Serge Daney (1944-1992) wuchs mit der Pa riser Filmkultur der 50er Jahre auf, der Wiege der französischen Cinephilie. Der ciné--fils ("Ki nosohn"), wie Godard den jüngeren Daney und dieser sich selbst gerne nannte, setzte spä ter die von den Autoren der Nouvelle Vague ge präg te Tradition der Kritik in verschiedensten Medien fort, nicht ohne neue Maßstäbe für das Denken der Bilder zu setzen: als Chefredakteur der Cahiers du cinéma in den 70er Jahren, als Filmkritiker und Kolumnist der Tages zeitung Libération in den 80er Jahren, schließ lich Anfang der 90er Jahre durch die Gründung der wegweisenden Filmzeitschrift Trafic. Heute gilt Daney als einer der bedeutendsten Kritiker seiner Generation. In seinen Essays und Kritiken verbindet sich eine profunde Kenntnis der Filmkultur mit pointiertem Stil, Intelligenz und Weitblick. Das vorliegende Buch versammelt Texte, die aus unterschiedlichen Perspektiven die Frage nach der Darstellung des Realen im Film und in den Medien aufgreifen. Daneys anspruchs volle Filmkritik verbindet sich hier mit einer weit gespannten Medienkritik und einem luziden Verständnis für Populärkultur. Ob es um den Autorenfilm zwischen Dokumentarismus und Fiktion, um die (Re-)Präsentation des menschlichen Körpers in der Werbung oder um das Kino als Sonderfall des Bildes geht - Daney hat gleichermaßen die ästhetische, so ziale und politische Dimension des Bildes im Blick. In seiner kritischen Analyse des Visuellen in Fernsehen, Werbung und neuen Medien liefert er erstaunliche Denkanstöße zur audio visuellen Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts. "Kein Filmbuch der letzten Jahrzehnte war der art überraschend, auf- & anregend, reich an An- & Einsichten, elektrisierenden Thesen, verblüffenden Erkenntnissen über das Kino, den Film, das Fernsehen, die Werbung - wie das eben im Verlag Vorwerk 8 erschienene Buch Serge Daneys. [...] Der kleine Verlag, eine erste Adresse für mediale Crossover-Theorie, hat es wie viele seiner Bücher sorgfältig betreut und in schöner englischer Broschur vorgelegt [...]." - Wolfram Schütte zur Erstauflage des Buchs 2004 in Titelmagazin
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Fritz Göttler wagt die Prognose, dass sich diese Schriften als "ähnlich wichtig, bedeutsam, einzigartig" erweisen werden wie Godards Buch "Godard/Kritiker". Die Bedeutung Daneys für das Kino vergleicht der Rezensent sogar mit der Deleuzes für die Philosophie, allerdings räumt er ein, dass in Deutschland noch Nachholbedarf besteht, was Daney betrifft. Göttler erläutert, dass es sich hier nicht um chronologische Texte handelt, sondern um Beiträge aus Zeitschriften und Gespräche mit Daney, wobei der Rezensent einen Wechsel von "theoretischer Abstraktion zur Erinnerung" diagnostiziert. Ähnlichkeiten zwischen Daney und Godard macht Göttler vor allem in der Souveränität aus, mit der beide "Kino und Wirklichkeit, Reflexion und Gesellschaft zusammenbringen". Doch fehle Daney, wie Göttler mit Erleichterung anmerkt, der "traurige Zynismus" Godards. Insgesamt zeigt sich der Rezensent begeistert von diesem Buch, zumal es ansonsten viele Bücher zum Thema Film gebe, die sich auf reine Auflistungen beschränken, "aber wenig Kraft" entfalten. Daneys Schriften jedoch überzeugen Göttler durch seine Klarheit, seine direkte Ansprache und nicht zuletzt durch Spannung, etwa dort, wo der Autor die umstrittene Benetton-Werbung analysiert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001Visuell die Leinwand strahlt, als würde sie dafür bezahlt
Das Auge muß wach sein, damit es träumen kann: Aufsätze des Cineasten Serge Daney / Von Andreas Kilb
Daß einer über das Kino nicht bloß in seiner Klause, sondern öffentlich und publikumswirksam philosophiert, ist heute in Deutschland undenkbar. Seit der deutsche Film als Waisenzwillingspaar aus den Trümmern der Ufa wiedererstand, hat sich die ihm anhängende Filmkritik, von ein paar Ausreißern in der Zeitschrift "Filmkritik" abgesehen, ans Vorgegebene gehalten, sprich: die Grundversorgung des Lesers mit Geschmack. Neidisch blickt man nach Amerika, wo die Filme, neidischer noch nach Frankreich, wo die Theorien gemacht werden. Die "Filmkritik" ist tot, die deutsche Filmkritik lebt, doch wen kümmert das? Steven Spielberg oder Lars von Trier können ruhig weiterschlafen, wenn ihre Filme in deutschen Zeitungsspalten verrissen werden. Für einen Rudolf Thome, Heinz Emigholz oder Michael Klier dagegen, die Schützlinge unserer Phantasie, wäre ein Verriß tödlich; sie müßten am Ende Filmprofessoren werden, wie die halbe Mannschaft des Autorenkinos vor ihnen. Im universitären Rettungsboot könnten sie dann mit ihresgleichen fünfundzwanzigmal hintereinander Godards "Kinogeschichte(n)" auf Video anschauen und in Fachpublikationen für dreihundert Eingeweihte aufzeichnen, was von den Bildern blieb.
