und Selbstverantwortung - Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft" durchaus erbaulich ausfiel. Die etwa dreißigköpfige Kommission kämpfte dabei mit dem Problem, sich wie eine Kinderhorde auf einen einheitlichen Wunschzettel einigen zu müssen. So wurden sorgfältig Begriffe gesammelt und aus den Zutaten ein glatter Teig geknetet, der das Herz der Chancengesellschaft hefeartig aufgehen ließ.
Die Zukunftskommission - ein Begriff, der mit seiner Mischung aus Abenteuer und Sitzfleisch nach der ähnlich lautenden "Vergnügungssteuer" klingt - war zur Aufhebung aller Gegensätze entschlossen und erkannte, der Bürger sei am solidarischsten allein. In den Worten Erwin Teufels: "Wer eigenverantwortlich handelt, handelt immer auch solidarisch, weil er die Allgemeinheit entlastet." Der Sinn ist klar: Wer sein Bier alleine trinkt, macht sich ums Allgemeinwohl verdient, denn er vereitelt fremden Leberschaden. Sogar Henry Kissinger wurde die Streitschlichtungsschrift ins ferne Amerika gesandt, wofür er sich mit der sibyllinischen Antwort bedankte, in seinem Leben habe er mindestens an "ein oder zwei Kommissionen" teilgenommen und wisse um die "erregende Befriedigung", wenn am Ende ein Harmoniepapier dabei herauskomme. Nach diesem ersten Schlag der Kommission mitten ins Nervengeflecht einer respektvoll erschütterten Gesellschaft folgt nun - gewissermaßen als Doppelhaken - ein zweiter. Die Kommission lud Kommentatoren ihres Papiers zu einem Kongreß nach Mannheim, dessen Referate jetzt nachzulesen sind ("Von der Risikogesellschaft zur Chancengesellschaft". Hrsg. von Erwin Teufel. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001. 304 S., br., 23,90 DM).
Versammelt wurde, was Rang oder Namen und immer eine schon vielfach publizierte Meinung hat: Norbert Bolz etwa, ohne den die Zukunft keine wäre. Sein Rezept für "postmoderne Lebensführung" lautet, ganz den Maschinen und Institutionen zu vertrauen, weil beide ohne Selbstreflexion auskämen - ein Schelm, wer Gleiches über ihn denkt. Der ganze Band ist eine gepflegte Parforcejagd durch Allgemeinplätze. Robert Leicht plädiert dafür, niemals das Individuum aus den Augen zu verlieren; Aleida Assmann sorgt sich um das kulturelle Gedächtnis und memoriert deshalb wohl nicht zum letzten Mal ihre eigenen Arbeiten; Norbert Walter beweist, daß "Globalisierung" und "Geborgenheit" nicht nur im Alphabet gut zusammenpassen. So geht es mit Hüh und Hott durchs Parolengelände, bis die Zukunft erlegt ist.
Auch dem Landesherrn gelingen schöne Sätze, ohne die man nicht wüßte, warum man sich schon jetzt "auf die Zukunft freuen" sollte: "Wir suchen einen Platz für uns hier in unserer Stadt und nicht anderswo, notfalls in einem selbsthergerichteten Bauwagen - dann sind das deutliche Anzeichen dafür, daß die Menschen zuerst in ihrer unmittelbaren Nähe nach Miteinander suchen." In einem Bauwagen und nicht anderswo erleben wir also das glücklichste Miteinander, was Subventionen für Endemol wahrscheinlich macht. Auch "Pioniere einer solidarischen Gesellschaft" malt Teufel an die Wand, verpflanzte Begriffsreste einer untergegangenen Ostkultur.
Das alles wäre unerheblich und als politische Rede keine weitere wert - wenn man den ganzen überflüssigen Unsinn nicht in der schönen "edition suhrkamp" nachlesen müßte. Inmitten all der hellen Köpfe, die - zwischen Barthes und Habermas - der Reihe ihre Regenbogenfarbe verliehen haben, wirkt dieser doch etwas arg flach. Gerne hätte man gehört, das Landesamt für politische Bildung hätte sich der Aufsätze publizistisch angenommen und ihnen in einer der hauseigenen legendären Schriftenreihe ein nestwarmes und solidarisches Zuhause gegeben. In der anderen Nachbarschaft aber machen sie einen unfroh, und man erinnert sich wehmütig an die apokryphe Einsicht eines antiken Weisen: Das Denken verträgt keine Mischkalkulation.
THOMAS WIRTZ
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Die Qualität der Beiträge in diesem Band, der anlässlich eines Kongresses der "Zukunftskommission Gesellschaft 2000" erschienen ist und vom baden-württembergischen Ministerpräsident Erwin Teufel herausgegeben wurde, schwankt nach Meinung des Rezensenten Sebastian Berger ziemlich stark. In dem Band kommen Theoretiker und Politiker zu Wort. Unzufrieden ist der Rezensent vor allem mit den Beiträgen der Politiker, die ihm nicht den geringsten "Erkenntnisgewinn" verschafft haben. Und das, obwohl es gerade die Politiker sind, die die "negativen Folgen dieses gesellschaftlichen Umbruches, soweit möglich, abfedern" sollen. Einzig Annette Schavan von der CDU schafft es seiner Meinung nach, das Thema differenziert zu bearbeiten und Ambivalenzen in der Bewertung der gesellschaftlichen Umbrüche zu benennen. Deshalb nimmt die Auseinandersetzung mit ihrem Essay auch gut ein Drittel der Rezension ein. Zu den theoretischen Beiträgen äußert sich Berger nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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