Hier spricht nun ein Franzose, Serge Daney. Daney, der vor neun Jahren an Aids starb, war von 1974 bis 1981 Chefredakteur der "Cahiers du Cinéma", der weltweit wichtigsten Filmzeitschrift. Dann ging er, zunächst als Filmkritiker, zur Tageszeitung "Libération". Ab 1987 widmete er sich dort fast ausschließlich den Themen Fernsehen und Werbung; zeitweise schrieb er sogar eine tägliche Fernsehkolumne. In seinem letzten Lebensjahr, nach dem Abschied von "Libération", gründete er die Filmzeitschrift "Trafic", um, wie er in einem Interview erklärt, "mein Liebesobjekt von neuem, aber gewissermaßen postum" zu entdecken. Man kann diese Karriere wie eine Fieberkurve lesen: vom Essay über den Zeitungsartikel zurück zum Essay, vom Kino über das Fernsehen zum Kino.
Am höchsten Punkt der Kurve stehen jene Texte Daneys, in denen er die Kollision zwischen Film und Fernsehen beschreibt. Sie sind fast alle Ende der achtziger Jahre entstanden, zu einer Zeit, in der es für eine Weile tatsächlich so aussah, als könnte der Bildschirm das Kino als visuelles Leitmedium unserer Kultur beerben. In Daneys Todesjahr 1992 hatte sich diese Drohung schon wieder in Rauch aufgelöst, ohne daß die Kinematographie dadurch aus der Asche ihrer Beliebigkeit auferstanden wäre. "Auf der einen Seite", sagt Daney in dem bereits zitierten Interview, "geht das Fernsehen seiner eigenen Bestimmung entgegen (die nicht die Ablösung des Films ist), auf der andern bezieht der Film nicht genügend Energie daraus, um weiterhin Formen zu schaffen".
Die Formgebärde des Kinos zu entziffern war der Antrieb für Daneys Schreiben. Als Initiierter kam er aus den Lichtspieltheatern der fünfziger Jahre, "unheilbar gerettet" und für die kulturbürgerliche Rede über Film verloren. Daß man mit dem Ernst der abendländischen Denktradition an die neue Kunst herangehen kann, ohne ihre Verspieltheit opfern zu müssen, haben auch die deutschsprachigen Filmtheoretiker von Arnheim bis Kracauer gewußt; nur in Frankreich ist es wirklich gelungen. So spürt man in den Texten dieses Bandes, wieviel Daney gelesen hat, aber dieser Bildungsschatz hängt nicht als Zitat um den Hals des Gedankens. Daney, ganz gleich, ob er einen Film von Wenders oder eine Werbekampagne von Benetton bespricht, betreibt immer auch Medientheorie, aber er theoretisiert nicht. Er ordnet die Bilder so, daß sie von selbst sagen, was er meint.
Zum Beispiel in einer Hommage an John Ford: Was, fragt sich Daney, macht etwa den "Teufelshauptmann" so resistent gegen die Verkleinerungen des Fernsehens? Es sind nicht die mythischen Themen, die Farben, die Pferde, sondern es ist eine bestimmte Art, den Blick des Zuschauers zu reizen. "Das Auge muß wach sein, weil es bei jedem Bild in einem Film von Ford vorkommen kann, daß einige Zehntelsekunden lang reine Beschaulichkeit herrscht, bevor die Aktion einsetzt. Man verläßt eine Hütte oder eine Einstellung und sieht folgendes: über einem Friedhof rote Wolken, in einem Eck in der rechten Bildhälfte ein verlassenes Pferd; das blaue Wimmeln der Kavallerie, die erschütterten Gesichter zweier Frauen." Das kann man nicht besser sehen oder sagen.
Das klassische Kinobild "ist immer mehr oder weniger als es selbst", es geht über seine Funktion als Träger der Erzählung hinaus, es hat einen ästhetischen Überschuß. Was dagegen in den Szenarien des Fernsehens heraufdämmert, ist kein bloßer Ableger des Kinos, sondern ein ganz neuer Darstellungstypus. Daney nennt ihn das Visuelle. Es ist "die optische Überprüfung eines rein technischen Ablaufs", die Kontrollaufnahme eines Tricks, kein Abbild mehr, sondern ein Produkt. Weil es nur auf sich selbst verweist, ist es restlos fungibel, wie die Fotografie des Neugeborenen in der Benetton-Reklame: "Das Bild des Kindes muß sofort mit der Arbeit beginnen." Seine Nacktheit mahnt die Eltern, sich beizeiten mit Benetton-Kleidern einzudecken. So entsteht eine Welt, "die ihr Negativ genausowenig kennt wie das Unbewußte", ein Ensemble von Figuren, "deren Prinzip die Starrheit ist, die Starrheit dessen, der nur eine einzige Bewegung ausführen kann . . . im Rätsel seiner eigenen Programmierung, in einer mystischen Gleichstellung mit den Delphinen" wie der Held in Bessons Taucher-Epos "The Big Blue".
In dieser Welt leben wir heute. Es ist die Welt der ins Kino zurückgeholten Fernsehfiguren, des digitalen Kinderspielzeugs, der "Star Wars"-Puppen, der konfektionierten Jugendbilder ("American Pie") und der konfektionierten Gesellschaftskritik ("American Beauty"). Zugleich ist das Fernsehen auf seinem Weg zu sich selbst ein gutes Stück weitergekommen, und man wüßte gern, was Daney zu "Big Brother" gesagt hätte. Vielleicht hätte er die Containershows als Beleg für seine Hypothese vom "fehlenden Bild" gelesen. Im Golfkrieg war dieses fehlende Bild das bombardierte Bagdad; in "Girlscamp" ist es die Kopulation zwischen Kandidat und Kandidatin. "Das Fehlen dieses Bildes hat jeden gezwungen, sich etwas ,vorzustellen'. . . Dieses mentale Bild wurde nach und nach ,wahrer' als die anderen." Das gilt noch immer.
Christa Blümlinger, die Herausgeberin, hat Daneys Texte nach Themenkreisen geordnet. Das wirkt nur auf den ersten Blick überzeugend. Daney hat nicht nur für den Tag geschrieben, aber er hat sich seiner Gegenwart hingegeben wie nur je ein Cinephiler. Deshalb spielt es eine Rolle, daß der große Aufsatz über die achtziger Jahre ("Zehn Kinojahre, sechs Fluchtlinien") und die Glosse über Fellinis "Ginger und Fred" ("Realist Fellini"), zwischen denen in diesem Band zweihundert Seiten liegen, etwa zur gleichen Zeit entstanden. Oder die vielen Ausfälle gegen Besson und Annaud, die Kino-Agenten des "Visuellen" - im Buch wirken sie wie Nadelstiche, dabei sind sie Teil einer Kampagne, die Daney mit Erbitterung geführt hat. Im übrigen darf man von einer Publikation wie dieser erwarten, daß die Namen von Allan Dwan, Jerzy Skolimowski, Leo McCarey und François Truffaut (!) sowie der Titel von Godards Film "Allemagne Neuf Zéro" korrekt geschrieben werden.
Serge Daney war in Frankreich eine Macht. Godard, Deleuze und Marguerite Duras liebten ihn, Raoul Ruiz und Nanni Moretti verdankten ihm ihren Ruhm, und als Daney Claude Berris Kollaborationsdrama "Uranus" verriß, schrieb der Regisseur in "Libération" eine Entgegnung. Dennoch ist es nicht das Wissen um ihre Wirkung, dem Daneys Prosa ihre schönsten Momente verdankt, sondern das melancholische Bewußtsein ihrer Ohnmacht. Die Miniaturen über Pialat, Rossellini, Fellini und Ford und der Rückblick auf die Nouvelle Vague gehören zu den Höhepunkten dieses Bandes und der französischen Filmkritik überhaupt. "Die Liebe zum Kino will nur das Kino; die Leidenschaft ist dagegen exzessiv: Sie will das Kino, und sie will, daß dieses etwas anderes wird, sie will sogar den Horizont, an dem das Kino sich im Zuge der Verwandlungen abschaffen wird." So beschreibt Daney "Godards Paradox", und diesen Weg ist auch er gegangen, vom Lichtspieltheater in die Wüsten des Visuellen. Und doch leuchtet seine Sprache am hellsten, wenn er seiner alten Liebe gedenkt, und sei es nur postum.
Serge Daney, cinéaste. In Deutschland, dem Land der Schubladen, wäre er Professor oder Kritiker geworden, Essayist oder Rezensent. In Frankreich war er beides. Damit wir begreifen, daß es das geben kann: eine Filmtheorie, die sich der Lust am Schreiben, und eine Filmkritik, die sich der Leidenschaft des Denkens nicht verschließt - dafür brauchen wir ihn.
Serge Daney: "Von der Welt ins Bild". Augenzeugenberichte eines Cinephilen. Hrsg. von Christa Blümlinger. Aus dem Französischen von Christa Blümlinger, Dieter Hornig und Silvia Ronelt. Verlag Vorwerk 8, Berlin 2000. 287 S., Abb., br., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Auge muß wach sein, damit es träumen kann: Aufsätze des Cineasten Serge Daney / Von Andreas Kilb
Daß einer über das Kino nicht bloß in seiner Klause, sondern öffentlich und publikumswirksam philosophiert, ist heute in Deutschland undenkbar. Seit der deutsche Film als Waisenzwillingspaar aus den Trümmern der Ufa wiedererstand, hat sich die ihm anhängende Filmkritik, von ein paar Ausreißern in der Zeitschrift "Filmkritik" abgesehen, ans Vorgegebene gehalten, sprich: die Grundversorgung des Lesers mit Geschmack. Neidisch blickt man nach Amerika, wo die Filme, neidischer noch nach Frankreich, wo die Theorien gemacht werden. Die "Filmkritik" ist tot, die deutsche Filmkritik lebt, doch wen kümmert das? Steven Spielberg oder Lars von Trier können ruhig weiterschlafen, wenn ihre Filme in deutschen Zeitungsspalten verrissen werden. Für einen Rudolf Thome, Heinz Emigholz oder Michael Klier dagegen, die Schützlinge unserer Phantasie, wäre ein Verriß tödlich; sie müßten am Ende Filmprofessoren werden, wie die halbe Mannschaft des Autorenkinos vor ihnen. Im universitären Rettungsboot könnten sie dann mit ihresgleichen fünfundzwanzigmal hintereinander Godards "Kinogeschichte(n)" auf Video anschauen und in Fachpublikationen für dreihundert Eingeweihte aufzeichnen, was von den Bildern blieb.
Hier spricht nun ein Franzose, Serge Daney. Daney, der vor neun Jahren an Aids starb, war von 1974 bis 1981 Chefredakteur der "Cahiers du Cinéma", der weltweit wichtigsten Filmzeitschrift. Dann ging er, zunächst als Filmkritiker, zur Tageszeitung "Libération". Ab 1987 widmete er sich dort fast ausschließlich den Themen Fernsehen und Werbung; zeitweise schrieb er sogar eine tägliche Fernsehkolumne. In seinem letzten Lebensjahr, nach dem Abschied von "Libération", gründete er die Filmzeitschrift "Trafic", um, wie er in einem Interview erklärt, "mein Liebesobjekt von neuem, aber gewissermaßen postum" zu entdecken. Man kann diese Karriere wie eine Fieberkurve lesen: vom Essay über den Zeitungsartikel zurück zum Essay, vom Kino über das Fernsehen zum Kino.
Am höchsten Punkt der Kurve stehen jene Texte Daneys, in denen er die Kollision zwischen Film und Fernsehen beschreibt. Sie sind fast alle Ende der achtziger Jahre entstanden, zu einer Zeit, in der es für eine Weile tatsächlich so aussah, als könnte der Bildschirm das Kino als visuelles Leitmedium unserer Kultur beerben. In Daneys Todesjahr 1992 hatte sich diese Drohung schon wieder in Rauch aufgelöst, ohne daß die Kinematographie dadurch aus der Asche ihrer Beliebigkeit auferstanden wäre. "Auf der einen Seite", sagt Daney in dem bereits zitierten Interview, "geht das Fernsehen seiner eigenen Bestimmung entgegen (die nicht die Ablösung des Films ist), auf der andern bezieht der Film nicht genügend Energie daraus, um weiterhin Formen zu schaffen".
Die Formgebärde des Kinos zu entziffern war der Antrieb für Daneys Schreiben. Als Initiierter kam er aus den Lichtspieltheatern der fünfziger Jahre, "unheilbar gerettet" und für die kulturbürgerliche Rede über Film verloren. Daß man mit dem Ernst der abendländischen Denktradition an die neue Kunst herangehen kann, ohne ihre Verspieltheit opfern zu müssen, haben auch die deutschsprachigen Filmtheoretiker von Arnheim bis Kracauer gewußt; nur in Frankreich ist es wirklich gelungen. So spürt man in den Texten dieses Bandes, wieviel Daney gelesen hat, aber dieser Bildungsschatz hängt nicht als Zitat um den Hals des Gedankens. Daney, ganz gleich, ob er einen Film von Wenders oder eine Werbekampagne von Benetton bespricht, betreibt immer auch Medientheorie, aber er theoretisiert nicht. Er ordnet die Bilder so, daß sie von selbst sagen, was er meint.
Zum Beispiel in einer Hommage an John Ford: Was, fragt sich Daney, macht etwa den "Teufelshauptmann" so resistent gegen die Verkleinerungen des Fernsehens? Es sind nicht die mythischen Themen, die Farben, die Pferde, sondern es ist eine bestimmte Art, den Blick des Zuschauers zu reizen. "Das Auge muß wach sein, weil es bei jedem Bild in einem Film von Ford vorkommen kann, daß einige Zehntelsekunden lang reine Beschaulichkeit herrscht, bevor die Aktion einsetzt. Man verläßt eine Hütte oder eine Einstellung und sieht folgendes: über einem Friedhof rote Wolken, in einem Eck in der rechten Bildhälfte ein verlassenes Pferd; das blaue Wimmeln der Kavallerie, die erschütterten Gesichter zweier Frauen." Das kann man nicht besser sehen oder sagen.
Das klassische Kinobild "ist immer mehr oder weniger als es selbst", es geht über seine Funktion als Träger der Erzählung hinaus, es hat einen ästhetischen Überschuß. Was dagegen in den Szenarien des Fernsehens heraufdämmert, ist kein bloßer Ableger des Kinos, sondern ein ganz neuer Darstellungstypus. Daney nennt ihn das Visuelle. Es ist "die optische Überprüfung eines rein technischen Ablaufs", die Kontrollaufnahme eines Tricks, kein Abbild mehr, sondern ein Produkt. Weil es nur auf sich selbst verweist, ist es restlos fungibel, wie die Fotografie des Neugeborenen in der Benetton-Reklame: "Das Bild des Kindes muß sofort mit der Arbeit beginnen." Seine Nacktheit mahnt die Eltern, sich beizeiten mit Benetton-Kleidern einzudecken. So entsteht eine Welt, "die ihr Negativ genausowenig kennt wie das Unbewußte", ein Ensemble von Figuren, "deren Prinzip die Starrheit ist, die Starrheit dessen, der nur eine einzige Bewegung ausführen kann . . . im Rätsel seiner eigenen Programmierung, in einer mystischen Gleichstellung mit den Delphinen" wie der Held in Bessons Taucher-Epos "The Big Blue".
In dieser Welt leben wir heute. Es ist die Welt der ins Kino zurückgeholten Fernsehfiguren, des digitalen Kinderspielzeugs, der "Star Wars"-Puppen, der konfektionierten Jugendbilder ("American Pie") und der konfektionierten Gesellschaftskritik ("American Beauty"). Zugleich ist das Fernsehen auf seinem Weg zu sich selbst ein gutes Stück weitergekommen, und man wüßte gern, was Daney zu "Big Brother" gesagt hätte. Vielleicht hätte er die Containershows als Beleg für seine Hypothese vom "fehlenden Bild" gelesen. Im Golfkrieg war dieses fehlende Bild das bombardierte Bagdad; in "Girlscamp" ist es die Kopulation zwischen Kandidat und Kandidatin. "Das Fehlen dieses Bildes hat jeden gezwungen, sich etwas ,vorzustellen'. . . Dieses mentale Bild wurde nach und nach ,wahrer' als die anderen." Das gilt noch immer.
Christa Blümlinger, die Herausgeberin, hat Daneys Texte nach Themenkreisen geordnet. Das wirkt nur auf den ersten Blick überzeugend. Daney hat nicht nur für den Tag geschrieben, aber er hat sich seiner Gegenwart hingegeben wie nur je ein Cinephiler. Deshalb spielt es eine Rolle, daß der große Aufsatz über die achtziger Jahre ("Zehn Kinojahre, sechs Fluchtlinien") und die Glosse über Fellinis "Ginger und Fred" ("Realist Fellini"), zwischen denen in diesem Band zweihundert Seiten liegen, etwa zur gleichen Zeit entstanden. Oder die vielen Ausfälle gegen Besson und Annaud, die Kino-Agenten des "Visuellen" - im Buch wirken sie wie Nadelstiche, dabei sind sie Teil einer Kampagne, die Daney mit Erbitterung geführt hat. Im übrigen darf man von einer Publikation wie dieser erwarten, daß die Namen von Allan Dwan, Jerzy Skolimowski, Leo McCarey und François Truffaut (!) sowie der Titel von Godards Film "Allemagne Neuf Zéro" korrekt geschrieben werden.
Serge Daney war in Frankreich eine Macht. Godard, Deleuze und Marguerite Duras liebten ihn, Raoul Ruiz und Nanni Moretti verdankten ihm ihren Ruhm, und als Daney Claude Berris Kollaborationsdrama "Uranus" verriß, schrieb der Regisseur in "Libération" eine Entgegnung. Dennoch ist es nicht das Wissen um ihre Wirkung, dem Daneys Prosa ihre schönsten Momente verdankt, sondern das melancholische Bewußtsein ihrer Ohnmacht. Die Miniaturen über Pialat, Rossellini, Fellini und Ford und der Rückblick auf die Nouvelle Vague gehören zu den Höhepunkten dieses Bandes und der französischen Filmkritik überhaupt. "Die Liebe zum Kino will nur das Kino; die Leidenschaft ist dagegen exzessiv: Sie will das Kino, und sie will, daß dieses etwas anderes wird, sie will sogar den Horizont, an dem das Kino sich im Zuge der Verwandlungen abschaffen wird." So beschreibt Daney "Godards Paradox", und diesen Weg ist auch er gegangen, vom Lichtspieltheater in die Wüsten des Visuellen. Und doch leuchtet seine Sprache am hellsten, wenn er seiner alten Liebe gedenkt, und sei es nur postum.
Serge Daney, cinéaste. In Deutschland, dem Land der Schubladen, wäre er Professor oder Kritiker geworden, Essayist oder Rezensent. In Frankreich war er beides. Damit wir begreifen, daß es das geben kann: eine Filmtheorie, die sich der Lust am Schreiben, und eine Filmkritik, die sich der Leidenschaft des Denkens nicht verschließt - dafür brauchen wir ihn.
Serge Daney: "Von der Welt ins Bild". Augenzeugenberichte eines Cinephilen. Hrsg. von Christa Blümlinger. Aus dem Französischen von Christa Blümlinger, Dieter Hornig und Silvia Ronelt. Verlag Vorwerk 8, Berlin 2000. 287 S., Abb., br., 38,- DM.
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